Programmieren am Strand! Als digitaler Nomade zu arbeiten, gilt als modern und romantisch zugleich. Die Realität dahinter ist allerdings oft recht profan Nico Enego entwickelt auf den Philippinen für das Schweizer Ingenieurbüro Zühlke Software. Er wird zur Berufsgattung der digitalen Nomaden gezählt, die seit der Pandemie stark wächst. Doch diese Arbeiter erweisen sich zunehmend als sesshaft.

Nico Enego entwickelt auf den Philippinen für das Schweizer Ingenieurbüro Zühlke Software. Er wird zur Berufsgattung der digitalen Nomaden gezählt, die seit der Pandemie stark wächst. Doch diese Arbeiter erweisen sich zunehmend als sesshaft.

 

Arbeitgeber in der Schweiz, Arbeitnehmer im Ausland. Das ist heute dank Remote-Arbeit vor allem in der Software-Entwicklung kein Problem mehr und immer öfter der Fall. Bild: pexels

Nico Enego ist Softwareingenieur und arbeitet für das Schweizer Ingenieurbüro Zühlke. Allerdings nicht im Schlieremer Hauptsitz, sondern vollkommen remote auf den Philippinen. Zühlke ist in Asien zwar an den Standorten in Hongkong, Singapur und Vietnam mit Büros präsent. Auf den Philippinen hat das Unternehmen dagegen keine Niederlassung. Trotzdem arbeiten Enego und drei weitere philippinische Softwareingenieure Vollzeit für Zühlke. Einen vergleichbar reizvollen und finanziell lukrativen Job hätte er in seiner Heimat kaum gefunden. Denn die meisten philippinischen Firmen können im internationalen Wettbewerb nicht mithalten.

Nico Enego arbeitet als Softwareingenieur für Zühlke auf den Philippinen. Bild: PD

Digitale Nomaden wie Enego werden immer noch als neues Phänomen in der Arbeitswelt wahrgenommen. Wer an einen digitalen Nomaden denkt, sieht vor dem geistigen Auge sofort einen Freiberufler, der an einem traumhaften Strand sitzt und mit dem Laptop auf dem Schoss programmiert. Populär sind denn auch Destinationen wie Indonesien, Malaysia oder Thailand in Südostasien. Diese Länder locken digitale Nomaden mit Visa und steuerlichen Anreizen, um den Tourismus und die Wirtschaft in der Region anzukurbeln.

So wirbt die indonesische Regierung für die Ferieninsel Bali mit dem Begriff «workation», der sich aus den Wörtern Arbeit (work) und Ferien (vacation) zusammensetzt. Laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IMF) gibt es weltweit bereits 40 Länder, die digitale Nomaden mit speziellen Visa anzulocken versuchen.

Der Trend setzt sich fort

Seit der Pandemie gibt es aber immer mehr digitale Nomaden mit Festanstellung. Im Gegensatz zu den Freiberuflern haben sie einen festen Vertrag mit einem Arbeitgeber, der ihnen Sicherheit bietet, arbeiten aber fernab der Firmenzentrale an einem Ort ihrer Wahl. Allein in den Vereinigten Staaten soll sich die Zahl der festangestellten digitalen Nomaden zwischen 2019 und 2022 von 3,2 Millionen auf 11,1 Millionen erhöht haben. Ein Ende des Trends ist nicht abzusehen. Er dürfte sich vielmehr weiter verstärken, weil sich Talente wie Enego nicht länger sagen lassen, wo sie ihre Arbeit zu erledigen haben. Sie sind sich bewusst, wie gefragt ihre Qualifikationen sind, und diktieren die Bedingungen.

So kam es auch in Enegos Fall. Ursprünglich arbeitete er in Singapur. Die Flüge waren billig. Es gab viele Verbindungen. «Meist bin ich am Montagmorgen nach Singapur geflogen, am Freitag ging es jeweils wieder zurück», sagt er im Videogespräch. Mit der Pandemie änderte sich sein Leben jedoch schlagartig. Denn die Regierungen der südostasiatischen Länder griffen hart durch und riegelten die Grenzen ab. Auch der damalige philippinische Präsident Rodrigo Duterte ordnete einen knallharten Lockdown an.

Enego stand vor der Wahl: Sollte er nach Singapur zu seinem Arbeitgeber fliegen, um dann möglicherweise viele Monate lang von der Familie getrennt zu sein? Oder sollte er in der Heimat bleiben? Sein damaliger Arbeitgeber erlaubte ihm, vollkommen remote von den Philippinen aus zu arbeiten. Und Enego hat Gefallen an der Arbeitsform gefunden. Denn dank diesem Arbeitsmodell kann er Berufliches und Privates besser miteinander vereinbaren, seine Familie und Freunde treffen, wenn ihm danach ist.

Ein Zurück in die analoge Welt wird es nicht geben

Enegos Arbeitgeber Zühlke feiert in diesem Jahr zwar bereits den 55. Geburtstag, gilt in Asien jedoch noch als Startup. Gerade einmal fünfeinhalb Jahre ist Zühlke in der Region aktiv. Arbeitnehmer finden in solch jungen Firmen noch keine festgefahrenen Strukturen vor. Alles ist im Fluss, was in dynamischen Regionen wie Asien bei der Personalrekrutierung ein Trumpf ist.

Der Bedarf solcher Unternehmen an Talenten wie Enego ist immens. Auch in Südostasien hat die Digitalisierung das tägliche Leben während der Pandemie durcheinandergewirbelt. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, viele Dinge mit dem Smartphone oder am Laptop zu erledigen. Ein Zurück in die analoge Welt wird es nicht geben. Dafür ist die junge Generation zu technikaffin. Unternehmen, die diesen Trend verschlafen, haben in Asien keine Zukunft. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach Softwarelösungen, die Unternehmen wie Zühlke anbieten.

Um weiter zu wachsen, braucht es jedoch qualifiziertes Personal, welches die Wünsche der Kunden erfüllt. Das Angebot an solchen Spezialisten hält mit der Nachfrage nicht Schritt. Die Top-Absolventen kommen von den Universitäten in Singapur oder Hongkong. Die grosse Nachfrage treibt deren Löhne in die Höhe. Zudem ist die Anzahl Universitätsabgänger in Hongkong geschrumpft. Viele haben wegen des wachsenden Einflusses der Kommunistischen Partei Chinas die einstige britische Kolonie verlassen. Deshalb richtet sich nun der Blick von Unternehmen wie Zühlke auch auf Arbeitnehmer und Universitätsabsolventen aus Ländern wie den Philippinen. Diese Länder hatten die Unternehmen zuvor nicht auf dem Radar, weil sie dort keine Standorte haben und auch weil das Remote-Arbeiten vor wenigen Jahren noch nicht so weit verbreitet war.

Dieses neue Arbeitsmodell setzt aber auch voraus, dass Firmen ihren Beschäftigten, die fernab der Büros arbeiten, vertrauen. Gelingt dies, vergrössert sich in einem hart umkämpften Markt das Angebot an Talenten. Und Unternehmen wie Zühlke können wachsen, ohne an teuren Standorten wie Singapur weitere Bürofläche mieten zu müssen. Darüber hinaus entfallen bei solchen Personalanstellungen auch bürokratische Hindernisse. Die Firmen müssen keine Arbeitserlaubnisse für Angestellte wie Enego beantragen. Der Filipino ist in seiner Heimat steuerpflichtig und zahlt in die dortigen Sozialversicherungen ein.

«Der Austausch mit den Kollegen im Büro fehlt mir nicht wirklich»

Seit Oktober vergangenen Jahres ist Enego für Zühlke tätig. Er entwickelt Softwarelösungen für Kunden. Sein Arbeitstag beginnt gegen neun Uhr. Eine Stunde später gibt es einen Online-Call mit dem Team, um die Arbeit für die jeweiligen Projekte zu besprechen. Neben den Team-Besprechungen tauscht sich Enego mit den Kollegen bei Bedarf bilateral aus. In Zeiten von Teams, Whatsapp und Zoom reisst der Kontakt nicht ab, auch wenn er nur im virtuellen Raum stattfindet.

Getroffen hat er alle Kollegen bereits persönlich. Viermal im Jahr besucht er das Büro in Singapur. Er bleibt ein bis zwei Wochen dort. Für das gegenseitige Verständnis sind solche persönlichen Treffen wichtig. Der soziale Austausch, den man sonst täglich im Büro hätte, fehle ihm während seiner Zeit auf den Philippinen nicht wirklich. Er geniesse es, wenn er sich zwischendurch um seinen Sohn kümmern oder offline seiner Arbeit nachgehen könne und nicht laufend von E-Mails, Nachrichten oder Kollegen aus dem Rhythmus gerissen werde.

Zudem spart er viel Zeit, weil die Fahrten zwischen der Wohnung und dem Büro entfallen. Enego ist glücklich. Und glückliche Menschen sind produktiver: «Ich arbeite remote konzentrierter und bin produktiver als im Büro.» Diverse Studien belegen die Aussage von Enego. Menschen, die remote arbeiten, sind produktiver als im Büro.

Singapur hat an Attraktivität verloren

Für ein solches Arbeitsmodell sind jedoch nicht alle geeignet. Fernarbeit setzt Selbstdisziplin und ein grosses Mass an intrinsischer Motivation voraus. Ahmootha Ramachandran arbeitet seit etwas mehr als einem Jahr für das IT-Unternehmen und leitet von Kuala Lumpur aus ein Team von sechs Kolleginnen und Kollegen, die sich um die Kontaktpflege und die Anstellung von Talenten in Asien kümmern. Sie weiss aus eigener Erfahrung, wie strukturiert man sein muss, um fernab der Firmenzentrale der Arbeit nachzugehen. In den Vorstellungsgesprächen versucht sie herauszufinden, ob sich der Bewerber für Remote-Arbeit eignet oder ob die Person ihre Energie doch eher daraus zieht, hin und wieder mit den Kollegen am Kaffeeautomaten zu plaudern.

Ahmootha Ramachandran ist bei Zühlke für die Rekrutierung von Talenten in Asien zuständig. Bild: PD

Ramachandran stand bei ihren Bewerbungsgesprächen mit Zühlke vor der Frage, ob sie nach Singapur ziehen soll, wie sie am Telefon sagt. Sie lehnte die Idee nicht kategorisch ab. Da sie aber ihre Familie und ihre Freunde in Kuala Lumpur hat und den malaysischen Lebensstil liebt, entschied sie sich für die Heimat.

Hat Singapur etwa an Attraktivität für Expats verloren? Der Schluss liegt nahe. Denn die Stadt ist zwar perfekt organisiert und sicher. Die Lebenshaltungskosten und Mieten sind jedoch explodiert. Malaysia ist deshalb trotz grossem Wohlstandsgefälle im Vergleich zu Singapur für Ramachandran attraktiver.

Während der Pandemie wurde noch gerätselt, ob das Arbeiten von zu Hause aus nur ein vorübergehendes Phänomen ist, das nach der Rückkehr zum Status quo ante wieder der Vergangenheit angehören wird. Für Ramachandran ist der Entscheid gefallen: «Die Fernarbeit ist gekommen, um zu bleiben.» Raren Talenten wie Enego ist spätestens durch die Pandemie bewusst geworden, dass familiäres und berufliches Glück auch fernab der Büros des Arbeitgebers zu finden sind.

Matthias Müller, Singapur, Neue Zürcher Zeitung

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