Alle klagen über den Fachkräftemangel, trotzdem steigen die Löhne kaum: fünf Thesen, warum die Unternehmen billig davonkommen Ist der Fachkräftemangel gar nicht so ausgeprägt, wie immer behauptet wird? Bremst die starke Zuwanderung aus dem Ausland die Lohnentwicklung? Verhindert Lohntransparenz am Ende höhere Saläre? Eine Analyse zur Frage, warum die Löhne in der Schweiz trotz Fachkräftemangel kaum steigen.

Ist der Fachkräftemangel gar nicht so ausgeprägt, wie immer behauptet wird? Bremst die starke Zuwanderung aus dem Ausland die Lohnentwicklung? Verhindert Lohntransparenz am Ende höhere Saläre? Eine Analyse zur Frage, warum die Löhne in der Schweiz trotz Fachkräftemangel kaum steigen.

 

Für Krankenpflegerinnen gibt es kein Home-Office. Das ist bei der Rekrutierung eine Hürde, denn flexible Arbeitsbedingungen sind vielen Fachkräften seit der Pandemie wichtiger geworden. Bild: unsplash

Es ist paradox: Viele Unternehmen suchen händeringend nach Personal und klagen über Fachkräftemangel. Wo die Arbeitskräfte knapp sind, sollten eigentlich die Löhne steigen. Die Realität sieht aber anders aus. Der Ende April veröffentlichte Lohnindex des Bundesamtes für Statistik zeigt für die Schweiz für 2022 über alle Branchen hinweg nominal lediglich eine Steigerung von 0,9 Prozent. Bei einer Jahresinflation von 2,8 Prozent resultierte also trotz rekordtiefer Arbeitslosigkeit real eine Einbusse von 1,9 Prozent.

 

Lesen Sie hier fünf Thesen, warum die Löhne trotz Fachkräftemangel kaum steigen und was Fachleute dazu sagen.

These 1: Unsichere Konjunkturperspektiven schwächen die Position der Arbeitnehmenden in den Lohnverhandlungen

Für diese These spricht: Wegen des Krieges in der Ukraine herrschte im Herbst 2022 viel Unsicherheit. Sorgen um die Energieversorgung und der Inflationsschub trübten die Zukunftsaussichten. Die Teuerung gab den Arbeitnehmenden ein gutes Argument für Lohnforderungen, doch das makroökonomische Umfeld machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. «Die Firmen waren trotz Fachkräftemangel nicht zu grossen Lohnsteigerungen bereit», sagt Daniel Kopp von der Konjunkturforschungsstelle der ETH.

Gegen diese These spricht: Ausschlaggebend für die Löhne 2022, um die es im neuen Lohnindex geht, war der plötzliche Anstieg der Teuerung, den die Verhandlungspartner nach jahrelang stabiler Preisentwicklung nicht auf dem Radar hatten. Zugleich war der Arbeitskräftemangel im Herbst 2021 noch nicht ganz so ausgeprägt wie ein Jahr später.

Seither hat sich die Situation weiterentwickelt. Die Inflation, die im August 2022 mit 3,5 Prozent ihren Höhepunkt erreicht hatte, ist inzwischen wieder auf 2,6 Prozent gesunken. Der Fachkräftemangel dürfte nun zusammen mit der wieder stabileren Wirtschaftsentwicklung bei den diesjährigen Lohnverhandlungen die Position der Arbeitnehmenden stärken.

Für 2023 zeichnen sich gemäss einer ETH-Umfrage im Gastgewerbe die höchsten Lohnsteigerungen ab, überproportionale Steigerungen werden zudem in der Uhrenindustrie erwartet sowie für Wach- und Sicherheitsdienstleistungen und den Gebäudeunterhalt inklusive Reinigung.

These 2: Der Lohn hat seine Wirkung als Lockmittel verloren

Für diese These spricht: Die Lohntransparenz ist in den letzten fünf bis zehn Jahren gestiegen. Damit soll unter anderem Lohndiskriminierung vermieden werden. Vor allem grosse Unternehmen legen Minimal- und Maximalsaläre für bestimmte Funktionen fest. Daraus ergibt sich ein fein austariertes Lohngefüge. «Viele Unternehmen haben einen guten Blick für einen wettbewerbsfähigen Lohn», sagt Jörg Scholten, Managing Director des Vergütungsspezialisten Kienbaum. Aber der Lohn als wichtigstes Lockmittel verliere an Wirkung.

Unternehmen müssen zudem versuchen, interne Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Lockt man einen Newcomer mit einem zünftigen Lohnaufschlag und enthält diesen dem restlichen Team vor, wirkt das demotivierend. «Dies würde zu Abgängen führen, weil die Leute unzufrieden würden», sagt Jan Jacob, CEO von Manpower Schweiz. Unter dem Strich hätte das Unternehmen dann sogar verloren.

«Bisherige Mitarbeitende würden versuchen, nachzuziehen, indem sie selbst nach einer neuen Stelle suchen oder mit Kündigung drohen», sagt Reto Föllmi, Wirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen. Firmen erhöhen daher nur ungern die Saläre Einzelner und verzichten aus diesem Grund zum Teil sogar darauf, freie Stellen zu besetzen, wenn dies das Lohngefüge sprengen würde.

These 3: Die hohe Zuwanderung bremst Lohnsteigerungen

Für diese These spricht: Die Nettozuwanderung befindet sich nach einem kurzen Corona-Knick mit rund 80 000 Personen im Jahr 2022 wieder auf Rekordniveau. Ohne Zuwanderung wären die Löhne stärker gestiegen, sagt Reto Föllmi.

Auch bei der ETH ist man der Ansicht, dass die Zuwanderung zur Linderung des Fachkräftemangels beigetragen hat. Die Zahl der offenen Stellen ist jedoch weiterhin hoch. «Die Zuwanderung reicht nicht aus, um den Bedarf zu decken», so Daniel Kopp. Allerdings ist nicht klar, ob die Zuwanderung den Lohnanstieg wirklich bremst.

Gegen diese These spricht: Auf den ersten Blick erscheint es zwar plausibel, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland die Einheimischen konkurrenzieren, was deren Löhne unter Druck setzt. Eine Studie zur Situation von Grenzgängern in der Schweiz zeigte aber, dass die Löhne in den Grenzregionen nach der Liberalisierung für Grenzgänger sogar stiegen, unter anderem, weil durch zusätzliches Personal auch mehr Führungspositionen geschaffen wurden, die häufig an Inländer vergeben wurden.

These 4: Der Fachkräftemangel ist nicht so ausgeprägt, wie immer gesagt wird

Für diese These spricht: Der Fachkräftemangel betrifft längst nicht alle Berufe. Laut dem Fachkräftemangel-Index des Stellenvermittlers Adecco sind nur 10 von 31 Berufsgruppen von einem «deutlichen» Fachkräftemangel betroffen, in den anderen Bereichen hat zwar die Zahl der freien Stellen zugenommen, allerdings herrscht hier gemäss Adecco kein «deutlicher» Fachkräftemangel.

Gegen diese These spricht: Der Fachkräftemangel-Index zeigt für die Schweiz im internationalen Vergleich einen Rekordwert. Viele Fachkräfte haben sich während der Corona-Pandemie neu orientiert und Jobs gefunden, bei denen sie ihren Lebensunterhalt mit besseren Anstellungsbedingungen verdienen können.

Heftige Klagen über zu wenig Personal kommen vor allem aus dem Gesundheitswesen, der IT und dem Gastgewerbe. In der IT sind Fachkräfte seit langem knapp. Hier sind die Gewinnmargen der Firmen häufig hoch, dementsprechend gibt es etwas zu verteilen. So war der Lohnzuwachs hier mit nominal 2,4 Prozent gemäss dem Lohnindex auch überproportional hoch, ohne jedoch durch die Decke zu gehen. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass das Lohnniveau in der Branche bereits hoch ist.

Anders ist die Situation im Gesundheitswesen. Es gibt viele Präsenzberufe, man kann nur sehr bedingt entscheiden, wo und wann man arbeitet. «Für viele Menschen ist Flexibilität während der Pandemie aber viel wichtiger geworden. Das können die Gesundheitsberufe nur beschränkt bieten, deshalb sind sie im Vergleich mit anderen Branchen weniger attraktiv geworden», sagt Jan Jacob von Manpower Schweiz. Freie Stellen sind deshalb besonders schwer zu besetzen.

Ein hoher Wettbewerbsdruck herrscht auch bei den Restaurants und Hotels. Viele von ihnen haben nur geringe Gewinnmargen. Deutlich höhere Löhne könnten sie sich schlicht nicht leisten, meint Jörg Scholten von Kienbaum.

These 5: Unternehmen setzen auf Automatisierung statt auf Lohnerhöhungen

Für diese These spricht: Automatisierung und Digitalisierung ermöglichen es Unternehmen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Je teurer die Arbeit, desto mehr lohnen sich Investitionen in die Technologie. «In der Industrie geht das besser als bei den Dienstleistungen. Allerdings lassen sich auch hier Abläufe durch Technologie verbessern», sagt Daniel Kopp.

Gegen diese These spricht: Viele Arbeitsschritte sind nicht vollständig automatisierbar. «Im Gesundheitswesen bringt eine Automatisierung nur geringe Effizienzgewinne. Die Pflege macht einen Grossteil der Arbeit aus, sie muss weitgehend von Menschen verrichtet werden», argumentiert Adecco. Zudem seien insbesondere hochspezialisierte Berufe von einem Fachkräftemangel betroffen. Hier seien kaum automatisierte Routinearbeiten zu erledigen, stattdessen stehe das menschliche Denkvermögen im Vordergrund.

Die Automatisierungen machen somit zwar gewisse Arbeiten überflüssig, schaffen jedoch in anderen Bereichen neue Jobs. Sie führen zudem zu Produktivitätssteigerungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen steigern und damit höhere Löhne ermöglichen.

«Florierende Unternehmen stellen mehr Leute ein», sagt Reto Föllmi. Mittelfristig würden so schlechter bezahlte Jobs verschwinden, während mehr gut bezahlte Jobs entstünden. Diesen Strukturwandel spiegelt der Lohnindex nur teilweise wider. Die Lohnentwicklung sei damit etwas stärker, als der Lohnindex vermuten lasse, so Föllmi.

Der Lohn ist nicht alles

Unter dem Strich gilt: Die einfache Rechnung, bei der ein geringes Angebot und eine hohe Nachfrage den Preis hochtreiben, geht im Arbeitsmarkt nicht schematisch auf. Wie stark die Löhne steigen, hängt stark von den Wirtschafts- und Konjunkturperspektiven ab. Zudem verliert der Lohn als Lockmittel an Wirkung.

Jenseits des Geldes gewinnen Aspekte des Berufslebens wie Präsenzpflicht, Home-Office und flexible Arbeitszeiten an Bedeutung. Noch etwas mehr Geld zu bekommen, ist für viele Arbeitnehmende nicht der entscheidende Punkt. Das gelte gerade in der Schweiz, wo das Wohlstandsniveau in breiten Schichten hoch sei und viele nicht auf den letzten Rappen angewiesen seien, sagt Jörg Scholten.

Christin Severin, «Neue Zürcher Zeitung»

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