Das Auto als rollender Superspeicher Mit dem Kauf der Solarfirma Helion will VW-Importeur Amag die Energiewende vorantreiben.

Mit dem Kauf der Solarfirma Helion will VW-Importeur Amag die Energiewende vorantreiben.

Den Strom für die über 400 000 E-Autos, die Amag gemäss ihren Prognosen bis 2030 auf den Markt bringt, will die Firma selbst oder mit Partnern produzieren. Bild: unsplash

Manche Revolutionen kündigen sich mit einem Knall an, andere ereignen sich im Stillen. Manche Unternehmen steigen mit Pauken und Trompeten in neue Märkte ein, andere tun es einfach. Zur zweiten Kategorie zählt die vor kurzem bekanntgegebene Heirat zwischen dem grössten Schweizer Autohändler und dem grössten Solarinstallateur des Landes.

Eine ungewöhnliche Liaison. Hier die Amag, ein verschwiegenes Familienunternehmen, dessen Besitzer mit dem Verkauf von VW, Audi, Porsche und Seat zu einer der reichsten Dynastien des Landes wurden. Eine Firma auch, deren ökologischer Fussabdruck historisch so gross sein dürfte wie bei kaum einer anderen. Dort die Solothurner Solarbude Helion, die sich schon die Energiewende auf die Fahnen schrieb, als dies noch ein politisches Minderheitenprogramm war.

Will sich die 77-jährige Amag mit Helion eine grüne Frischzellenkur verpassen? Die Behauptung wäre eine Untertreibung. Eher geht es um eine Stammzellentherapie. Amag will bis 2040 klimaneutral sein – vom eigenen Betrieb über die verkauften Autos und deren Treibstoff bis hin zu den Zulieferern.

Solche Pläne verfolgen zwar die meisten Unternehmen, das Pariser Klimaabkommen lässt ihnen keine andere Wahl. Doch mit dem Kauf von Helion bekommt der Umbau bei der Amag eine andere Dimension. Der Autohändler steigt in den Strommarkt ein, wird selber zu einem Energieproduzenten.

Petrolheads in der Chefetage ausgewechselt

Dass Amag das Steuer derart radikal herumreisst, hat viel mit Besitzer Walter Haefner zu tun. Er ist zwar Mehrfachmilliardär, seinen Lebensunterhalt bestritt er aber lange als Mathematiklehrer, bevor er dann doch noch in die väterliche Firma einstieg. Haefner hält sich im Hintergrund, öffentliche Auftritte meidet er, doch bei Amag ist er weit mehr als nur der Verwalter des grossen Familienerbes.

Schon vor zehn Jahren beteiligte er sich privat am ETH-Spinoff Climeworks, das an Technologien arbeitet, um CO2 aus der Atmosphäre abzusaugen und zu speichern. Das war damals noch Science-Fiction. Seit fünf Jahren sitzt er bei Amag alleine am Steuer, lässt Nachhaltigkeitsberichte erstellen und ersetzt die Benzinfraktion in den Teppichetagen, die «Petrolheads», durch Gleichgesinnte.

Zu seinen wichtigsten Getreuen zählt Helmut Ruhl, der erst als Finanzchef zu Amag stiess und heute CEO ist. Der Süddeutsche brennt förmlich für seine Mission. «Meine Generation kann mehr leisten, als dreimal im Jahr nach Mallorca fliegen», lautet sein Credo. Die Industrie stehe an einem Wendepunkt.

Trotz allen Konferenzen und Absichtserklärungen ist die Energieversorgung weltweit heute noch immer zu 80% fossil. Der Autoverkehr gehört zu den grossen Emittenten. «Unsere Strategie ist super einfach», sagt Ruhl. «Die Mobilität der Zukunft wird zu 100% elektrisch, und der zusätzlich benötigte Strom wird zum Grossteil aus Solarstrom sein.»

 Garagen verkaufen Solarpanels

Mit Helion steigt Amag in die Solaranbauschlacht ein. Den Strom für die über 400 000 E-Autos, die Amag gemäss ihren Prognosen bis 2030 auf den Markt bringt, will die Firma selbst oder mit Partnern produzieren. «Dafür brauchen wir vor allem Dächer», sagt Ruhl. Die Amag-eigenen Gebäude, Privathäuser, Geschäftshäuser, Überbauungen – alles soll mit Solarpanels versehen werden. Firmen mit freien Flächen, aber ohne die nötigen flüssigen Mittel, greift die Leasing-Tochter der Amag mit einem Kredit unter die Arme. 100 Mio. Fr. liegen dafür bereit.

1,3 Terawattstunden Strom soll die Offensive bringen, immerhin 2% des heutigen Jahresbedarfs der Schweiz. «Das ist das Minimalziel», sagt Ruhl. «Damit die Energie auch für den Winter reicht, brauchen wir eine Reserve.» Auch am Bau von solaren Grosskraftwerken in den Alpen will sich Amag beteiligen, eben-so an Solaranlagen entlang der Autobahnen.

Damit die Sache ins Rollen kommt, werden in den grossen Autogaragen bald Energy-Desks stehen. Zusätzlich zum Auto können die Kunden dort gleich noch Solarpanels, Wärmepumpen, Ladestation und die nötigen Steuerungssysteme bestellen. «Genau deshalb wollten wir zur Amag», sagt Noah Heynen, CEO und Co-Gründer von Helion. «Mobilität und Gebäudetechnik wachsen zusammen, das ist ein weltweiter Trend.»

Bis anhin seien Solaranlagen vor allem eine Sache von Technik-Nerds gewesen, während die breite Bevölkerung in Wartestellung verharrte. Mit dem Schub der Amag hofft er auf einen Gesinnungswandel auf breiter Front. Solarpanels müssten so sexy und attraktiv wie Autos werden, hofft Heynen: «Wenn es eine Branche gibt, die diese Emotionalisierung von Technik beherrscht, dann die Automobilindustrie.»

Zum richtigen Power Couple werden die ungleichen Partner aber erst beim nächsten Schritt. Heynen spricht vom «Internet der Energie». In der Kombination haben Haus und Auto das Zeug, das Geburtsgebrechen der Solarenergie zu beheben: dass sie unregelmässig anfällt und die produzierte Strommenge oft dann am grössten ist, wenn der Verbrauch tief ist und umgekehrt. Um das zu beheben, braucht es Speicher – und diese rollen demnächst auf den Strassen herum.

«Die Batterien von E-Autos haben bald eine Reichweite von 700 Kilometern, im Alltag werden aber nur 35 Kilometer benötigt. Die Differenz ergibt einen gewaltigen Energiespeicher», sagt Heynen. Selbst wenn nur 5% der dereinst 4 Mio. E-Autos in der Schweiz als Überlaufgefäss für Solarstrom genutzt werden, entspricht dies der mehrfachen Leistung von Nant de Drance, dem grössten Pumpspeicherkraftwerk in den Alpen. «So können wir sogar mehrtägige Flauten im Winter überbrücken», sagt Heynen. «Zusammen mit dem Auto wird das Haus zu einer Superzelle.»

Zwei Hürden bleiben

Bis es so weit ist, gilt es noch ein paar Hürden zu überwinden, technische wie regulatorische. So müssen die Autobatterien und Ladestationen bidirektional werden – laden und entladen, beides müssen sie beherrschen. Das ist serienmässig heute erst bei Batterien von japanischen Herstellern der Fall. Der iD5 von VW wird im nächsten Jahr mit einer Batterie bestückt, die in beide Richtungen funktioniert, schon verkaufte Autos erhalten ein entsprechendes Softwareupdate.

«Zudem brauchen wir gleich lange Spiesse bei den Gebühren für die Netzdurchleitung», sagt Heynen. Pumpspeicherkraftwerke zahlen heute keine Gebühren, sollen die Autobatterien eine Chance haben, müssen sie ebenfalls davon befreit werden.

Sauberer Strom im Überfluss, ausreichend Speicher, intelligente Netze: Die Schweiz hat die Energiewende geschafft – wieder einmal, denn an kühnen Plänen herrschte schon in der Vergangenheit kein Mangel. Das Problem waren die Umsetzung und die Finanzierung. «Wenn man die Diskussion in den letzten Jahren verfolgte, biss man in den Tisch», sagt Ruhl – und gesteht freimütig: «Bis jetzt haben auch wir nur Papier produziert.» Diesmal soll es nicht dabei bleiben. Helion bringt das Fachwissen mit, Amag die Finanz- und Vertriebsstärke, um die Vision auf den Boden und die Dächer zu bringen.

Doch Ruhls beste Marketingkraft sitzt nicht in der Firmenzentrale in Cham, sondern in Moskau. Mit seinem Krieg hat Putin die Schweizer Politik aus der Lethargie gerissen. In den Tisch beissen muss heute niemand mehr, der etwas verändern will. «Wir müssen bauen, bauen, bauen», sagt Ruhl. «Wo sind die freien Dächer?» Sie könnten ihm schon bald zufliegen.

Guido Schätti, «NZZ am Sonntag»

Das könnte Sie auch interessieren: