Acht statt fünf Wochen: Geht es Lehrlingen wirklich so schlecht, dass sie mehr Ferien brauchen? Mangelhafte Ausbildungsqualität, fehlende Betreuung, wenig Wertschätzung und psychische Probleme. Laut einer Studie fühlen sich viele Schweizer Lehrlinge unwohl. Der Ruf nach mehr Erholungszeit wird aber letztlich zur Kostenfrage führen.
Mangelhafte Ausbildungsqualität, fehlende Betreuung, wenig Wertschätzung und psychische Probleme. Laut einer Studie fühlen sich viele Schweizer Lehrlinge unwohl. Der Ruf nach mehr Erholungszeit wird aber letztlich zur Kostenfrage führen.

Derzeit gibt es einen Wust von Interessengruppen, die nur eines vom Staat – also von seinen Steuerzahlern – wollen: mehr Geld. Und mehr Freizeit, was natürlich wieder viel Geld kostet. Mehr Elternzeit, mehr Mutterschaftsurlaub, mehr Vaterschaftsurlaub, eine Vier-Tage-Woche, mehr Kita-Vergünstigungen, mehr Abgaben für die AHV. Die neuste und wiederkehrende Forderung ist erst wenige Tage alt: mehr Ferien für Lehrlinge. Acht Wochen statt wie bisher nur fünf.
Der Vorstoss wirkt gut organisiert: Ende der vergangenen Woche haben Lehrlinge aus der ganzen Schweiz einen offenen Brief an den Bundesrat geschrieben – und den Inhalt medienwirksam verbreitet. Mit einem solchen Vehikel kann man heute gut punkten. Wer virtuell um Unterschriften bittet, ist schnell erfolgreich. Ein Klick genügt. Stand Montagnachmittag haben laut den ferienaffinen Lehrlingen fast 110 000 Menschen signiert.
Gymnasium bietet mehr Erholungszeit
Hinter der Aktion steht der Schweizerische Gewerkschaftsbund – und die Forderungen haben dann auch einen schwer gewerkschaftlichen Groove, wie ein kurzer Blick in das Argumentarium zeigt: Der Anteil Jugendlicher, die den Weg an ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule bevorzugten, wachse – auch, weil ihnen diese allgemeinbildenden Wege bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen und mehr Erholungszeit böten.
Mehr als die Hälfte der befragten Lernenden leiden unter Stress und Erschöpfung. Der Druck auf die Lernenden ist hoch, während Unterstützung und Kontrollen durch die kantonalen Lehraufsichten klar unzureichend bleiben. Viele berichten deshalb von mangelhafter Ausbildungsqualität, fehlender Betreuung und geringer Wertschätzung.
Das Fazit überrascht wohl niemanden: «Die Berufslehre steckt in einer Krise.» Das wird auch von Bildungsexperten geteilt. Die «oberste Lehrerin der Schweiz», Dagmar Rösler, spricht sich beispielsweise ebenfalls für acht Wochen Ferien für Lehrlinge aus.
Depressionen, Angststörungen – aber auch Stolz
Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade am Montag auch eine neue Studie erschienen ist. Die Gewerkschaften und die linken Jungparteien waren sofort zur Stelle, um ihre Acht-Wochen-Forderung nochmals zu untermauern. Warum? 61 Prozent der Lehrlinge erlebten während der Berufslehre psychische Probleme. Diese reichen von negativen Gedanken und Gefühlen bis hin zu psychischen Krisen und Krankheiten. Auch Symptome von Depressionen, Angststörungen oder ADHS seien häufig. Die Hälfte der Lehrlinge würden durch die Probleme in der Lehre eingeschränkt. Diese würden etwa zu gleichen Teilen mit ausgelöst durch Belastungen im Privatleben und in der Lehre.
Das kann man natürlich auch anders sehen. Denn die 45 000 Lehrlinge, die befragt worden sind, sind grundsätzlich sehr zufrieden mit der Berufslehre. 75 Prozent der befragten Personen geht es «eher gut» bis «sehr gut» in ihrer Lehre. 85 Prozent sind stolz auf ihren Lehrbetrieb, und gut 90 Prozent sind der Überzeugung, etwas Sinnhaftes zu leisten. Mehr als 90 Prozent der Befragten geben an, seit der Lehre verantwortungsbewusster zu sein. Wie das zusammengeht, wird nicht klar ersichtlich. Die Studienautoren schreiben als Fazit: «Psychische Probleme bei Lernenden müssen vermehrt ernst genommen, sollten aber nicht dramatisiert werden.»
Schwenken die Bürgerlichen ein?
Spannend ist aber auch ein anderer Punkt. Während die meisten solcher Ausbauforderungen bei einem Teil der Bürgerlichen auf Ablehnung stossen, wird deren Reaktion bei der Berufslehre spannend sein. Der duale Weg ist der Königsweg in der Schweiz. Und es sind vor allem die Bürgerlichen, die die zunehmende Akademisierung mit immer höheren Maturitätsquoten stoppen wollen. Noch vor zwei Jahren lehnte der Nationalrat sechs Ferienwochen für Lehrlinge ab: SVP und FDP stimmten geschlossen dagegen, die Mitte-Partei fast geschlossen.
Doch schon damals gab es prominente Befürworter wie den freisinnigen Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger. Er sagte: «Indem Schüler vor dem Gymi noch zwei oder drei Jahre die Sek besuchen, bekommt die Sekundarschule einen höheren Stellenwert. In der Sek kommen alle Schüler mit diversen Berufen in Kontakt, erhalten dank Schnuppern Einblick in die Berufswelt und lassen sich so vielleicht für eine Lehre begeistern (. . .). Daneben könnte die Lehre aufgewertet und die Ferien für Lernende auf bis zu acht Wochen erhöht werden.»
Kostenfrage wird entscheidend sein
Ob die Attraktivität nur mittels mehr Ferien gesteigert werden kann? Das ist durchaus fraglich. Je mehr in den Schulen auf den Wert einer Lehre hingewiesen wird, desto eher entscheiden sich Junge für diesen Weg. Das zeigt sich etwa auch daran, dass die Wirtschaft wieder vermehrt in den Klassenzimmern den Wert einer Lehre aufzeigen darf. Sogar in Basel-Stadt, mit einer Monster-Gymnasialquote von durchschnittlich 35 Prozent in den letzten Jahren, setzt man auf diese Form von Zusammenarbeit.
Reicht aber die Aussicht auf eine sinnstiftende Tätigkeit, um auf mehr Ferien zu verzichten – und sich gegen eine schulische Weiterbildung zu entscheiden? Politisch dürfte die Kostenfrage entscheidend sein. Diese lasse sich noch nicht beantworten, meint etwa der Schweizerische Arbeitgeberverband gegenüber den Zeitungen von CH Media.
Bis anhin sei das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Lehrstelle für den Betrieb «leicht positiv». Das sei wichtig, damit die Unternehmen auch bereit seien, junge Leute auszubilden. Sonst könnten gewisse Betriebe die Ausbildung ihrer Lernenden einstellen. Nicole Meier, die Ressortleiterin für Bildung, sagt: «Für die Schweizer Berufsbildung wäre das fatal.»