Die Mär von den armen Rentnern – selbst im Ruhestand wächst ihr Vermögen weiter Die Initianten der 13. AHV-Rente beschwören das Gespenst einer verbreiteten Altersarmut. Die Fakten sprechen dagegen: Die Senioren sind am reichsten – und sie besitzen häufiger Immobilien.

Die Initianten der 13. AHV-Rente beschwören das Gespenst einer verbreiteten Altersarmut. Die Fakten sprechen dagegen: Die Senioren sind am reichsten – und sie besitzen häufiger Immobilien.

(Bild: Tim Mossholder auf Unsplash)

Er kenne eine Rentnerin in einem Freiburger Dorf, erklärte Pierre-Yves Maillard diese Woche, als er die Kampagne für die 13. AHV-Rente lancierte. Die betagte Frau könne es sich nicht mehr leisten, den Öltank ihres Hauses aufzufüllen. Deshalb heize sie mit einem Elektroöfeli abwechselnd nur noch jenen Raum, in dem sie sich gerade aufhalte.

Laut dem Chef des Gewerkschaftsbundes seien solche Fälle sehr verbreitet: «Menschen, die von einem durchschnittlichen Einkommen gelebt haben, wissen schlicht nicht mehr, wie sie über die Runden kommen.» In den Abstimmungskampf zieht er mit dem Slogan: «Die Rente reicht nicht mehr.» «Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht von Arbeitslosen», so Maillard. «Sondern von Menschen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet und sich immer als Teil der Mittelschicht verstanden haben.»

Indem Maillard das Gespenst einer um sich greifenden Altersarmut heraufbeschwört, trifft er einen Nerv. Das zeigt die Debatte in den Online-Foren: «Die jetzigen Renten sind alles andere als existenzsichernd. Man arbeitet ein Leben lang für nichts», heisst es da zum Beispiel. Oder: «Für Rentner wird das Leben sehr hart. Deshalb ist die 13. Rente eine Pflicht.» Ein weiteres Votum lautet: «Wir haben 47 Jahre eingezahlt, und jetzt sind wir daran, UNSER Geld zumindest zum Teil zurückzubekommen.»

Müssen selbst Leute aus der Mittelschicht befürchten, dass ihre Rente nicht mehr reicht, wie dies der Gewerkschafter Maillard behauptet? Zwar bedeute die Pensionierung effektiv eine Zäsur im Leben, sagt der Lausanner Ökonomieprofessor Marius Brülhart. Die Aussage allerdings, wonach der Ruhestand beim Normalbürger zu einem finanziellen Abstieg führe, sei falsch: «Gemäss Statistik steht die Mehrheit der Rentner finanziell gut da. Sie sind zudem seltener von Armut betroffen als jüngere Altersgruppen.»

Ältere sind zufriedener

Brülhart verweist auf die Erhebung des Bundes über die Einkommen und die Lebensbedingungen, basierend auf der Befragung von 18 000 Personen. Gemäss dieser beurteilen nur gerade 3 Prozent der Rentner ihre finanzielle Zufriedenheit als «gering». Dafür sagen 56 Prozent, dass sie mit ihrer materiellen Situation «sehr zufrieden» seien. Bei den Erwerbstätigen dagegen kommen viel weniger zu einem so positiven Befund, der Anteil liegt bei lediglich 35 Prozent.

Man könne nebst dieser subjektiven Einschätzung auch harte, messbare Fakten heranziehen, so Brülhart. Das Ergebnis bleibe dasselbe: «Sozialpolitisch lässt sich nur schwer begründen, warum ausgerechnet die Gruppe der Rentner insgesamt von mehr Umverteilungen profitieren soll. Hingegen braucht es sehr wohl eine gute Absicherung für diejenigen Pensionierten, welche effektiv unter Armut leiden. Denn im Rentenalter kann man sich nicht mehr aus eigener Kraft hocharbeiten.»

Zu den «hard facts» zählt eine Studie von Philippe Wanner aus dem Jahr 2022. Der Professor für Demografie und Sozioökonomie an der Universität Genf hat im Auftrag des Bundes die Steuerdaten aus elf Kantonen analysiert – und ist bei den Rentnern auf einen beträchtlichen Wohlstand gestossen. Laut der Analyse startet eine alleinstehende Person ihren Ruhestand mit Ersparnissen von 130 000 Franken. Bei einem Paarhaushalt beträgt das Nettovermögen im Median gar 370 000 Franken.

Das Bemerkenswerte ist nun: Die Rentnerinnen und Rentner sind trotz Ruhestand nicht gezwungen, ihre Reserven anzuzapfen. Es findet also kein Vermögensverzehr statt, wie man dies eigentlich annehmen würde. Im Gegenteil wachsen die Ersparnisse weiter an, nicht zuletzt dank der Rente aus der Pensionskasse. Bei Alleinstehenden erreichen sie mit 90 Jahren durchschnittlich 210 000 Franken – eine Zunahme von 80 000 Franken. Paare schaffen es bis 90 sogar auf 420 000 Franken.

Zwar sorgen vor allem die reichen Rentner für diesen Anstieg: So kommen die Top-10-Prozent auf ein Vermögen von 1,4 Millionen Franken. Doch selbst der untere Mittelstand schafft es laut Wanners Studie, das Reservepolster im Alter zu erhalten: Der typische Rentner in der unteren Vermögenshälfte beginnt die Pensionierung mit Ersparnissen von 54 000 Franken. Im Alter von 90 liegt dieser Betrag mit 66 000 Franken ebenfalls leicht höher.

«Unsere Untersuchung zeigt, dass die Pensionierten nicht nur mehr Vermögen besitzen als die Erwerbstätigen», sagt Philippe Wanner. «Sie haben dank dem gut ausgebauten Vorsorgesystem auch ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko. Dagegen sind es vor allem alleinerziehende Frauen, Migranten, Bauern sowie ein Teil der Selbständigen, die am häufigsten in prekären finanziellen Verhältnissen leben.»

Rentner sind vor allem deshalb reicher, weil sie häufiger Immobilien besitzen, während sich die jüngere Generation die eigenen vier Wände immer seltener leisten kann. Gemäss Wanners Studie sind in der Altersgruppe 70 drei von vier Paarhaushalten Hausbesitzer. Selbst mit 90 Jahren beträgt die Wohneigentumsquote noch immer 60 Prozent. Im Schnitt beansprucht eine Person im Ruhestand eine Wohnfläche von 72 Quadratmetern – deutlich mehr als jüngere Leute.

Effektiv unterschätzt Wanners Untersuchung sogar den Reichtum vieler Pensionäre – und zwar massiv. «Wir haben uns bei den Berechnungen auf die steuerlichen Immobilienwerte abgestützt», sagt der Genfer Professor. «Auf dieser Basis beträgt der durchschnittliche Wert einer Liegenschaft 367 000 Franken. Uns ist bewusst, dass wir die Vermögen damit zu tief ausweisen. Das ist jedoch erforderlich, um in der Studie eine einheitliche Basis anzuwenden.» Gemessen am gegenwärtigen Verkehrswert erzielen viele Liegenschaften einen doppelt so hohen Preis, wie steuerlich ausgewiesen.

Erben sind meist über 60

Dass sich der Vermögensaufbau immer mehr ins Alter verschiebt, liegt laut Marius Brülhart auch an den Erbschaften. «Aufgrund der höheren Lebenserwartung erben die meisten Leute erst zwischen sechzig und siebzig Jahren.» Gemäss seiner Schätzung erreicht die gesamte jährliche Erbmasse riesige 90 Milliarden Franken. Dabei erben reiche Leute tendenziell mehr Geld als ärmere – aber nicht nur. «Bisherige Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die Erbschaften kurzfristig eher ausgleichend auf die Vermögensverteilung auswirken.» Wer im Leben wenig sparen konnte, darf immer noch darauf hoffen, dereinst von seinen Eltern oder Verwandten einen Zustupf zu erhalten.

Die Fakten sind also eindeutig: Der grösste Teil der Bevölkerung, inklusive Mittelstand, ist auch ohne 13. Rente gut für die Pensionierung gerüstet. Ein Abrutschen in die Armut ist unwahrscheinlich. Und falls das Einkommen doch nicht reicht für eine gesicherte Existenz, so füllt der Staat diese Lücke mit Ergänzungsleistungen. Laut Statistik bezieht eine von acht Personen über 65 solche Zahlungen. Die Quote ist seit Jahren stabil.

Nur die wenigsten Rentner stehen finanziell am Limit. Auch dazu liefert Wanner in seiner Studie umfangreiche Daten. So hat er analysiert, bei wem die flüssigen Mittel nicht ausreichen, um während dreier Monate über die Runden zu kommen. Bei den Alleinstehenden über 65 scheitert jeder Fünfte an diesem Kriterium, bei den Verheirateten ist es sogar nur jeder zehnte Haushalt. Unter der Erwerbsbevölkerung dagegen ist dieser Anteil doppelt so hoch – bei den 40-jährigen Singles zum Beispiel sind die Reserven in vier von zehn Fällen aufgebraucht.

Das Giesskannenprinzip einer 13. AHV-Rente sei eine «stumpfe und teure Waffe» im Kampf gegen die Armut, so urteilt Brülhart: «Man würde noch mehr Mittel von Jung zu Alt umverteilen, obwohl die Armutsquote unter den Jüngeren höher ist.»

Der Demografie-Ökonom Philippe Wanner erinnert zudem an die Gerechtigkeit zwischen den Generationen: «Wenn sich der Reichtum überwiegend bei den Pensionierten konzentriert, stellt sich die Frage, ob jüngere Menschen genügend Möglichkeiten haben, ihr eigenes Vermögen aufzubauen.» Je mehr Renten via AHV ausgeschüttet werden, desto eher fehlt dieses Geld bei der übrigen Bevölkerung.

Albert Steck, «Neue Zürcher Zeitung»

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