Soll eine Firma ihren verschuldeten Mitarbeitern Kredite gewähren? Nur im Ausnahmefall, rät der Schuldenexperte In anderen Ländern übernehmen Arbeitgeber eine immer wichtigere Rolle bei der Unterstützung von überschuldeten Mitarbeitern. Auch in der Schweiz helfen manche Firmen ihren Angestellten aus. Das kann sinnvoll sein, doch es kommt stark auf die Art der Hilfe an.

In anderen Ländern übernehmen Arbeitgeber eine immer wichtigere Rolle bei der Unterstützung von überschuldeten Mitarbeitern. Auch in der Schweiz helfen manche Firmen ihren Angestellten aus. Das kann sinnvoll sein, doch es kommt stark auf die Art der Hilfe an.

Manche Gastrounternehmen haben Mühe damit, Mitarbeiter mit hohen Schulden zu beschäftigen; auch aus Angst vor Diebstahl. (Bild: Julita auf Pixabay)

Steuerschulden, fällige Krankenkassenprämien und Konsumkredite: Viele Schweizer kämpfen mit Privatschulden. Das geriet während der Pandemie in Vergessenheit, weil staatliche Hilfsprogramme und Zahlungsaufschübe für Linderung sorgten. Die düsteren Prognosen während des ersten Lockdowns 2020, dass eine grosse Wirtschafts- und Schuldenkrise bevorstehe, bestätigten sich nicht (siehe Grafik).

Dennoch wurden in der Schweiz 2021 etwa 1,64 Millionen Pfändungen vollzogen, 60 Prozent mehr als 2000. Nun sind Corona-Hilfsprogramme ausgelaufen; und steigende Zinsen setzen Schuldner unter Druck: Die Konsumkredit-Banken haben ihre Zinskonditionen für Privatkredite verschärft, wie die Vergleichsplattform Moneyland kürzlich vermeldet. Vor allem Personen mit schlechter Bonität müssen für einen Privatkredit nun oft wieder das gesetzlich zulässige Maximum von 9,9 Prozent Jahreszins zahlen.

Max Klemenz von der Schuldenberatung Kanton Zürich sagt, dass derzeit zwar keine Krise herrsche. Aber die Zahl der Personen, die Hilfe suchen, habe zumindest wieder auf Vor-Corona-Niveau zugenommen.

Dein Arbeit- und Kreditgeber

Dramatischer ist die Situation in Grossbritannien. Eine rekordhohe Inflation, getrieben durch stark steigende Energiekosten, bringt selbst einen Teil des Mittelstands in Zahlungsnöte. Wie die «Financial Times» jüngst schilderte, verleitet dies immer mehr Unternehmen dazu, sich aktiver um die finanzielle Lage ihrer Mitarbeiter zu kümmern. Sie gewähren Lohnvorschüsse oder gar günstige oder zinslose Darlehen; eine Reihe von externen Dienstleistern wie Wagestream oder Salary Finance bieten Firmen hierfür mittlerweile pfannenfertige digitale Lösungen an.

Die Unternehmen bringen zum Teil soziale Gründe vor. Anstatt dass sich die Mitarbeiter bei Kredithaien zu Wucherkonditionen verschulden, sollten sie sich besser an ihren Arbeitgeber wenden. Man helfe auch, weil die Arbeitsleistung der Angestellten unter dem finanziellen Stress leide, argumentierte die «Director of Happiness» des Detailhändlers Timpson gegenüber dem britischen Finanzblatt.

Die Situation in der Schweiz unterscheide sich stark von Grossbritannien oder den USA, sagt Gery Bruederlin. Er ist Professor für Personalmanagement an der Fachhochschule Nordwestschweiz und war zuvor lange Zeit für die Grossbank UBS in HR-Führungsrollen tätig. «Dass sich die Unternehmen in einer solchen Form einmischen, sehe ich hierzulande nicht», sagt er. «Unser soziales Netz ist dichter gespannt. Zudem sind die Schweizer besser versichert.» Natürlich sei Überschuldung auch hierzulande ein relevantes Problem, hält Bruederlin fest. Aber eine Verschärfung der Lage mache er derzeit nicht aus.

Hinzu kommt die Zurückhaltung der Schweizerinnen und Schweizer, über ihre private finanzielle Situation zu sprechen. Bruederlin sieht zwar einen anhaltenden Trend hin zu mehr Lohntransparenz – etwa, dass Unternehmen in Stellenanzeigen die Bandbreite angeben, in welcher sich der Lohn für einen bestimmten Job bewegen wird. Aber über die eigene Situation spricht niemand gern. «Wer Schulden hat, probiert das Problem meistens ohne Arbeitgeber zu lösen, solange das geht.»

Ein Darlehen der Firmenstiftung

Doch auch manche Schweizer Unternehmen gehen das Thema Schulden sehr offen an. Eines davon ist die Familie Wiesner Gastronomie (FWG). Das Dübendorfer Unternehmen ist einer der grössten Gastronomiebetriebe in der Schweiz und betreibt etwa die Restaurantketten Negishi, The Butcher oder Miss Miu. In 34 Restaurants beschäftigt die FWG rund 1000 Mitarbeitende.

Wenn Restaurantgäste ein bestimmtes Spezialmenu bestellen, geht davon bis zu einem Franken in die 2020 gegründete FWG-Foundation. Die firmeneigene Solidaritätsstiftung finanziert zwar in erster Linie Aus- und Weiterbildungen und caritative Projekte. Doch auch Angestellte in Not können sich an diese Stiftung wenden. «Wenn zum Beispiel ein Mitarbeiter kein Geld hat, um seine kranke Mutter in Thailand zu besuchen, zahlen wir das Flugticket», sagt Manuel Wiesner, der das Familienunternehmen in zweiter Generation seit drei Jahren zusammen mit seinem Bruder Daniel führt.

Die FWG gewähre auch Lohnvorschüsse, sagt Wiesner, und über die Stiftung hin und wieder auch zinslose Darlehen an verschuldete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 36-mal im vergangenen Jahr, im Schnitt betrug das Darlehen rund 3000 Franken. In seltenen Fällen habe man sogar einen Beitrag à fonds perdu gezahlt, um zu helfen, wieder schuldenfrei zu werden.

«Bei grösseren Beträgen oder wenn Mitarbeiter wiederholt zu uns kommen, helfen wir aber nur, wenn sie sich von der Schuldenberatung des Kantons Zürich begleiten lassen», sagt Wiesner. Der Angestellte zeige dadurch, dass er nachhaltig am Problem arbeite. Wenn die Schuldenberatung dann auf die Stiftungsräte der FWG-Foundation zukomme und sage, dass ein Darlehen einer Mitarbeiterin helfen könne, ihr Problem zu lösen, unterstütze man das gern.

Wer sich verschuldet

Dass eine Restaurantkette besonders mit dem Thema konfrontiert ist, überrascht nicht. Tendenziell geraten eher junge und schlecht ausgebildete Mitarbeiter, die einen tiefen Lohn beziehen, in eine Schuldenfalle. Aber auch Gutverdiener können auf zu grossem Fuss leben oder eine Spielsucht entwickeln.

Im Einzelfall kann eine Überschuldung zahlreiche Ursachen haben. Die Forschung macht jedoch zwei besonders wichtige Bündel an Gründen aus: Zum einen sind das kritische Lebensereignisse wie der Tod des Lebenspartners, ein schwerer Unfall, eine Scheidung oder der Verlust der Arbeitsstelle. Sie führen dazu, dass die Lebenshaltungskosten stark steigen oder die Einnahmen abrupt sinken. Die Betroffenen schaffen es nicht, sich rechtzeitig daran anzupassen.

Zum anderen ist auch eine mangelhafte Finanzbildung oftmals ausschlaggebend für die Überschuldung. In der Schule wird der richtige Umgang mit Geld zu wenig vermittelt, auch in der Berufsbildung kommt das Thema oft zu kurz. Das wirkt sich aus. Wer den Effekt von Zinsen über die Zeit versteht, wird kaum je einen Privatkredit mit 10 Prozent Jahreszins aufnehmen, um sich ein Sofa oder eine Ferienreise zu finanzieren. Zudem werden viele von der Steuerrechnung überrascht und legen zu wenig zur Seite, um diesen vier- oder fünfstelligen Betrag zahlen zu können.

In beidseitigem Interesse

Es besteht in der Schweiz also durchaus ein gesellschaftliches Schuldenproblem. Und es gibt Gründe, weshalb sich auch die Arbeitgeber darum kümmern sollten.

Untersuchungen zeigen, dass überschuldete Mitarbeiterinnen öfter unkonzentriert und abgelenkt sind und mehr Fehlzeiten haben. «Permanenter finanzieller Stress führt über lange Zeit auch zu gesundheitlichen Problemen», sagt Klemenz. Die Folge davon: noch mehr Absenzen. Gery Bruederlin fügt an, dass vor allem bekannte Arbeitgeber ein Reputationsproblem bekommen, wenn sie sich nicht um notleidende Mitarbeiter kümmern.

Die Schuldenberatung Kanton Zürich, ein gemeinnütziger Verein, arbeitet schon seit Jahren mit Arbeitgebern zusammen, die ihre Mitarbeiter beim Weg aus der Schuldenfalle begleiten. Vor drei Jahren hat sie für Firmen zudem eine halbtägige Schulung unter dem Namen «C(r)ashkurs» aufgebaut. Das Zielpublikum sind Führungs- und Personalverantwortliche, aber auch betriebliche Sozialarbeiterinnen. Sie lernen etwa, welche Anzeichen auf eine Überschuldung hindeuten. Und wie sie das Problem ansprechen, den Betroffenen Übersicht verschaffen oder sogar bei der Erstellung eines Budgets helfen können.

Grosse und kleine Unternehmen gehen das Thema oft recht unterschiedlich an. Die FWG will laut Wiesner die familiäre Stimmung weiter erhalten, auch wenn der Betrieb stark gewachsen ist. Vier Mitarbeiter führen eine firmeneigene Helpline und bieten Coachings für die Belegschaft an. Mit ihrem Ansatz vereint die FWG Merkmale persönlich oder patronal geführter KMU – wo sich der Chef oder die Chefin oft noch selbst um die Probleme der Mitarbeiter kümmert – und eines Grossunternehmens.

KMU greifen auch eher auf die Unterstützung durch externe Stellen zurück. Viele grössere Schweizer Firmen verfügen derweil über eine interne Fachstelle für Sozialberatung, die zum Beispiel auch Budgetberatungen vornehmen kann; wenn die Mitarbeiter dies möchten. Gemäss Bruederlin sind diese Stellen zwar zusehends mit psychischen Problemen wie Erschöpfungsdepressionen konfrontiert. Sie kümmern sich jedoch auch um Angestellte mit Schuldenproblemen.

Diese unabhängige Anlaufstelle ist von der HR-Abteilung gemäss Bruederlin in der Regel klar getrennt und leitet keine heiklen Informationen weiter. Das ist relevant, weil die Personalabteilung in einen Interessenkonflikt gerät. Der Arbeitgeber könnte eine Verschuldung als Zeichen deuten, dass die Angestellte unzuverlässig ist oder ein Sicherheitsrisiko darstellt – und sie entlassen, was ihr Schuldenproblem nochmals verschärft. Angestellte überlegen es sich dann natürlich zweimal, mit der Vorgesetzten oder dem Personalchef über ihre Privatschulden zu sprechen.

Der Umgang mit verschuldeten Angestellten unterscheidet sich von Branche zu Branche. «Viele Banken und Gastrobetriebe sehen es nicht gern, wenn ihre Mitarbeiter Lohnpfändungen haben», sagt Max Klemenz. Sie befürchten, dass ihre Mitarbeiter wegen des finanziellen Stresses Geld abzweigen könnten, und möchten ihnen das Serviceportemonnaie oder die Kundengelder nicht mehr anvertrauen. Auch in der Sicherheitsbranche werden Betreibungen nicht gern gesehen.

«Wir haben kein Problem damit, wenn Mitarbeiter Schulden haben», sagt Manuel Wiesner. Wichtig sei, dass der jeweilige Geschäftsführer oder die Geschäftsführerin eines Restaurants informiert sei. Gemäss Wiesner ist in der Gastronomie das Risiko für Diebstähle höher; wie überall, wo mit Bargeld gearbeitet werde.

Weil die Gäste aber zusehends mit Karte oder Twint statt bar zahlen, nimmt auch die Versuchung ab. In den FWG-Restaurants beträgt der Cash-Anteil am Umsatz inzwischen im Durchschnitt weniger als 5 Prozent. «Nach den Sommerferien werden wir zu 100 Prozent cashless sein. Wir schaffen bei uns das Bargeld ab», meint Wiesner.

Darlehen nur im Ausnahmefall

Doch wie sollten sich Arbeitgeber denn nun verhalten gegenüber verschuldeten Mitarbeitern? Klemenz sieht Angebote von Dritten kritisch, die bloss die Vergabe von Darlehen und Lohnvorschüsse vereinfachen. Damit löse man nicht das eigentliche Problem. Und selbst wenn manche Anbieter nicht gewinnorientiert arbeiten, wird beim Lohnvorbezug meist eine Bearbeitungsgebühr fällig. «Dieses Geld wird den Mitarbeitern letztlich von ihrem Lohn abgezogen», sagt Klemenz.

Notdarlehen des Arbeitgebers könnten in Einzelfällen zwar sehr sinnvoll sein. «Aber das Unternehmen muss zuerst genau abklären, ob ein solcher Kredit überhaupt nachhaltig ist.» Wenn bloss Schulden von einem Gläubiger auf den nächsten verschoben werden und der Mitarbeiter die Ursache für die Verschuldung noch nicht beheben konnte, ist ein Darlehen kontraproduktiv: Der verschuldete Mitarbeiter kann es nicht zurückzahlen und erhält nun auch mit seinem Arbeitgeber Probleme. Dabei ist ein sicherer Job die beste Basis, um finanziellen Stress zu verringern und sich aus der Schuldenfalle zu befreien.

Was aber sollten Unternehmen stattdessen tun? Sie könnten durchaus eine wichtige Rolle einnehmen, sagt Klemenz, denn oft erhielten sie frühe Hinweise auf eine Überschuldung: «Wenn ein Mitarbeiter regelmässig nach einem Lohnvorschuss fragt oder seine Arbeitskollegen anpumpt, ist das ein klares Warnsignal.»

In dieser Situation sei es sinnvoll, wenn die Vorgesetzte einen Mitarbeiter direkt anspreche und ihn auf die Hilfsangebote aufmerksam mache, sagt Klemenz. Auch bei den erwähnten Schicksalsschlägen, etwa wenn eine Mitarbeiterin einen Unfall oder eine schwere Krankheit erleidet, kann ein Hinweis auf Beratungsangebote angebracht sein.

Hinweise auf mögliche Hilfeleistungen kann der Arbeitgeber bereits präventiv geben, etwa an betrieblichen Informationsveranstaltungen. Eine solche Kommunikation signalisiert den Angestellten auch eine Offenheit zum Thema Schulden und reduziert die Hürden, um sich zu melden. Eine negative Nebenfolge des Schweizer Umgangs mit Finanzen ist nämlich, dass Betroffene ihre Schulden aus Scham verstecken, bis es nicht mehr geht und bereits eine Lohnpfändung ins Haus steht. «Viele Betroffene kommen erst dann zu uns», sagt Klemenz. Dabei gilt bei Überschuldung: Je früher man Hilfe holt, desto besser.

André Müller, «Neue Zürcher Zeitung»

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