Die Schweiz braucht nicht nur Akademiker, sondern auch Handwerker. Und diese verdienen mehr Anerkennung Ohne Handwerker stünde die Schweiz still. Aber Servicetechniker und Monteure fehlen zunehmend. Das liegt nicht nur an ungenügenden finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten.

Ohne Handwerker stünde die Schweiz still. Aber Servicetechniker und Monteure fehlen zunehmend. Das liegt nicht nur an ungenügenden finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten.

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Man merkt es zunehmend im Alltag. Geht etwas kaputt, braucht man viel Geduld, bis ein Servicemonteur sich des Schadens an Waschmaschine, Geschirrspüler, Rollladen oder Kochherd annimmt. «Wir können erst in zwei Wochen jemand vorbeischicken», heisst es beim Anruf auf der Hersteller-Hotline. Autogaragen, Elektriker, Sanitärbetriebe – auch sie lassen sich bei der Vergabe von Terminen Zeit.

Noch ist die Schweiz von Zuständen wie in anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Polen oder Grossbritannien weit entfernt. Dort stellen Bewohner vor allem von Randregionen manchmal fest, dass es in ihrem Umkreis gar keine Handwerker mehr gibt.

Ausländer als Lückenfüller

Aber auch hierzulande nimmt der Stresspegel zu, weil Reparaturarbeiten nur mit Verzögerungen ausgeführt werden. Wer ein Haus baut oder renoviert, macht zudem häufig die Erfahrung, dass er sich mit manchen Handwerkern rein sprachlich kaum noch verständigen kann.

Ein Grund dafür ist, dass bei Bautätigkeiten wie Gipser- und Malerarbeiten oder auch bei elektrischen Installationen Handwerksbetriebe Aufträge oft im Unterakkord an andere Unternehmen weitergeben. Diese Drittfirmen wiederum setzen zum Teil fast nur ausländische Arbeiter ein. Viele ihrer Beschäftigten wohnen erst seit kurzem in der Schweiz oder halten sich hierzulande nur wochenweise auf.

Was beim Kunden Irritationen auslösen kann, ist auch heute noch ein gutes Geschäft. Vielen Betrieben, besonders solchen aus baunahen Branchen, läuft es in der Schweiz tatsächlich seit Jahren glänzend.

Stark dazu beigetragen haben die Zuwanderung und der damit verbundene Bauboom. Seit der Jahrtausendwende wurden in der Schweiz mehr als 1,2 Millionen neue Wohnungen erstellt.

Aber auch Renovationen, oft verbunden mit energetischen Sanierungen von Gebäuden, haben die Nachfrage nach handwerklichen Dienstleistungen steigen lassen. Zudem verschaffen grosse Infrastrukturprojekte insbesondere im Transportbereich und in der Energieversorgung gewerblichen Betrieben volle Auftragsbücher.

Falsche Vorstellungen

Dass das Handwerk auch künftig goldenen Boden haben wird, ist indessen nicht garantiert. Das hiesige Angebot an Arbeitskräften hält mit der starken Nachfrage nach handwerklichen Tätigkeiten seit längerem nicht mehr Schritt.

Viele Schweizerinnen und Schweizer besonders in städtischen Gebieten schreckt die Arbeit auf Baustellen und in Fabriken ab. Obwohl Handwerker immer mehr technische Hilfsmittel – wie zum Beispiel Laptops in Autogaragen – zur Verfügung haben, steht ihre Arbeit noch immer im Ruf, schmutzige Hände zu verursachen, körperlich anstrengend und monoton zu sein.

Das spiegelt sich auch in den Zahlen. Zur Zeit der Hochkonjunktur Ende der 1960er Jahre, als in der Schweiz ebenfalls emsig gebaut wurde, arbeitete noch rund ein Viertel der hiesigen Beschäftigten in einem Handwerksberuf. 2000 waren es knapp 15 Prozent. Mittlerweile ist der Anteil der Handwerker unter den Berufstätigen auf unter 10 Prozent gefallen.

Ein Volk von Bürolisten

Ein grosser Teil des Rückgangs ist mit strukturellen Veränderungen der Schweizer Wirtschaft zu erklären. So hat sich die Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten stark in Richtung einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Für Büroarbeiten braucht es keine handwerkliche Ausbildung.

Auch die starke Automatisierung in der Industrie ist mitverantwortlich dafür, dass der Anteil der Handwerker unter den Berufstätigen markant abgenommen hat. Zwar benötigen heutige Fabriken noch immer eine gewisse Zahl von Logistikern oder Mechanikern, aber es sind deutlich weniger als früher. An modernen computergesteuerten Maschinen muss weniger herumgeschraubt werden als an älteren mechanischen Modellen. In vielen Betrieben haben autonom fahrende Transportfahrzeuge Gabelstapler und deren Fahrer ersetzt.

Wer heute noch in einer Fabrik arbeitet, hat sich nach der Berufslehre oft zum Techniker weiterbilden lassen oder besitzt gar einen Hochschulabschluss. Ohne solche zusätzlichen Qualifikationen wären Beschäftigte gar nicht in der Lage, die Roboter und anderen Anlagen in hochautomatisierten Schweizer Produktionsstätten zu beaufsichtigen, geschweige denn ihren Einsatz zu planen.

Zusammenspiel zwischen Praktikern und Theoretikern

Die Schweiz ist von einem Land der Handwerker und einfachen Büroangestellten zu einem der Akademiker geworden. Knapp die Hälfte der Erwerbsbevölkerung verfügt heute über einen tertiären Abschluss. Wenig überraschend bilden mit einem Anteil von fast 27 Prozent intellektuelle und wissenschaftliche Berufe mittlerweile die grösste Gruppe unter den Erwerbstätigen.

Allerdings entstehen gerade in der Industrie viele Ideen im Zusammenspiel zwischen Praktikern und Theoretikern. Von typischen hochwertigen Schweizer Industrieprodukten wie Kaffeeautomaten wird erwartet, dass sie sich auch reparieren lassen. Ob das neue Modell, das die Ingenieure der Entwicklungsabteilung ausgetüftelt haben, diese Voraussetzung erfüllt, können Mechaniker am besten einschätzen. Und für die Konzeption der Montage an den Fertigungsstrassen braucht es den Rat der Automatiker und Werkzeugmacher, beide Spezialisten mit Berufsabschluss.

Vor diesem Hintergrund müssen Industrie- und Gewerbebetriebe unbedingt sicherstellen, genügend Nachwuchs mit handwerklichen Fertigkeiten auszubilden. Viele Unternehmen agieren vorbildlich. Sie unternehmen grosse Anstrengungen, um junge Leute trotz dem wachsenden Drang an die Mittelschulen und deren vorbereitenden Angeboten für das Universitätsstudium für eine Lehre zu gewinnen.

Nicht jede Polymechanikerin muss Ingenieurin werden

Zugleich streichen Lehrbetriebe gerne schon an Informationsanlässen für Sekundarschüler heraus, welche weitergehenden Ausbildungswege Lernenden nach ihrem Abschluss offenstehen. Sie tun dies in der Hoffnung, im Wettbewerb mit den Gymnasien besser abzuschneiden.

Doch nicht jede Polymechanikerin muss später Maschinenbauingenieurin werden. Wer als Lehrbetrieb schon Schülern einhämmert, dass die Lehre nur ein Anfang ist, muss sich nicht wundern, wenn er seine besten Absolventen rasch an weiterführende Schulen verliert. Dabei würden erfahrene Handwerker nicht nur die Qualität und die Innovationsfähigkeit eines Betriebs steigern helfen. Sie sind auch am besten geeignet, um junge Mitarbeitende anzuleiten und sie täglich für ihre Tätigkeit zu begeistern.

Um Handwerker länger in einem Betrieb zu halten, müssen Unternehmen aber auch für eine wertschätzende Kultur sorgen. Damit ist nicht ein Kuschelkurs gemeint. Handwerker sind es gewohnt, anzupacken.

In der zunehmend partizipativen Arbeitswelt kommt es allerdings schlecht an, wenn sich Chefs als allwissend aufspielen und Angestellte nicht mit dem nötigen Respekt behandeln. Vor allem in kleineren Handwerks- und Industriebetrieben kommt solches noch allzu häufig vor. Das Problem liegt meist daran, dass Kaderangestellte in Führungsfragen zu wenig geschult sind.

Leistungsabhängige Lohnsteigerungen

Manche Handwerksbetriebe sind dazu übergegangen, ihren Angestellten am Freitagnachmittag freizugeben. Sie versprechen sich davon eine höhere Mitarbeitermotivation und mehr Anziehungskraft auf dem Arbeitsmarkt. Dieses Modell ist aber nicht überall praktikabel. Nicht jeder Betrieb kann es sich leisten, am Freitag die Kundschaft nur noch morgens zu bedienen.

Ein grosser Vorteil für Mitarbeiter mit handwerklichen Tätigkeiten jeglicher Art wären leistungs- und erfahrungsabhängige Gehaltssteigerungen. Dadurch bekämen auch tüchtige Handwerker die Chance, in der Lohnskala rasch aufzusteigen. Zugleich würde dadurch die stossende Ungleichbehandlung gegenüber Beschäftigten mit Hochschulabschluss, deren Gehälter heute noch vielerorts schneller zunehmen, beseitigt.

Auch für die Verschönerung zuständig

Handwerker leisten täglich einen unerlässlichen Beitrag dazu, dass die Infrastruktur in der Schweiz im privaten und im öffentlichen Bereich läuft. Sie tun dies meist mit einem hohen Qualitätsverständnis. Wer schaut nicht gerne einem Handwerker über die Schulter, der seine Arbeit mit Fingerfertigkeit und Stolz verrichtet? Wer erfreut sich nicht am Anblick eines liebevoll gepflegten Gartens oder kunstvoll renovierter Baudenkmäler? Und was wäre die Schweiz ohne hochwertige Lebensmittel und Uhren, für deren Herstellung auch handwerklich ausgebildete Personen verantwortlich zeichnen?

Es ist Zeit, dass Handwerkern nicht nur finanziell, sondern auch gesellschaftlich mehr Anerkennung zuteilwird. Akademiker und Bürolisten spielen in der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft eine zentrale Rolle, doch braucht die Schweiz nach wie vor auch Praktiker mit geschickten Händen.

Eine unerwartete Aufwertung könnten handwerkliche Berufe im Zuge des rasanten technologischen Wandels erfahren. Wer sich um sanitäre Anlagen kümmert, Böden verlegt oder in der Backstube steht, muss auf absehbare Zeit kaum damit rechnen, seinen Job wegen des zunehmenden Einsatzes künstlicher Intelligenz zu verlieren. Bei Büroangestellten, auch solchen mit akademischem Abschluss, sind die Unsicherheiten diesbezüglich viel grösser.

Kommentar von Dominik Feldges, «Neue Zürcher Zeitung» 

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