Die EU reguliere sich bei der künstlichen Intelligenz ins Abseits, kritisieren europäische Unternehmen Airbus, Siemens, Blablacar, TUI und Dr. Oetker: Unternehmensvertreter warnen davor, dass die geplanten Regeln für künstliche Intelligenz die Innovation in Europa ersticken.

Airbus, Siemens, Blablacar, TUI und Dr. Oetker: Unternehmensvertreter warnen davor, dass die geplanten Regeln für künstliche Intelligenz die Innovation in Europa ersticken.

Jeannette zu Fürstenberg investiert mit ihrem Fonds La Famiglia in Startups. Bild: PD

Zehn Tage hat es gedauert von der Idee bis zur Veröffentlichung des offenen Briefs, in dem deutsche und französische Industrievertreter den Ansatz der EU in Sachen Regulierung von künstlicher Intelligenz (KI) kritisieren. Der jetzige Gesetzesentwurf gefährde die Wettbewerbsfähigkeit und technologische Souveränität Europas, heisst es im Eingangsstatement.

Lanciert hat den Brief die Startup-Investorin Jeannette zu Fürstenberg, gemeinsam mit René Obermann, dem Verwaltungsratspräsidenten von Airbus, und dem ehemaligen französischen Staatssekretär für Digitales, Cédric O.

Die Liste der Unterzeichner ist bunt gemischt: Blablacar, Renault und Dr. Oetker sind ebenso vertreten wie TUI und Siemens. Auch die Namen zahlreicher weniger bekannter Firmen stehen darauf, wenig überraschend vorwiegend aus Branchen, die von KI besonders betroffen sind.

Die Industrie fürchtet, abgehängt zu werden

Die Sorgen in der Wirtschaft seien gross, sagt die Mit-Initiatorin zu Fürstenberg: «Nicht nur Startups, sondern auch Mittelständler und Konzerne, alle sehen grosses Potenzial in den Innovationen, die durch künstliche Intelligenz möglich werden. Wir sind uns einig: Es wäre fatal, diese Entwicklung durch Überregulierung im Keim zu ersticken.»

Als konkretes Beispiel für die auch in Europa existierende Dynamik in diesem Bereich nennt sie das Startup Mistral AI. Das französische Unternehmen hat vor zwei Wochen bei seiner ersten Finanzierungsrunde über 105 Millionen Euro Risikokapital eingesammelt, ein Rekord in Europa.

Gründer sind ehemalige Angestellte der Google-Tochter Deepmind und von Meta, ehemals Facebook, die für diese Firmen Sprach-KI ähnlich derjenigen von Chat-GPT entwickelt haben. Diese Referenzen und die Grundidee einer Sprach-KI, die sich an europäischen Werten und Regeln wie Datenschutz orientiert, reichten für den enormen Erfolg aus.

Denn darüber hinaus hat das Unternehmen noch wenig vorzuweisen – bei der Finanzierungsrunde war es erst vier Wochen alt. Das Beispiel zeigt: KI-Firmen in Europa sind rar, und die Risikokapitalgeber stürzen sich auf sie. Die Angst ist unter Investoren offenbar gross, dass die EU technologisch hinter den Vereinigten Staaten und China zurückbleibt und dass diese Dynamik durch Überregulierung aus Brüssel im Keim erstickt werden könnte.

Zu Fürstenberg sagt: «Es ist eine einmalige Chance, dass so starke Talente wie die Mistral-Gründer grosse amerikanische Technologieunternehmen verlassen, um KI auf Basis europäischer Werte zu entwickeln. Wenn sie in der EU mit überbordender Regulierung konfrontiert sind, werden wir sie sehr schnell wieder verlieren.» Auch die Gründer von Mistral haben den Brief unterzeichnet.

Programme wie Chat-GPT machen Regulierung komplizierter

Der offene Brief hebt einen Aspekt der geplanten Gesetzgebung besonders hervor: den Umgang mit generativer künstlicher Intelligenz wie Chat-GPT.

Diese Sorte von KI war im Entwurf der EU-Kommission im April 2021 noch gar nicht berücksichtigt. Chat-GPT zum Beispiel wurde erst Ende des vergangenen Jahres lanciert.

Das Gremium um Präsidentin Ursula von der Leyen schlug vielmehr Regeln vor, die auf das Risikoprofil von KI-Anwendungen abgestimmt waren. Einzelne Produkte, wie die Massenüberwachung dank automatischer Gesichtserkennung in Echtzeit, sollen verboten werden.

Anwendungen mit hohem Risiko sollen strenge Sicherheitsvorschriften erfüllen, zu denken ist etwa an Roboter im Operationssaal. Und Dinge, von denen wenig Gefahren ausgehen, sollen nur geringe Vorgaben zu erfüllen haben. Ein Beispiel dafür wäre etwa ein selbstlernender autonomer Rasenmäher.

Chat-GPT zeigte dann aber Grenzen dieses Ansatzes auf. Die sprachbasierte Technologie solcher Chatbots ist allgemeiner Natur. Sie lässt sich in viele Produkte einbauen. Man kann damit Film-Untertitel verbessern, Barbies zum Sprechen bringen oder eine Notrufzentrale betreiben. Das Risiko hängt also stark vom Anwendungsfall ab.

In Brüssel erweiterte das EU-Parlament deshalb den Vorschlag der Kommission um ein Kapitel zu generativer KI. Die Abgeordneten zielen dabei stark auf die Hersteller der allgemeinen Modelle ab. Das sind Unternehmen wie Open-AI aus den USA oder eben Mistral AI. Weniger im Fokus stehen die Unternehmen, die daraus konkrete Produkte machen, und die Endnutzer.

Das kritisieren Experten wie Sandra Wachter, Professorin für Technologie und Regulierung in Oxford, die den Plänen der EU grundsätzlich positiv gegenübersteht.

Sie vergleicht die Lieferkette der künstlichen Intelligenz mit der Produktion einer Vase. Die Tonproduzenten müssten sicherstellen, dass das Material nicht giftig sei, die Vasenmacher, dass die Qualität stimme. Wenn aber der Nutzer die Vase jemandem an den Kopf werfe, dann müsse dieser haften. Die AI-Act schaue sich mehr den Tonverkäufer an und lasse die anderen beiden aussen vor, sagt Wachter.

Der offene Brief spricht das Problem aus Sicht der Wirtschaft an: Diejenigen Unternehmen, die Grundlagen-KI entwickelten oder implementierten, würden mit zu hohen Kosten für die Einhaltung der Gesetze und mit unverhältnismässigen Haftungsrisiken konfrontiert.

Das betreffe nicht nur Startups, sagt zu Fürstenberg. Telekom-Unternehmen, die sehr viel Geld für Mitarbeiter im Kundenservice ausgeben, könnten dank KI sehr viel effizienter arbeiten. «Wenn EU-Regeln das unmöglich machen, dann haben auch solche etablierten Unternehmen sehr bald keine Chance mehr, gegen die Konkurrenz aus dem Ausland zu bestehen.»

Flexible Expertenkommission vorgeschlagen

Die Unterzeichner des Briefs betonen zugleich, dass ihr Schreiben nicht als Kritik an KI-Regulierung generell interpretiert werden sollte. Es sei «unabdingbar», KI-Modelle «ordnungsgemäss zu trainieren und ihre sichere Nutzung zu gewährleisten». Sie sprechen sich aber dafür aus, dass die EU vorsichtig vorgeht und sich mit den USA abstimmt.

Um eine transatlantische Abstimmung ist Brüssel durchaus bemüht. Sie ist mit der demokratischen Regierung von Präsident Joe Biden auch durchaus in Reichweite. Die Kommission und Washington tauschen sich im Rahmen eines Handels- und Technologie-Rates regelmässig dazu aus. Zuletzt traf man sich Ende Mai im schwedischen Lulea.

Statt des jetzigen Ansatzes, den sie für bürokratisch und ineffizient halten, schlagen die Unterzeichner vor, dass die EU nur allgemeine Grundsätze vorgebe. Eine spezielle Regulierungsinstanz aus Experten, inklusive Wirtschaftsvertretern, solle diese Grundsätze dann nach und nach umsetzen.

Zu Fürstenberg sagt: «Wenn die EU jetzt reguliert, was in wenigen Jahren gelten soll, erstickt sie manche Dinge vielleicht im Keim – und grenzt zugleich Risiken aus, die im Moment noch gar nicht absehbar sind.»

Die Kommission in Brüssel wird sich zu dem geplanten KI-Gesetz noch einiges anhören müssen. Auch die grossen Firmen, welche derzeit Anwendungen wie Chat-GPT bauen, wollen ein Wörtchen mitreden. EU-Kommissar Thierry Breton befand sich dazu jüngst im Silicon Valley. Und Branchengrössen wie Google-Geschäftsführer Sundar Pichai, Open-AI-Chef Sam Altman sowie Mark Zuckerberg reisten ihrerseits jüngst nach Brüssel, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.

Und damit sind sie noch nicht zu spät. Denn derzeit laufen die Trilog-Verhandlungen, in denen Mitgliedstaaten, Kommission und Parlament einen Kompromiss zwischen dem ursprünglichen Entwurf und den Änderungsanträgen beider Häuser suchen. Dabei kann der Text noch angepasst werden. Das Ziel ist, bis Ende 2023 eine Lösung zu finden.

Ruth Fulterer, Christoph G. Schmutz, Brüssel, «Neue Zürcher Zeitung»

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