Herzrasen, Schweissausbrüche, akute Übelkeit – Virtual Reality ist ein mächtiges Medium Apple, Meta und andere Tech-Riesen drängen mit neuen Headsets in virtuelle Welten vor. Wer erleben will, was die Technologie leisten kann, muss das Virtual-Reality-Lab der Universität Stanford besuchen.

Apple, Meta und andere Tech-Riesen drängen mit neuen Headsets in virtuelle Welten vor. Wer erleben will, was die Technologie leisten kann, muss das Virtual-Reality-Lab der Universität Stanford besuchen.

 

Virtual-Reality-Headsets sind unter Konsumenten nach wie vor ein Nischenprodukt, doch immer mehr Firmen nutzen die Technologie für Mitarbeiterschulungen. Bild: unsplash

«Knie dich hin», schreit mich der Polizeibeamte an, «knie dich verdammt noch mal hin!» Ich hebe meine Hände in die Luft, als ich mich – langsam, ein Bein nach dem anderen – auf den Boden knie. Um mich herum sehe ich New York City, neben mir meinen Kumpel mit einem Basketball unterm Arm, vor mir zwei Polizeibeamte mit gezückter Waffe. Der Anblick der Revolver lässt mein Herz schneller schlagen.

Tatsächlich knie ich gerade in einer Art Tonstudio der Universität Stanford, unter mir ist Parkettboden, um mich herum eine Handvoll anderer Besucher – und auf meinem Kopf ein Virtual-Reality-Headset. Mein Kopf weiss die ganze Zeit, dass das hier eine Computersimulation ist – aber wenn mein virtuelles Ich an sich herunterschaut, sehen meine Augen den Körper eines afroamerikanischen Jungen. Das und der Blick in den Waffenlauf lassen das Erlebte verdammt real wirken.

Wie wirken sich Erlebnisse in der virtuellen Welt auf unser Verhalten aus?

Genau das ist der Effekt, auf den die Wissenschafter abzielen. Das Virtual Human Interaction Lab der Universität Stanford gilt vielen als die weltweit führende Forschungseinrichtung für Virtual Reality. Seit 2003 untersucht dort der bekannte VR-Experte und Soziologe Jeremy Bailenson – schulterlanges Haar, trockener Humor –, wie sich Simulationen in einer virtuellen Welt auf unser Verhalten auswirken.

Jeremy Bailenson. Bild: PD

Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man die Mengen an Technologie in dem Vorführungsraum: In der Decke eingebaute Kameras erfassen die Kopf- und Körperbewegungen der herumlaufenden Testperson und füttern die Informationen an die Headsets. Der gesamte Raum steht auf einer Stahlplatte, die bei Simulationen vibrieren kann. Zwei Dutzend Lautsprecher schaffen ein plastisches Audioerlebnis.

In einem Schrank stapeln sich Dutzende Headsets verschiedener Marken, die teilweise bis zu 100 000 Dollar kosteten. Künftig will Bailenson auch Gerüche in die Simulationen einbauen: Wenn Sportler etwa in der virtuellen Welt ein frisch gemähtes Fussballfeld betreten, soll eine am Headset angebrachte Pumpe den Geruch von Gras verströmen.

Seit der Gründung des Lab sind mehr als 15 000 Unternehmensvertreter, Wissenschafter, Politiker und Journalisten hierhergekommen, um Virtual Reality in höchster Qualität am eigenen Leib zu erfahren. Auch der Meta-Gründer Mark Zuckerberg suchte das Stanford-Labor 2014 auf, als er erwog, ein Startup namens Oculus zu kaufen, das Virtual-Reality-Headsets entwickelte. Bailenson schickte ihn auf «die Planke», wie sie es hier nennen: ein virtuelles Holzbrett, gefühlt 10 Meter über dem Boden hängend, das Zuckerberg entlangbalancieren musste.

«Es ist eine unserer beeindruckendsten Simulationen, um dieses mächtige Gefühl der Präsenz zu spüren, das VR so enorm gut vermitteln kann.» Beim Anblick der virtuellen Holzplanke, so beschreibt es Bailenson in seinem Buch «Experience on Demand», seien Zuckerberg die Beine leicht eingeknickt, «okay, das ist ziemlich beängstigend», rief der Meta-Gründer spontan. Wenige Tage später kaufte er Oculus für 2 Milliarden Dollar.

Der Durchbruch im Konsumentenmarkt steht noch aus

In den Jahren seit der Lab-Gründung hat sich Virtual Reality zunehmend von einer Nischentechnologie zu einem der führenden Trends der Gegenwart gemausert. Vor allem Unternehmen entdecken die Möglichkeiten zunehmend für sich: Das Finanzhaus Bank of America nutzt heute VR, um 50 000 Mitarbeiter in Kundengesprächen zu schulen. Der Telekommunikationskonzern Verizon zeigt seinen Technikern auf diese Weise, wie man Glasfaserkabel in luftiger Höhe installiert. Walmart, mit mehr als 2 Millionen Angestellten der grösste Arbeitgeber der USA, bereitet seine Verkäufer in der virtuellen Welt auf Stresssituationen beim riesigen Kundenansturm um Mitternacht am Blick Friday vor. Football-Teams wie die New England Patriots üben in der virtuellen Welt knifflige Spielsituationen, und Feuerwehrleute in Wisconsin trainieren ihre Einsätze.

 

Bildschirmfoto einer Virtual-Reality-Demonstration für Football-Spieler. Bild: VHIL

Der Konsumentenmarkt steckt vergleichsweise noch in den Kinderschuhen; bis heute sind virtuelle Welten vor allem unter Computerspiele-Fans und Fitnessfreunden beliebt.

Doch das könnte sich bald ändern. Neben Google, Samsung, Meta und der Tiktok-Mutter Bytedance drängt nun Apple in den VR-Markt vor. Vor wenigen Tagen stellte die weltgrösste Technologiefirma ihr Vision-Pro-Headset vor, das 2024 auf den Markt kommt. Wie schon bei Musikspielern, Smartphones und Tablet-Computern könnte Apples Markteintritt dazu führen, dass virtuelle Welten bald massentauglich werden, glauben Beobachter.

Im Labor gilt die 30-Minuten-Regel

Bailenson ist allerdings skeptisch, dass der Durchschnittskonsument die virtuelle Welt so schnell annehmen wird, wie Apple sich das vorstellt. «Wir pflegen einen Scherz unter VR-Forschern: Seit 20 Jahren sagen wir jedes Jahr, dass Virtual Reality ganz kurz davor sei, in jedermanns Wohnzimmer einzuziehen.» Vielmehr beobachte er, dass die Nachfrage nach VR-Headsets sehr langsam, aber stetig wachse. Habe Apple nun, denkt Bailenson laut nach, die magische Formel gefunden, dank der jeder plötzlich täglich virtuelle Welten aufsuchen will? Er beantwortet die Frage selbst: «Ich wäre wirklich verblüfft, wenn dem so wäre.»

Bailenson ist überzeugt, dass sich VR auch gar nicht dafür anbietet. In seinem Labor gilt die 30-Minuten-Regel: Nach einer halben Stunde muss man das Headset absetzen, einen Schluck trinken und eine Pause in der realen Welt machen. «Im Laufe der Zeit ermüden die Wahrnehmungsorgane, weil die virtuelle Welt schlichtweg anders ist.» Vielen Nutzern wird auch schlecht – ähnlich wie ihnen rückwärtsfahrend im Zug schlecht wird. Für akute Fälle steht im Labor ein Eimer in der Ecke.

Die Stärke der VR-Technologie liegt gemäss Bailenson darin, aussergewöhnliche Erlebnisse zu bieten – also solche, die in der Sprache des Wissenschafters «Dice» sein müssen: Sie müssten im echten Leben gefährlich (dangerous), unmöglich (impossible), kontraproduktiv (counterproductive) oder teuer (expensive) sein. In solchen Fällen könne VR punkten wie kein anderes Medium:

Eine «Superman-Experience» lässt den Nutzer durch die Lüfte einer Grossstadt fliegen und ein verschwundenes Kind retten. Ein anderes Mal lebt man obdachlos in einer Grossstadt. In einer weiteren Simulation taucht man durch Korallenriffe und bekommt ein plastisches Gefühl dafür, wie Touristenmassen die Natur zerstören. Oder man hält eine virtuelle Kettensäge in der Hand und soll Bäume für die Papierproduktion fällen. Die VR-Tester nutzten später signifikant weniger Papier als andere Konsumenten, erzählt Bailenson.

Etwa zehn Minuten brauche das Gehirn, um sich an die virtuelle Umgebung zu gewöhnen. Danach lasse man sich auf vieles ein – selbst auf das Gefühl, einen dritten Arm zu haben, auch dafür haben sie hier eine «Experience» entwickelt. Die Inhalte in der virtuellen Welt wirken auf das menschliche Gehirn so real, dass Bailenson davon überzeugt ist, dass «niemand unter 13 Jahren VR nutzen sollte». Seine eigenen Kinder lässt er praktisch gar nicht in virtuelle Welten eintauchen – zu überwältigend seien die Erlebnisse und Gefühle.

Eine der beliebtesten Anwendungen sind Antidiskriminierungs-Schulungen – so wie in der anfangs beschriebenen Simulation. Darin schlüpft man in die Haut von Michael Sterling, Afroamerikaner aus New York City – als Kleinkind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Mal wird man im Kindergarten von anderen gehänselt, mal von Polizisten auf der Strasse mit einem Verbrecher verwechselt, in einer anderen Situation bei einem Jobinterview gegenüber weissen Bewerbern benachteiligt. Das Erlebnis ist definitiv eindrücklicher, als über Rassismus zu lesen oder erzählt zu bekommen.

 

In einer Simulation schlüpft der Nutzer in die Haut eines schwarzen Jungen und erlebt Rassismus etwa im Kindergarten. Bild: VHIL

In solchen Fällen könne VR tatsächlich eine bemerkenswerte Veränderung bewirken: «Wenn du etwas in der virtuellen Welt erlebt hast, bei dem du anderen helfen musstest, dann zeigen unsere Untersuchungen, dass es nachher doppelt so wahrscheinlich ist, dass du das auch im realen Leben tust.» Wie VR das menschliche Gehirn und damit das Verhalten beeinflusst, haben Bailenson und sein Team in Dutzenden Studien beschrieben. Langzeiterhebungen hätten zudem bewiesen, dass dieser Effekt lange anhalte.

Bedeutet das, dass VR uns alle empathischer macht? Das werde er immer wieder gefragt, sagt Bailenson, und seine Antwort habe sich im Laufe der Zeit verändert. «Es hängt letztlich davon ab, wofür man das Medium nutzt.» Ja, VR sei erwiesenermassen effektiver darin, die Perspektive eines anderen zu verstehen, als nur ein Video darüber zu schauen, darüber zu lesen oder ein Rollenspiel zu machen. «Aber es ist keine Magie. Wir können damit keine Vorurteile auslöschen und weder Sexismus noch Rassismus lösen.»

Künstliche Intelligenz könnte VR grundlegend verändern

Aus technischer Sicht ist gute VR enorm anspruchsvoll. Eine Herausforderung ist etwa das «Tracing». Das heisst, dass sich die Darstellungen den eigenen Körperbewegungen anpassen. Nähert sich jemand einem Objekt, muss es grösser und lauter werden, womöglich ändert sich der Lichteinfall. Schon die kleinsten Bewegungen können die Wahrnehmung beeinflussen. All das zu programmieren und in Echtzeit darzustellen, ist sehr aufwendig.

Hinter nur fünf- oder sechsminütigen Simulationen im Labor steckten bisweilen «Hunderttausende Stunden Arbeit von allen Beteiligten», sagt Bailenson. Dies sei auch der Grund, warum viele virtuelle Welten oft noch leer wirkten – und warum Computerspiele in VR meist nur ein paar Stunden dauerten statt Hunderte von Stunden wie herkömmliche Spiele.

Doch das Aufkommen generativer künstlicher Intelligenz (KI) dürfte das Problem bald lösen: Mit KI können Entwickler gute VR-Simulationen bald mit nur wenigen Mausklicks bauen, ohne dafür unzählige Stunden aufbringen zu müssen – oder auch ohne überhaupt programmieren zu können.

Dass das öffentliche Interesse an Virtual Reality allmählich zunimmt, spürt man an diesem Tag auch in Stanford. Nach unserer Vorführung werden gleich weitere 30 Besucher das Labor aufsuchen, um auf virtuellen Holzplanken zu balancieren und als Superman durch die Luft zu fliegen.

Bailenson hat deswegen – wie sollte es anders sein – eine virtuelle Version der Studiotour erstellt, ein Best-of der Dutzende dort erstellter VR-Simulationen. Dieses kann sich nun jedermann auf sein Headset zu Hause ziehen, statt nach Palo Alto reisen und einen der wenigen Besucherplätze ergattern zu müssen. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie VR die Dinge effizienter machen kann.

 

Jeremy Bailensons Avatar macht eine Tour durch sein Stanford-Labor in der virtuellen Welt. Bild: VHIL
 

 

Das könnte Sie auch interessieren: