Viele Chefs sind sich nicht bewusst, dass sie zu optimistisch planen, zu lange an Bewährtem festhalten und anderen «Biases» unterliegen. Bild: pixabay

Von der aggressiven Einkaufstour der ehemaligen Swissair bis zu den finanziellen Abenteuern der Grossbanken – immer wieder sorgen Unternehmen wegen teurer Fehlentscheide für Schlagzeilen. Vor allem bei vermeintlich lukrativen Übernahmen besteht die Gefahr, dass Firmenchefs abheben. So drückte etwa der frühere Daimler-Benz-Chef die Fusion mit Chrysler gegen alle internen Widerstände durch, was in einer milliardenschweren Trennung endete.

Studien zeigen, dass rund die Hälfte der Fusionen und Übernahmen nicht erfolgreich sind, was teilweise an der Selbstüberschätzung der Managerinnen und Manager liegt. Auch viele andere weitreichende Entscheide, die in Unternehmen getroffen werden, werden nicht rational gefällt.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Entscheidungsträger sind manchmal ihrer Rolle fachlich oder von ihrer Persönlichkeit her nicht gewachsen, sind schlecht organisiert oder stehen unter erheblichem Zeitdruck. Oder sie handeln aus Eigeninteresse, um ihren Bonus oder ihr Prestige zu erhöhen. Häufig fehlt es auch an der kritischen Selbstreflexion; viele Manager sind sich nicht bewusst, dass sie sich selber überschätzen, zu lange am Bewährten festhalten oder anderen Denkfehlern unterliegen.

Schönfärberische Berichte

Nicht nur in den Chefetagen, sondern über alle Hierarchiestufen hinweg treffen Mitarbeitende Fehlentscheide, die auf solchen kognitiven Verzerrungen («biases») beruhen. Laut einer Befragung der Justus-Liebig-Universität Giessen unter 94 Controllern und Finanzchefs sind rund 70 Prozent der Ansicht, dass fehlerhafte Beschlüsse auf nichtrationales Entscheiden zurückzuführen sind. Über drei Viertel der Befragten gaben an, dass diese «biases» in ihrem Unternehmen einen erheblichen finanziellen Schaden anrichten könnten.

Laut der Erhebung sind der sogenannte «confirmation bias», der «overconfidence bias» und der «framing bias» weit verbreitet. Rund drei Viertel gaben an, dass – in unterschiedlichem Ausmass – bei Projekten der Zeitrahmen und die Kosten zu optimistisch geplant werden («overconfidence bias») und dass Informationen zu stark berücksichtigt werden, die bestehende Einschätzungen bestätigen («confirmation bias»). Ausserdem stellt über die Hälfte der Befragten fest, dass in Berichten an das Management positive Informationen oft stärker hervorgehoben werden als negative («framing bias»).

Laut Arnt Wöhrmann, Professor für Managerial Accounting an der Justus-Liebig-Universität Giessen, reagierten aber nur wenige Firmen auf diese Fehler und passten ihre Entscheidungsprozesse entsprechend an – obwohl es simple Methoden zur Bekämpfung von verzerrter Entscheidungsfindung gäbe.

«Advokat des Teufels» und andere Methoden

Wirkungsvoll ist laut Wöhrmann etwa die Methode «Advokat des Teufels», bei der eine unabhängige Person mit voller Kraft gegen eine beabsichtigte Entscheidung argumentiert. Oder wenn eine solche Aussenperspektive nicht möglich ist, stellt man sich vor, das Projekt werde scheitern, und versucht dann, die Gründe für das angenommene Scheitern zu identifizieren (Pre-Mortem-Analyse). Laut Wöhrmann lohnt es sich auch, unabhängige Experten ins Boot zu holen, die das Projekt neutral bewerten («expert opinion»).

Bei komplexen Entscheidungen stellen Unternehmen manchmal zwei Teams zusammen, die über das gleiche Problem nachdenken und dabei die entgegengesetzten Positionen vertreten müssen. Aus der anschliessenden Diskussion der beiden Gruppen, die alle Stärken und Schwächen offenlege, entwickle sich eine rationale Lösung, sagt Wöhrmann.

Bessere Beschlüsse seien auch möglich, wenn in Besprechungen die Person mit dem niedrigsten Rang ihre Meinung zuerst äussere und die ranghöchste Person erst am Schluss das Wort ergreife («junior speaks first»). Damit werde verhindert, dass Mitarbeitende Gegenargumente zurückhielten, nur um nicht negativ aufzufallen.

Selbstkritik auf der Chefetage

Der deutsche Stromversorger RWE gehört zu den Vorreitern bei der Eindämmung solcher Denkfehler. Wie der ehemalige Finanzchef Bernhard Günther gegenüber «McKinsey Quarterly» ausführte, hatte man den Stimmungsumschwung in der Bevölkerung gegenüber erneuerbaren Energien unterschätzt und noch Milliarden in konventionelle Kraftwerke investiert.

Bei der Analyse, was schiefgelaufen war, stellte das Führungsgremium fest, dass es die eigenen Fähigkeiten überschätzt hatte und sich zur Annahme verleiten liess, dass die Welt immer so sein würde, wie sie früher war. Auch die Firmenkultur spielte eine wichtige Rolle. So hielten sich etwa die Experten, welche die Investitionen bewerteten, mit kritischen Äusserungen zurück, weil sie befürchteten, als «ewige Pessimisten» abgestempelt zu werden.

Der Stromversorger führte diverse Massnahmen ein, um das Bewusstsein für «biases» im Unternehmen zu schärfen, Methoden zur Vermeidung von Denkfehlern zu etablieren und die Firmenkultur zu verändern. Der Einsatz eines «Advokaten des Teufels» führte beispielsweise zu besseren Beschlüssen, als wenn nur das interne Projektteam einen Vorschlag präsentiert hätte.

Damit die Belegschaft die Massnahmen akzeptierte, musste die Geschäftsleitung des Stromversorgers eine selbstkritische Vorbildfunktion übernehmen und mit gutem Beispiel vorangehen. «Es funktioniert nur, wenn Chefs ihre Fehler zugeben, daraus lernen und Kritik begrüssen», sagt Wöhrmann.

Kopf und Bauch entscheiden gemeinsam

Vor dem Hintergrund der derzeitigen fundamentalen Veränderungen werden viele Entscheidungen in Unternehmen unter grosser Unsicherheit gefällt. Wie wichtig ist das rationale Abwägen der Vor- und Nachteile, wenn sich die Zukunft kaum prognostizieren lässt? Welche Rolle spielt die Intuition? Und überhaupt: Wann kann man von einer guten Entscheidung sprechen?

Laut Christian Ruff, Professor für Neuroökonomie und Entscheidungsneurowissenschaften an der Universität Zürich, stellen sich gute Entscheidungsträger folgende Fragen, bevor sie einen Beschluss fassen: Was will ich erreichen? Welche Wege führen zu diesem Ziel? Wie bewerte ich die einzelnen Optionen, und welche Aspekte (z. B. meine Werte) sind für die Bewertung bedeutsam?

Es sei nie ein reiner Kopf- oder ein reiner Bauchentscheid, sagt Ruff, vielmehr bewerteten wir Informationen bei jeder Entscheidung sowohl rational als auch emotional. Je nach Situation sollte man laut Ruff den Kopf oder das Bauchgefühl stärker gewichten. Bei klaren Informationen und wenn sich alles wie erwartet entwickle, fälle der Kopf den Entscheid, der vom Bauchgefühl bestätigt werde. Sei die Unsicherheit jedoch gross und die Faktenlage unklar, könne man verstärkt auf die Intuition hören, sagt Ruff. Wer einen guten Zugang zu seiner Intuition hat, erkennt unbewusst Muster. Die Person weiss, dass sie einen guten Entscheid getroffen hat, kann diesen jedoch meist nicht mit Worten begründen.

Eine innere Distanz aufbauen

Ob es sich um einen intuitiv guten Entscheid handelt oder ob man stattdessen einem Denkfehler unterlegen ist beziehungsweise einem emotionalen Impuls nachgegeben hat, lässt sich gar nicht immer so einfach unterscheiden. Bei der Frage nach einer Neuausrichtung kann es sein, dass man die Weichen nicht stellt, weil man einem «Status-quo-Bias» unterliegt und die Anzeichen der neuen Entwicklung nicht wahrnimmt. Es kann aber auch sein, dass man Angst vor der Veränderung hat und deshalb davor zurückschreckt. Stattdessen ist es aber auch denkbar, dass man intuitiv merkt, dass es für die Weichenstellung noch zu früh ist.

Mit Selbstreflexion kann man sich Denkfehler bewusst machen und eine innere Distanz aufbauen. Gleichzeitig kann man seine Fähigkeiten zur Selbststeuerung verbessern, um emotionale Impulse zu kontrollieren und sich beispielsweise nicht von übertriebener Angst leiten zu lassen.

Auch der Purpose und die Werte eines Unternehmens spielen bei Beschlüssen eine Rolle. Führungskräften, die den Purpose des Unternehmens verkörpern, dürfte es leichterfallen, unter Unsicherheit wichtige Entscheide zu treffen. Wenn es schwierig wird, hilft der Purpose, den grösseren Sinn und Zweck der Geschäftstätigkeit nicht aus den Augen zu verlieren und resilient zu bleiben. Es hilft beim Entscheiden, wenn man sich der Werte bewusst ist. Unternehmen, die Innovation und Originalität als wichtige Werte bezeichnen, lancieren ein neues Produkt wahrscheinlich früher als Firmen, die sich auf Werte wie Beständigkeit und Qualität berufen.

Wer gestresst ist, entscheidet schlechter

In der hektischen Arbeitswelt ist es allerdings oft schwierig, gute Entscheide zu treffen. «Erfahren Menschen grossen Stress, unterliegen sie vermehrt Denkfehlern», sagt Ruff. Man verschliesse etwa die Augen vor neuen Markttrends, um das Projekt nicht stoppen und einen hohen Verlust hinnehmen zu müssen. Ausserdem fällt es Mitarbeitenden unter erheblichem Stress schwerer, ihre emotionalen Impulse zu steuern und beispielsweise unangenehme Aufgaben rechtzeitig anzupacken.

Auch Beschlüsse, die nach langen Diskussionen spätabends und unter hohem Zeitdruck gefasst werden, sind weniger gut, als wenn die Beteiligten «eine Nacht darüber schlafen» und am nächsten Morgen mit frischem Geist zur Entscheidung gelangen. Ähnlich wie zu grosser Stress wirkt sich auch Müdigkeit negativ auf die Entscheidungsqualität aus.

Gefahr von kollektiver Selbstüberschätzung

Bei Entscheidungen in Teams spielen vor allem soziale Aspekte eine wichtige Rolle. Laut Uwe Peter Kanning, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück, besteht beispielsweise die Gefahr, in ein sogenanntes Groupthink zu verfallen.

Diese Gruppen werden in der Regel autoritär geführt, die Mitglieder vertreten keine abweichende Meinung, um nicht als illoyal wahrgenommen zu werden, und es fehlt der Austausch mit Aussenstehenden und unabhängigen Experten. Laut Kanning nehmen die Teammitglieder irrtümlicherweise an, die vorgegebene Richtung sei richtig. Dies führe zu einer kollektiven Selbstüberschätzung.

«Groupthink erhöht die Risikobereitschaft», sagt Kanning. Die Beteiligten gingen gemeinsam grössere Risiken ein, als dies jeder für sich allein tun würde. Die Verwaltungsräte der ehemaligen Swissair etwa segneten gemeinsam – unter dem Druck der Konformität – die riskante Expansionsstrategie ab. Entsteht die Dynamik einer kollektiven Selbstüberschätzung, entscheidet die Gruppe als Ganzes im schlimmsten Fall schlechter, als wenn der Chef im Alleingang entschieden hätte.

Nicht die Besten werden ausgewählt

Laut Kanning gibt es verschiedene Massnahmen, um Groupthink zu vermindern. Dazu zählt, dass die Mitglieder der Gremien einzig nach ihrer Eignung für den Posten ausgewählt werden. «Dies ist in den Chefetagen nicht selbstverständlich», sagt Kanning. Die Auswahlverfahren in den oberen Hierarchiestufen seien weniger strukturiert, und die Personalauswahl unterliege oft mehr Denkfehlern als auf tieferen Hierarchiestufen. Laut Kanning wählen Firmenchefs nach wie vor am liebsten Personen in die Geschäftsleitung, die ihnen ähnlich sind und mit denen sie die grössten Gemeinsamkeiten haben.

Ausserdem sollte die Managerin oder der Manager einen partizipativen Führungsstil pflegen. In einem solchen Arbeitsumfeld trauen sich die Mitarbeitenden, Kritik zu äussern, den Status quo zu hinterfragen und innovative Ideen einzubringen. Auch verschiedene Sichtweisen auf ein Thema werden bewusst gesucht, unabhängige Experten einbezogen und die Beschlüsse ohne erheblichen Zeitdruck gefasst.

Wichtig ist zudem, dass die Entscheidungsfindung transparent ist und die Meinungen derjenigen, die das Thema am besten beurteilen können, eingeflossen sind. Wenn dies alles gut funktioniert, kommt die Schwarmintelligenz zum Tragen, und die Führungskräfte gelangen im Team zu besseren Lösungen, als wenn der Chef allein entschieden hätte.

Natalie Gratwohl, «Neue Zürcher Zeitung»