Die Schweizer Wirtschaft will die globale Mindeststeuer hinauszögern – am Konkurrenzstandort Niederlande sieht man das ganz anders Die vom Wirtschaftsverband Economiesuisse geforderte Verschiebung der Schweizer Umsetzung der Mindeststeuer für Grossfirmen «vorerst um ein Jahr» würde kaum einen Standortvorteil bringen. Ausser man glaubt, dass es nicht bei diesem einen Jahr bleibt.

Die vom Wirtschaftsverband Economiesuisse geforderte Verschiebung der Schweizer Umsetzung der Mindeststeuer für Grossfirmen «vorerst um ein Jahr» würde kaum einen Standortvorteil bringen. Ausser man glaubt, dass es nicht bei diesem einen Jahr bleibt.

Abstimmung vom 18. Juni 2023: «Ja» zur OECD-Mindeststeuer. (Foto: SRF)

Was kümmert uns unser Geschwätz von gestern? An diesen Ausspruch musste man vergangene Woche denken. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hatte gefordert, in der Schweiz die globale Mindeststeuer für internationale Grossfirmen von 15 Prozent des Gewinns nicht wie vorgesehen auf Anfang 2024 umzusetzen, sondern die Umsetzung um «vorerst ein Jahr» zu verschieben.

Im Abstimmungskampf für den Urnengang vom Juni 2023 hatte es von den Wirtschaftsverbänden und vom Bundesrat ganz anders getönt: Ein Nein zur Vorlage würde der Schweiz schaden, weil man die Sache kaum mehr wie geplant auf Anfang 2024 einführen könnte und darum andere Länder statt die Schweiz Zusatzsteuern von betroffenen steuerpflichtigen Firmen abschöpfen könnten.

Die Vorgabe des globalen Ländervereins OECD war die Einführung auf Anfang 2024. Auch die EU hat für ihre Mitgliedstaaten dieses Einführungsdatum vorgesehen. Nun weiss man, dass viele Länder nicht bereit sein werden. Zu diesen zählen etwa die USA, die sich wie so oft um OECD-Vorgaben foutieren. Gemäss einem Überblick der Beratungsfirma Ernst & Young per Anfang November dürften noch weitere Staaten die Mindeststeuer nicht auf Anfang 2024 einführen – zum Beispiel Bahamas, Bermuda, Gibraltar, Hongkong, Indonesien, Jersey, Katar, Singapur, Taiwan, die Vereinigten Arabischen Emirate und Vietnam. Dies scheint laut einer anderen Erhebung auch für Indien und China zu gelten.

Viele EU-Länder sind dabei

Immerhin ist aber laut den Beratern in vielen anderen Ländern mit der Einführung per Anfang 2024 zu rechnen. Zum Beispiel in Australien, Liechtenstein, Neuseeland, Norwegen, Südkorea, dem Vereinigten Königreich und in einem grossen Teil der EU-Länder wie etwa Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Irland und den Niederlanden. Die EU-Kommission lieferte auf Anfrage keine genaue Liste, sondern sagte nur, dass die Mitgliedstaaten die neuen Regeln bis Ende 2023 «umsetzen müssen».

Als Pionier der Umsetzung in der EU sehen sich die Niederlande, deren Regierung diesen Mai einen Umsetzungsvorschlag vorgelegt hat. Die Niederlande hatten traditionell wie die Schweiz den Ruf eines sehr attraktiven Steuerdomizils für internationale Firmen und standen deshalb ähnlich wie Bern in den letzten zehn Jahren unter internationalem Anpassungsdruck. Der ordentliche Spitzengewinnsteuersatz liegt in den Niederlanden mit 25,8 Prozent deutlich über dem globalen Minimum, doch mit Sondervergünstigungen für gewisse Erträge können Firmen insgesamt unter 15 Prozent kommen.

Im Unterschied zur Schweiz ist in den Niederlanden eine Verschiebung der Einführung der Mindeststeuer kein relevantes Thema – weder bei Wirtschaftsvertretern noch in der Regierung oder bei Beratern, wie Gespräche in Den Haag und Rotterdam zeigten. Und dies nicht nur wegen der EU-Vorgaben. Ein Regierungsvertreter betonte sogar, dass die relativ frühe Einführung des Mindeststeuer-Regimes in ausländischen Wirtschaftskreisen zum Teil als Standortvorteil gesehen werde, weil man damit Rechtssicherheit schaffe. Von Wirtschafts- und Beraterseite hiess es ebenfalls, dass Verschiebungen in anderen Staaten für sich allein kein wesentliches Argument für eine Verschiebung im eigenen Land lieferten.

«Eine Verschiebung käme mit Risiken», betont Maarten de Wilde, Steuerprofessor an der Erasmus-Universität in Rotterdam. Wenn zum Beispiel eine niederländische Firma relevante Aktivitäten in zwanzig anderen Ländern habe, genüge schon die Umsetzung des Mindeststeuer-Regimes in einem dieser Länder, damit die betroffene niederländische Firma im Ausland mit einer Zusatzsteuer belegt werden könne.

Hinzu kommt: Verschiebt ein Land die Umsetzung der Mindeststeuer um ein Jahr, bringt das diesem Land kaum einen relevanten Standortvorteil, weil dies keine wesentlichen zusätzlichen Langfrist-Investitionen von Unternehmen bringen dürfte.

Zweistufige Abschöpfung

Der Rahmen der OECD (im Wesentlichen übernommen von der EU) sieht für die Möglichkeit von Zusatzsteuern durch Staaten ausserhalb des Steuersitzes der betroffenen Firmen im Prinzip ein zweistufiges Verfahren vor. Hat zum Beispiel der Schweizer Ableger eines ausländischen Konzerns eine Gewinnsteuerbelastung von 13 Prozent in der Schweiz, und die Schweiz verzichtet auf eine Zusatzsteuer, könnte das Land des Konzernhauptsitzes ab 2024 eine Zusatzsteuer von 2 Prozent abschöpfen. Verzichtet dieses Land auf eine Abschöpfung, greift die zweite Abschöpfungsstufe: Auch andere Länder, in denen der betroffene Konzern relevanten Tätigkeiten nachgeht, könnten Zusatzsteuern abschöpfen. Diese zweite Stufe greift aber gemäss OECD-Empfehlung und laut EU-Vorgabe erst ab 2025. Die Schweiz würde bei einer Verschiebung der Umsetzung der Mindeststeuer um ein Jahr «nur» das Risiko der ersten Abschöpfungsstufe tragen.

Gemäss Einschätzung von Economiesuisse fallen beim Verzicht auf eine Verschiebung die hiesigen Schweizer Zusatzsteuern für betroffene Unternehmen insgesamt stärker ins Gewicht als die möglichen ausländischen Zusatzsteuern bei einer Schweizer Verschiebung. Das liefert aber für sich allein noch kein überzeugendes Argument für eine Verschiebung. Denn bei einer Schweizer Umsetzung auf Anfang 2024 würden die Zusatzsteuern dem inländischen statt dem ausländischen Fiskus Erträge bringen – und dies ohne bedeutenden Standortnachteil im Vergleich zum Szenario einer Verschiebung um ein Jahr.

Politische Ungewissheit

Doch eine weitere Komplikation kommt hinzu. Diesen Sommer hat die OECD eine Ausnahme beschlossen, die man überspitzt als Extrawurst für die USA bezeichnen könnte: Länder mit ordentlichen Gewinnsteuersätzen von über 20 Prozent können während zweier Jahre (2025 und 2026) ihr Veto gegen ausländische Zusatzsteuern für «ihre» Firmen in der zweiten Abschöpfungsstufe einlegen. Der ordentliche Gewinnsteuersatz in den USA liegt heuer bei 21 Prozent (plus Steuern der Gliedstaaten).

Auch das wäre noch nicht unbedingt ein Killerargument gegen eine Schweizer Umsetzung auf 2024. Economiesuisse interpretiert dies aber als Indiz, dass die zweite Abschöpfungsstufe möglicherweise auch längerfristig global nicht mehrheitsfähig ist und damit ein zentraler Teil des geplanten Mindeststeuer-Regimes wegfallen könnte. Dann könnte auch ein erheblicher Teil der Schweizer Motivation zum Mitmachen wegfallen.

In den OECD-Regeln ist keine Möglichkeit der Verlängerung der Sonderbestimmung zur zweiten Abschöpfungsstufe über 2026 hinaus vorgesehen. Doch wie der politische Wind in zwei Jahren wehen wird, ist eine offene Frage.

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