Moderate Gewerbler befürchten «Krawallkurs»: Henrique Schneider will Hans-Ulrich Bigler ablösen – und ist mindestens so umstritten Die Schlagkraft des Gewerbeverbandes leidet seit Jahren unter Flügelkämpfen. Der künftige Direktor dürfte dem Hardliner-Lager angehören. Mitglieder des Verbandes zweifeln an seiner Eignung für das Amt.

Die Schlagkraft des Gewerbeverbandes leidet seit Jahren unter Flügelkämpfen. Der künftige Direktor dürfte dem Hardliner-Lager angehören. Mitglieder des Verbandes zweifeln an seiner Eignung für das Amt.

Der künftige Direktor des Gewerbeverbandes Henrique Schneider (links) mit seinem Vorgänger Hans-Ulrich Bigler. Bild: SGV

«Intellektuell brillant, aber nicht elitär», «ein Zyniker», «immun gegen zeitgeistigen Blödsinn», «völlig ungeeignet für den Posten». Diese Zitate stammen aus Gesprächen mit Gewerblern über Henrique Schneider. Zu sagen, dass der 45-jährige Ökonom polarisiere, wäre eine Untertreibung. Trotzdem ist Schneiders Wahl zum nächsten Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes (SGV) am Mittwoch Formsache.

Konkurrenz gibt es keine. Der Vorstand hat der Gewerbekammer, dem Parlament des SGV, ein Einerticket unterbreitet. Schneider wird also trotz dem Murren einiger Verbandsmitglieder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Nachfolger von Hans-Ulrich Bigler werden, der spätestens per Ende Juni von seinem Amt zurücktreten wird.

Flügelkämpfe im Verband

Bemerkenswert ist: Sogar Schneiders Gegner loben seine intellektuellen Fähigkeiten mit Superlativen. Umgekehrt haben auch bekennende Schneider-Fans Zweifel, ob er der richtige Mann für die Verbandsspitze ist. Ein Kompromisskandidat ist Schneider nicht. Der Einervorschlag des Vorstandes ist aus der Not geboren. Neben Schneider war noch eine weitere Person im Rennen um das Amt. Sie wollte sich dem Vernehmen nach nicht einer Kampfwahl in der Gewerbekammer stellen. So blieb dem Vorstand nichts anderes übrig, als eine Vorauswahl zu treffen und ein Einerticket aufzustellen. Die Abstimmung im Gremium, wer draufstehen sollte, konnte schliesslich Schneider für sich entscheiden.

Den SGV-Präsidenten Fabio Regazzi überraschen die Vorbehalte mancher Verbandsmitglieder gegenüber Schneider nicht. Er sagt: «Es ist für den Vorstand unmöglich, einen Kandidaten zu finden, der allen passt.» Das liege daran, dass der SGV ein sehr heterogener Verband sei. Entweder kritisiere die eine Seite die vorgeschlagene Person als Hardliner. Oder die andere Seite finde den Kandidaten zu moderat. Regazzi nimmt Schneider, der dem Hardlinerflügel zugerechnet wird, in Schutz: «Ich habe zwei Jahre lang eng mit ihm zusammengearbeitet. Er ist ein Schnelldenker, wie man ihn kaum irgendwo findet. Und er ist sehr loyal.»

Wer ist Henrique Schneider? Und warum polarisiert er derart? Ein Grund dafür ist zweifellos seine politische Haltung. In einem Porträt titulierten ihn die Tamedia-Zeitungen kürzlich als «Rechtsaussen-Professor». Stimmt diese Zuschreibung? Falls damit gemeint ist, dass Schneider zu jenen Liberalen gehört, die in der SVP das kleinste Übel sehen, trifft sie wohl zu. Er gehört zum Co-Präsidium der Bewegung Autonomiesuisse, die eine enge institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU bekämpft. Überdies ist er Verwaltungsrat und Aktionär der vom früheren «Weltwoche»-Journalisten und heutigen SVP-Nationalratskandidaten Philipp Gut gegründeten «Umwelt-Zeitung».

Einst liebäugelte Schneider mit einem Eintritt in die Politik. 2012 präsentierte ihn die SVP als Kandidaten für den Berner Stadtrat, die Legislative der Bundesstadt. Auf dem Wahlzettel für den Urnengang fehlte sein Name dann allerdings. Warum er seine Kandidatur damals zurückzog, ist unklar. Schneider lehnte es gegenüber der NZZ ab, Fragen zu seiner Biografie zu beantworten. Er werde erst nach der Wahl am 8. Februar Anfragen von Journalisten beantworten.

Furcht vor Fortsetzung des «Krawallkurses»

Selbst seine Kritiker loben Schneider als originellen Denker. Es mangle ihm jedoch an Fokus, sagen manche; er werde sich als Direktor entweder langweilen oder verzetteln. Vielseitig interessiert ist Schneider zweifellos. Er publiziert zu Themen wie Konfuzianismus, Ethik in der Öffentlichkeitsarbeit der Armee oder künstlicher Intelligenz. Darüber hinaus soll er passabel Chinesisch sprechen. Schneider hat an der HSG und an der Auburn University (USA) Wirtschaftswissenschaften studiert. Im Alter von rund dreissig Jahren meldete er sich freiwillig für einen Einsatz als Presseoffizier eines Swisscoy-Kontingents der Schweizer Armee im Kosovo. Heute ist er neben seiner Tätigkeit als SGV-Verbandsfunktionär Professor für Volkwirtschaftslehre an der Nordakademie, einer privaten Fachhochschule in Schleswig-Holstein.

Schneider gilt innerhalb des Verbandes als prinzipientreu. Im Zweifel gewichte er die Ordnungspolitik höher als die kurzfristigen Interessen der Verbandsmitglieder, sagt jemand, der ihn gut kennt. Mit diesem «akademischen Ansatz» ecke er manchmal an. So hätten es ihm manche Mitglieder übelgenommen, dass er die Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Schweizerische Nationalbank eher nonchalant kommentiert habe. Was für den Ökonomen ein unvermeidlicher Schritt war, jagte den Gewerblern einen Schrecken ein.

Sympathiepunkte büsste Schneider aber vor allem vor der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz ein. Obwohl sich der SGV für das Gesetz ausgesprochen hatte, unterstützte Schneider «als Privatperson» das Referendum. Für den SGV-Präsidenten Regazzi war das zu viel Dialektik: «Ich sagte ihm damals klar, dass er das nicht hätte tun sollen. Seither hatten wir keine Probleme mehr.» Es gehört zum Job eines Verbandsdirektors, dass er contrecœur Positionen vertreten muss. Zu den ausgeprägten Stärken Schneiders gehört das offenbar nicht.

Der moderate Flügel des Verbandes befürchtet, dass Schneider den «Krawallkurs» seines Vorgängers fortsetzen könnte. Ein SGV-Mitglied sagt: «Der Erfolg eines Verbandes bemisst sich nicht an der Zahl der Schlagzeilen, die er für Journalisten generiert.» Der Plan A müsse stets die Einflussnahme in Kommissionen, Vernehmlassungen, Gesprächen mit Behörden oder im Parlament sein. Dabei sei ein seriöses, aber bestimmtes Auftreten gefragt. Erst wenn man mit dem Plan A keinen Erfolg habe, solle via Plan B über die Öffentlichkeit Druck aufgebaut werden. Unter Bigler sei die Reihenfolge aber in letzter Zeit meist umgekehrt gewesen: «Er hat das Alphabet wohl rückwärts gelernt.»

Grünliberale Gebäudetechniker und SVP-Metzger

Wenig überraschend halten die Schneider-Skeptiker die Positionierung des SGV am rechten Rand des politischen Spektrums für unklug. Der Verband vertritt nicht nur die Interessen des SVP-Metzgers, sondern auch jene des grünliberalen Gebäudetechnikers, der mit der Installation von Solaranlagen Geld verdient. Es prallen im SGV nicht nur unterschiedliche Milieus und Weltanschauungen aufeinander, sondern auch unterschiedliche wirtschaftliche Interessen. Besonders bei Umwelt- und Energiefragen führt das oft zu Gehässigkeiten zwischen dem moderaten und dem rechten Flügel des Verbandes.

Präsident Regazzi wäre als Mitte-Nationalrat dafür prädestiniert, für eine politische Balance zu sorgen. Vertreter des moderaten Flügels befürchten jedoch, dass Schneider mit seiner starken Persönlichkeit den SGV dominieren wird. Regazzi habe in den vergangenen zwei Jahren als Dompteur nicht überzeugt. Es sei ihm nicht gelungen, Bigler unter Kontrolle zu bringen. Der Vorstand habe eine klare Vorstellung davon, wie sich ein SGV-Direktor verhalten müsse, entgegnet Regazzi. «Herr Schneider weiss um die Vorbehalte mancher SGV-Mitglieder ihm gegenüber.» Er habe das mit ihm auch unter vier Augen besprochen.

Auf Schneider wartet eine schwierige Aufgabe. Das Verhältnis zwischen dem SGV und dem Arbeitgeberverband sowie Economiesuisse hat unter Biglers Führung gelitten. Regazzi verlangt diesbezüglich Gegensteuer. Der Vorstand habe klar ausgedrückt, dass er eine gute Zusammenarbeit mit den anderen Wirtschaftsverbänden erwarte. Um die Flügelkämpfe im Verband nicht noch zu befeuern, müsste sich Schneider vom scharfzüngigen Vordenker zum integrativen Direktor des SGV wandeln. Die Frage ist, ob er das kann – und überhaupt will. Regazzi gibt sich optimistisch: «Wir wissen, was wir mit ihm bekommen und wofür er steht. Ich bin zuversichtlich, dass er sich in seiner neuen Rolle einfinden wird.»

Stefan Häberli, Bern, «Neue Zürcher Zeitung»

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