Die Wirtschaft hat die Konzernverantwortungsinitiative abgewendet, aber jetzt tritt der Gegenvorschlag in Kraft: viele Firmen sind nicht bereit dafür Über 200 Schweizer Firmen, aber auch öffentliche Spitäler oder Stromversorger müssen ab 2023 berichten, wie sie mit ihren Arbeitnehmern umgehen und Korruption bekämpfen. Anwälte warnen: Verwaltungsräte, welche die Pflicht ignorieren, könnten vor dem Strafrichter landen.

Über 200 Schweizer Firmen, aber auch öffentliche Spitäler oder Stromversorger müssen ab 2023 berichten, wie sie mit ihren Arbeitnehmern umgehen und Korruption bekämpfen. Anwälte warnen: Verwaltungsräte, welche die Pflicht ignorieren, könnten vor dem Strafrichter landen.

 

Grössere Schweizer Unternehmen müssen künftig Bericht ablegen über Risiken etwa in Bezug auf Umweltschutz und Korruption, die aus ihrer Tätigkeit erwachsen. Bild: pixabay

Noch einmal davongekommen! Das dachten sich viele Wirtschaftsvertreter, als die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) am 27. November 2020 hauchdünn an der Urne scheiterte. Die Mehrheit der Bevölkerung war zwar für das radikale Vorhaben, die Stände aber dagegen.

Bald werden die Berichte fällig

Doch die Firmen errangen nur einen Pyrrhussieg – jedenfalls jene, die sich nicht mit dem indirekten Gegenvorschlag zur KVI auseinandersetzten. Das Parlament hatte ihn im Juni 2020 verabschiedet, um der Initiative den Stachel zu ziehen. Die Übung gelang, die KVI scheiterte.

Doch auch dieser Gegenvorschlag hat es in sich. Einerseits treten schärfere Sorgfaltspflichten bezüglich Kinderarbeit und Konfliktmineralien in Kraft. Diese Pflichten gelten aber nur für besonders anfällige Firmen und Branchen. Andererseits müssen künftig alle grösseren Unternehmen jährlich in einem Bericht darlegen, wie sie sich in den Bereichen Umwelt, Soziales, Arbeitnehmerrechte, Korruption und Menschenrechte verhalten. Sie müssen aufzeigen, was sie gegen Risiken tun und wie sie den Erfolg ihrer Massnahmen messen. Das Gesetz trat 2022 in Kraft und wird 2023 scharf gestellt. Das heisst: 2024 muss der erste nichtfinanzielle Bericht fürs Jahr 2023 veröffentlicht werden.

Von Anwälten hört man jedoch, dass viele Firmen nicht bereit sind. «Es gibt zahlreiche Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen, die gar nicht wissen, dass ihr Unternehmen der Pflicht unterstellt ist», sagt Daniel Lucien Bühr, Partner bei der Anwaltskanzlei Lalive. Das sei problematisch, denn die Firmen brauchten grossen Vorlauf, um die Berichte korrekt zu verfassen.

Es reiche nicht, einfach allgemeine, unverbindliche und vermeintlich nicht angreifbare Berichte zu verfassen, sagt Bühr. Zunächst müssten die grossen Schweizer Firmen festlegen, welche Konzepte oder allgemein anerkannten Standards sie in jedem der fünf Bereiche verfolgen; in Bezug auf die Arbeitnehmerbelange wären das beispielsweise die Kernkonventionen der internationalen Arbeitsorganisation ILO. Dann gilt es darzustellen, wie man die Standards wirksam umsetzt, ebenso die wesentlichen Risiken und wie man diese handhabt. Faktisch braucht es gemäss Bühr für alle nichtfinanziellen Belange moderne Managementsysteme. Für ein Unternehmen, das in zahlreichen Schwellenländern produziert, ist das keine einfache Aufgabe.

Für all diese Schritte muss man aktuelle und relevante Daten zusammentragen. Wer erst jetzt beginne, sei eigentlich schon zu spät, gibt Bühr zu bedenken. Allein eine Erhebung der wesentlichen Korruptionsrisiken könne bei einem international tätigen Unternehmen drei bis vier Monate in Anspruch nehmen. Daran schliesst die «Handhabung» dieser Risiken an, die ihrerseits Monate dauern kann.

Das heisst: Unternehmen, die sich noch nicht um ihre nichtfinanziellen Belange gekümmert haben, läuft die Zeit davon. Laut Bühr ist der 1. Januar 2023 der entscheidende Stichtag. Ab diesem Datum müssen Firmen alle «Leichen im Keller», also alle nicht bewältigten Risiken, im Bericht aufführen. Sie sollten die Probleme also sinnvollerweise bis Ende 2022, allerspätestens bis Ende 2023 bereinigt haben.

Wer im Bericht lügt oder wissentlich Probleme verschweigt, handelt sich nämlich Probleme ein. Das gilt sowohl für die Firma selbst, die gebüsst werden kann, als auch für die Mitglieder des Verwaltungsrats. «Früher waren diese Berichte eine Art Kür», sagt Martin Eckert, Rechtsanwalt und Partner bei der Kanzlei MME. Jetzt sei das Thema im Kern des Rechts angekommen und sei entsprechend Pflicht: «Vorsätzlich falsche Berichterstattung hat strafrechtliche Konsequenzen, auch für die Verwaltungsräte. Das gibt dem Thema einen ganz anderen Stellenwert.»

Hinzu kommt der drohende Reputationsschaden. Es gibt keine offizielle Stelle, welche die Berichte abnimmt und auf ihre Korrektheit prüft. Aber sowohl Medien, NGO oder Anlagespezialisten, die ihren Kunden Impact Investing anbieten, werden die publizierten Statements genau unter die Lupe nehmen. Erstere werden diejenigen Firmen an den Pranger stellen, die ihre Berichte schönfärben. Letztere werden ihre Gelder abziehen.

Wer schuldhaft die Berichterstattung unterlässt beziehungsweise falsche Angaben macht, begeht ein Offizialdelikt. Dies treffe direkt die Verwaltungsräte, führt Daniel Bühr aus. Wenn etwa Nachrichtenagenturen wie Reuters oder Bloomberg berichteten, dass ein Unternehmen relevante Informationen im Bericht nicht offengelegt habe, müsste die Staatsanwaltschaft unter Umständen eine Voruntersuchung einleiten. «Investoren wie amerikanische Pensionsfonds oder NGO werden geneigt sein, Strafanzeigen einzureichen, um die Verwaltungsräte zur Verantwortung zu ziehen.»

Die Grossen sind im Vorteil

Von vielen befragten Unternehmen sind zum Thema eher schwammige Antworten zu vernehmen; nebst Energiekrise und drohender Rezession dürfte der nichtfinanzielle Bericht vielerorts nicht zuoberst auf der Agenda stehen.

Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass die grossen Firmen eher bereit sein werden als die mittelgrossen. Sie stehen schon seit Jahren im Blick der Öffentlichkeit und verfassen meist bereits solche nichtfinanziellen Berichte. Sie wissen, wie und wo sie die relevanten Daten zu erheben haben, und müssen diese bloss noch in die richtige Form bringen. Die mittelgrossen Firmen, die mit nur kleinen Stabsstellen operieren, haben es schwerer.

Die neue Berichterstattungspflicht wirkt sich auch auf zahlreiche KMU aus, die von Gesetzes wegen gar nicht davon betroffen wären. «Damit das Bild stimmt, das die Unternehmen im Bericht zeichnen, müssen sie ihre wichtigsten Partner und Lieferanten einbeziehen, wenn von dort her Risiken drohen», sagt Eckert. Sie gäben die Pflicht, korrekte Daten zu erheben, also in der Lieferkette weiter. Auch der Industrieverband Swissmem bestätigt auf Anfrage, dass kleine Firmen vor genau dieser Herausforderung stehen.

Der Swissmem-Sprecher Ivo Zimmermann sagt, dass noch nicht alle Mitglieder bereit seien. Die Berichterstattungspflicht ziehe mancherorts gerade in der Startphase viele Kräfte auf sich: «Der Aufwand ist unterschiedlich und hängt sehr stark von der Struktur des Unternehmens und bereits vorhandenen Managementsystemen und Prozessen ab.» Besonders aufwendig seien vermutlich das Lieferketten-Managementsystem und das System zur Rückverfolgbarkeit. Swissmem bietet den Mitgliedern zur Unterstützung Webinare etwa zur Umweltberichterstattung an. Gefordert sind aber letztlich die Firmen selbst.

Wen trifft es?

Die Crux am neuen Gesetzespassus ist, dass er eben nicht nur die Unternehmen betrifft, die man landläufig als «Konzerne» versteht. Das Obligationenrecht verweist auf andere Gesetze, um zu bestimmen, wer die Berichtspflicht erfüllen muss. Grundsätzlich trifft es Publikumsgesellschaften, die 500 Mitarbeiter beschäftigen sowie 20 Millionen Franken Bilanzsumme oder 40 Millionen Franken Umsatz pro Jahr aufweisen. Tochterfirmen werden in dieses Total eingerechnet.

Gemäss Bühr müssen grössere Kapitalgesellschaften, Genossenschaften, Staatsunternehmen und öffentliche Anstalten berichten, sofern sie am Kapitalmarkt Geld aufnehmen und damit Gesellschaften öffentlichen Interesses sind. Dazu gehören gewisse Kantonsspitäler und städtische Energieversorger, aber auch Regionalbahnen oder Detailhändler. Nach Informationen von Lalive dürften rund 60 Finanzdienstleister, 130 börsenkotierte Unternehmen aus anderen Branchen sowie rund 35 Emittenten von Anleihen von der Berichterstattungspflicht betroffen sein.

Eine Führungsaufgabe

Bühr sagt, dass sich die weltweiten Managementsysteme zum Umgang mit Arbeitnehmerrechten, Korruption oder Umweltthemen inklusive Klimaziele nicht innert Tagen aus dem Boden stampfen liessen. «Es braucht gute Governance, wirksame Prozesse, kompetentes Personal und ein adäquates Budget.» Es handle sich daher um eine strategische Führungsaufgabe. Auch deshalb müsse der Verwaltungsrat die Verantwortung übernehmen.

Auch Martin Eckert empfiehlt, dass sich das höhere Management selbst mit der Berichterstattungspflicht befasse, denn: «Die Verantwortlichen für den Bericht müssen im ganzen Unternehmen tief graben können.» Die Informationen selbst stammen dann aus den einzelnen Teilbereichen der Firma; die Personalabteilung kann etwa Antworten zu sozialen Belangen und Arbeitnehmerrechten zusammentragen.

Wie gross der Aufwand für die nichtfinanziellen Berichte tatsächlich ausfällt, lässt sich nicht pauschal vorhersagen. Prüfgesellschaften und Anwaltskanzleien haben sich die Expertise aufgebaut und sind natürlich interessiert daran, den Unternehmen ihre Dienstleistungen anzubieten. Ivo Zimmermann sagt, dass externe Berater vor allem in der Startphase beigezogen würden, mahnt aber auch etwas Zurückhaltung an. «Viele Angebote sind zu teuer oder zu detailliert. Meist braucht es kein teures externes Tool.»

Spezialfall Schweiz

Allerdings erwarten alle Experten, dass der Aufwand deutlich abnimmt, sobald die Firmen die Basis geschaffen und ihre neuen Prozesse einmal aufgesetzt haben. Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das die Schraube bei der Unternehmensverantwortung und den Sorgfaltspflichten anzieht. Bühr verweist auf Entwicklungen in Deutschland (Lieferkettengesetz), Frankreich (Loi de vigilance) oder Grossbritannien (Modern Slavery Act). Auch die EU verlangt bereits jetzt von Firmen nichtfinanzielle Berichte zu gewissen Themen; und hat im Februar 2022 den Vorschlag zu einer Richtlinie über die Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen veröffentlicht. Das neue Schweizer Recht sollte an die europäischen Anforderungen angeglichen werden, damit die Schweizer Unternehmen keinen doppelten Aufwand betreiben müssen.

Auch global zeigt der Trend in eine ähnliche Richtung. Insofern leisten multinational tätige Schweizer Firmen mit ihren nichtfinanziellen Berichten jetzt bereits die Vorarbeit, die ihnen später in anderen Ländern zugutekommen wird.

André Müller, «Neue Zürcher Zeitung»

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