Die Schweizer Wirtschaft ist bis im Herbst gewachsen – doch nun beginnt eine Phase der Stagnation Das Bruttoinlandprodukt der Schweiz hat im Sommerquartal um 0,2 Prozent zugenommen. Im kommenden Winter dürfte das Land an einer Rezession vorbeischrammen.

Das Bruttoinlandprodukt der Schweiz hat im Sommerquartal um 0,2 Prozent zugenommen. Im kommenden Winter dürfte das Land an einer Rezession vorbeischrammen.

Vor allem der Privatkonsum stützte bisher die Wirtschaftsentwicklung, denn mit dem Ende der Corona-Massnahmen konnten die Menschen wieder reisen und auswärts konsumieren. Bild: unsplash

Die Schweizer Wirtschaft hat sich in diesem Jahr erstaunlich gut entwickelt. Das zeigen nun auch Daten zum dritten Quartal, die das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) am Dienstag veröffentlicht hat. Im Sommerquartal wuchs das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) um 0,2 Prozent. Im ersten und zweiten Quartal hatte die Wirtschaftsleistung um 0,3 bzw. 0,1 Prozent zugenommen.

Privatkonsum stützt Wirtschaft

Diese gute Entwicklung war zum Jahresbeginn nicht abzusehen gewesen. Am 24. Februar trat Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine los. Es ging die Sorge um, dass die Folgen den Wirtschaftsgang in Europa stark belasten werden. Zudem steckten die Schweiz und andere europäische Länder in den Wintermonaten noch mitten in einer starken Corona-Welle. Mittlerweile denkt in Europa kaum jemand mehr an Corona-Beschränkungen, aber zu Jahresbeginn war nicht offenkundig, dass die Massnahmen so schnell und dauerhaft würden gelockert werden können.

Der Wegfall der Corona-Massnahmen ist denn auch ein wichtiger Grund, warum die Schweizer Wirtschaft bis in den Herbst hinein robust gewachsen ist. Vor allem der Privatkonsum stützte die Wirtschaftsentwicklung, denn die Menschen konnten wieder mehr reisen und auswärts konsumieren.

In der Schweiz bremste die gestiegene Inflation die Konsumlust kaum. Das liegt auch daran, dass die Lage am Arbeitsmarkt bis jüngst ausgezeichnet war. Die Arbeitslosenquote liegt auf dem niedrigsten Stand seit zwei Jahrzehnten, Fachkräfte sind gesucht, die Arbeitnehmer wechseln zum Teil in besser bezahlte Tätigkeiten. Weil gleichzeitig die Zuwanderung in die Schweiz hoch ist, wächst die Gesamtlohnsumme spürbar: Es ist insgesamt mehr Geld zum Ausgeben da. Der Privatkonsum stieg mit 0,7 Prozent im dritten Quartal erneut überdurchschnittlich.

Die hohe Zuwanderung, die in diesem Jahr die Wohnbevölkerung um 0,9 Prozent vergrössern dürfte (ohne Ukraine-Flüchtlinge), bedeutet allerdings auch, dass die Wirtschaft derzeit vor allem «in die Breite» wächst. Pro Kopf gerechnet, dürfte das BIP in diesem Jahr deshalb weniger stark zunehmen.

Abschwächung in der Industrie

Am meisten hat in der Schweiz die exportorientierte Industrie in den vergangenen Monaten wirtschaftliche Probleme gespürt. In ihren wichtigsten Absatzmärkten in Europa wird bereits seit dem Frühling damit gerechnet, dass sich der Wirtschaftsgang bald abkühlen werde. So haben sich auch die Aussichten für die Schweizer Industrie sukzessive eingetrübt. Dennoch weisen zeitnahe Indikatoren wie Befragungen von Einkaufsmanagern darauf hin, dass die Industrie in der Schweiz weiterhin leicht wächst – von einer Schrumpfung ist also bis jetzt nichts zu sehen.

Keine Rezession in der Schweiz

Wird nun die Rezession kommen? Diese Frage treibt Konjunkturbeobachter schon seit Monaten um. Für die Schweiz zeigen zum Beispiel wöchentliche Daten zum BIP, dass sich die Wirtschaftsaktivität im Oktober und im November tatsächlich etwas abgekühlt haben dürfte.

Die meisten Konjunkturbeobachter rechnen aber nicht damit, dass die Schweiz in diesem Winter in eine Rezession fallen wird. Der Konsens lautet, dass das BIP im vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023 wohl stagnieren wird. Danach soll es wieder aufwärtsgehen. Ob die Schweizer Wirtschaft technisch gesehen in eine Rezession geraten wird, die als zwei Quartale mit einem BIP-Rückgang definiert wird, dürfte dabei zweitrangig sein. Klar scheint: Bis im Frühling wird sich die Schweizer Wirtschaft wohl mehr oder weniger seitwärts bewegen, bevor hoffentlich der Aufschwung kommt.

Viel hängt von der Energieversorgung ab

Die entscheidende Frage im Winter wird sein, ob eine Energiemangellage eintritt. Falls Erdgas oder Strom rationiert werden müssten, würde dies den Wirtschaftsgang in der Schweiz und in Europa stark belasten. Die meisten Beobachter rechnen für diesen Fall mit einer Rezession auch in der Schweiz. Allerdings haben sich die Aussichten jüngst eher aufgehellt. Weil die Politik Vorbereitungen getroffen hat und sich die Unternehmen angepasst haben, könnte Europa ohne Rationierungen von Erdgas und Strom durch den Winter kommen.

Etwas Optimismus hat sich jüngst sogar in Deutschland breitgemacht. Die vom Münchner Ifo-Institut befragten Unternehmen zeigten sich im November erstmals seit Monaten wieder leicht zuversichtlicher mit Blick auf ihre Geschäfte. Zwar wird für die grösste Volkswirtschaft im Euro-Raum weiterhin mit einer Rezession im Winter gerechnet. «Die Rezession dürfte aber weniger tief ausfallen, als viele erwartet haben», erklärte der Ifo-Chef Clemens Fuest. Das ist auch ein gutes Zeichen für die Schweizer Industrie, die mit der deutschen stark verflochten ist.

Matthias Benz, «Neue Zürcher Zeitung»

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