Die Schweiz droht in der Pharmaforschung nach hinten verdrängt zu werden Pharmafirmen geben in der Schweiz Milliarden für Forschung und Entwicklung aus. Wenn es um spezielle Patente mit digitalen Elementen geht, ist die Schweiz aber bedenklich ins Hintertreffen geraten. Sorge bereitet Branchenbeobachtern auch das Abseitsstehen beim Forschungsprogramm «Horizon Europe».

Pharmafirmen geben in der Schweiz Milliarden für Forschung und Entwicklung aus. Wenn es um spezielle Patente mit digitalen Elementen geht, ist die Schweiz aber bedenklich ins Hintertreffen geraten. Sorge bereitet Branchenbeobachtern auch das Abseitsstehen beim Forschungsprogramm «Horizon Europe».

Der Campus Biopôle in Epalinges bei Lausanne hat sich zu einem zentralen Standort im Bereich der Schweizer Pharmaforschung entwickelt. Bild: Karin Hofer

Die Schweiz zählt zu den weltbesten Standorten in der Pharmabranche. Im vergangenen Jahr reichte es erneut für Platz zwei im Ranking, das das Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut BAK Economics jährlich im Auftrag des Industrieverbands Sciences Industries Switzerland erstellt. Die Spitzenposition hielten die USA, während Irland, Schweden, Dänemark und die Niederlande die nächsten Plätze hinter der Schweiz belegten.

Von Schweden überholt

Die Schweizer Pharmaindustrie verdankt ihre starke Position vor allem einem beeindruckenden Wachstum der Wertschöpfung und der Produktivität. Es suchte laut den Marktforschern in den vergangenen fünf Jahren weltweit seinesgleichen. In Sachen Standortqualität, einem weiteren Kriterium bei der Bewertung, wurde die Schweiz nur von Singapur übertroffen.

Bei der Marktstellung sowie bei der Innovation und Technologieführerschaft rangierte die Schweiz jüngst nur noch auf dem vierten statt wie im Vorjahr auf dem dritten Platz. An ihr vorbei zog China bzw. Schweden.

Marktbeobachter werten vor allem den Leistungsabfall bei der Innovation und der Technologieführerschaft als problematisch. Zwar kann die Schweizer Pharmaindustrie bei der Gesamthöhe der Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie dem Personalbestand in diesem Bereich und der Anzahl international herausragender Patente (Weltklassepatente) noch immer mit den besten Ländern mithalten. Bedenklich ins Hintertreffen geraten ist sie hingegen bei Erfindungen, die Elemente der Digitalisierung beinhalten.

Die Digitalisierung hält auch in der Pharmaforschung immer stärker Einzug und dürfte in Zukunft noch matchentscheidender sein, wenn es darum geht, neue innovative Behandlungsmethoden auf den Markt zu bringen. Laut BAK Economics ist die Schweiz bei der digitalen Durchdringung auf Platz 19 und damit nur noch unter «ferner liefen» klassiert.

Vorbild USA

Der Grund für das dürftige Abschneiden liegt nicht nur darin, dass Patente, die aus der Schweiz angemeldet werden, zu wenige digitale Elemente enthalten. Im gesamten Schweizer Gesundheitssektor erzielt die Digitalisierung mangelhafte Fortschritte. So gibt es beispielsweise auf breiter Ebene noch immer kein elektronisches Patientendossier. Manche Ärzte führen die Krankengeschichten ihrer Patienten weiterhin in Papierform, und wo medizinische Daten elektronisch vorhanden sind, stecken sie oft in Silos einzelner Spitäler oder Praxen.

Weil eine einheitliche Erfassung fehlt, können hierzulande auch kaum grosse Datenbestände ausgewertet werden. Dies ist indes, was Forscher auch im Pharmasektor zunehmend suchen. Viel weiter sind bei der digitalen Durchdringung die USA, denen BAK Economics attestiert, «gegenwärtig das Mass aller Dinge» zu sein.

Auf längere Sicht hängt der Erfolg jedes Pharmaunternehmens von Forschung und Entwicklung ab. Wer nicht genügend Neuheiten hervorbringt, riskiert, von innovativeren Konkurrenten überflügelt zu werden.

Noch profitiert die Schweizer Pharmaindustrie dank ihrer breiten Aufstellung von hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Laut dem Branchenverband Interpharma lassen sich die führenden Medikamentenhersteller ihre Innovationstätigkeit pro Jahr hierzulande fast 9 Milliarden Franken kosten. Dem steht ein Umsatz von lediglich 4,7 Milliarden Franken dieser Firmen in der Schweiz gegenüber.

Die meisten Forscher sind Ausländer

Insgesamt beschäftigt die hiesige Pharmabranche über 46 000 Personen. Ungefähr jeder sechste Angestellte arbeitet in der Forschung und Entwicklung. Und nur eine Minderheit der Beschäftigten in den Forschungsabteilungen besitzt den Schweizer Pass. Laut dem Bundesamt für Statistik waren es 2019 lediglich 30 Prozent.

Damit ist auch gesagt, dass für das Gedeihen der Pharmaforschung in der Schweiz der Zugang zu ausländischen Arbeitsmärkten ein weiterer Schlüsselfaktor ist. Würde die Schweiz die Personenfreizügigkeit mit der EU verlieren, wäre dies fatal, darin ist man sich in der Branche weitgehend einig. Vertreter des Pharmasektors fordern denn auch besonders lautstark, dass die Schweiz ihre Beziehungen mit Europa auf eine langfristig tragfähige Basis stellt.

EU fördert auch Startups

Auf grosse Besorgnis stösst in der Branche der Ausschluss der Schweiz aus dem EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe». Dieses Programm ist mit fast 100 Milliarden Euro dotiert und läuft von 2021 bis 2027. Im Rahmen des Vorläufers, «Horizon 2020», bei dem die Schweiz noch beteiligt war, flossen 3 Milliarden Franken an Forschungsgeldern in Schweizer Projekte. Zu den grössten Nutzniessern zählte der Pharmasektor. So brachte es allein die Firma Novartis auf 57 Projektbeteiligungen, Roche auf 40. Ausserdem wurden mehrere Dutzend Startups aus der Schweiz gefördert.

Viele Branchenvertreter befürchten, dass Spitzenforscher künftig lieber in Ländern, die bei «Horizon Europe» beteiligt sind, arbeiten gehen, als hierzulande ein Stellenangebot anzunehmen. «Wenn die besten Forscherinnen und Forscher nicht mehr in die Schweiz kommen, schwächt dies den gesamten Forschungs-Cluster Schweiz», folgern die Studienautoren von BAK Economics.

Pharma und Forschung: Ist die Zukunft in Gefahr?

Einige der grössten Pharmaunternehmen haben ihren Sitz in der Schweiz – trotzdem nimmt die Attraktivität des Forschungsstandortes stetig ab, da sich die Rahmenbedingungen zunehmend verschlechtern.
NZZ-Live-Veranstaltung: Mittwoch, 26. April 2023, 18.30 Uhr, NZZ-Foyer, Zürich, und online. Tickets und weitere Informationen finden Sie hier.

Dominik Feldges, «Neue Zürcher Zeitung»

 

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