Warum die Story vom Rentenabbau falsch ist «Mehr bezahlen, weniger Rente!» Der Slogan gegen die Rentenreform ist irreführend. Effektiv könnten viele von besseren Leistungen profitieren.

«Mehr bezahlen, weniger Rente!» Der Slogan gegen die Rentenreform ist irreführend. Effektiv könnten viele von besseren Leistungen profitieren.

(Foto: Christian Bowen auf Unsplash)

Sind die Pensionskassen eine Geldvernichtungsmaschine? Diesen Eindruck erweckt die Kampagne der Gewerkschaften gegen die Rentenreform. «Mehr bezahlen, weniger Rente!», lautet der Slogan – der offensichtlich verfängt. Innert kürzester Zeit haben die Gewerkschaften für das Referendum 140 000 Unterschriften zusammengetrommelt. Damit kommt die BVG-Vorlage im nächsten Frühjahr zur Volksabstimmung.

«Ausgerechnet Arbeitnehmende mit tiefen und mittleren Löhnen müssten viel mehr bezahlen – für insgesamt weniger Rente», so kritisieren die Gewerkschaften. Sie rechnen vor, dass die Reform zu Rentenverlusten von bis zu 15% oder 3240 Fr. im Jahr führen würde. «Gerade Frauen sollen nach der Erhöhung des Rentenalters ein zweites Mal bezahlen», lautet der Vorwurf.

Das klingt nach einem miserablen Deal. Denn die Reform verschlingt auch eine riesige Summe Geld: 11,3 Mrd. Fr. müssten die Versicherten zusätzlich in die berufliche Vorsorge einzahlen. Und zwar in Form eines Lohnbeitrags von 0,24% während 15 Jahren. Die Pensionskassenreform, so scheint es, führt zu einem finanziellen Harakiri: Wozu sollen die Erwerbstätigen mehr Geld an die zweite Säule abliefern, wenn ihre Renten ja doch sinken? Oder gibt es vielleicht auch Gewinner? Und falls ja: Wer könnte profitieren?

«Zwar sinken die Renten für manche Versicherten», sagt Simon Tellenbach vom Finanzdienstleister VZ Vermögenszentrum. «Im Gegenzug aber hat das Parlament Rentenzuschläge eingeplant, die man insgesamt als grosszügig bezeichnen kann.» Auf Anfrage der «NZZ am Sonntag» hat das Unternehmen Beispiele von Versicherten zusammengetragen, die dank der Reform mit einer höheren Rente rechnen könnten.

Der erste Fall betrifft eine 50-jährige Person, die in einem 50%-Pensum arbeitet und auf einen Jahreslohn von 45 000 Fr. kommt. Wird die Vorlage vom Volk angenommen, so steigt ihre Rente um 2585 Fr. pro Jahr.

Wie ist ein solcher Rentenanstieg möglich, während die Reformgegner doch vor einem Abbau warnen? Die Gewerkschaften beziehen sich bei ihren Beispielen auf die sogenannten Minimalkassen. Lediglich 10 bis 20% der Erwerbstätigen sind in einer solchen Kasse versichert, welche ihre Leistungen auf das gesetzliche Minimum beschränkt. Konkret wenden diese Kassen einen Umwandlungssatz von 6,8% an – das heisst, pro 100 000 Fr. Alterskapital zahlen sie eine Jahresrente von 6800 Fr. Gemäss BVG-Reform soll dieser Satz nun auf 6% sinken, was ohne Kompensation eine Rentenkürzung von 12% bedeuten würde.

Wichtig ist aber: Die grosse Mehrheit, 80 bis 90% der Kassen, bietet Leistungen an, die über das BVG-Obligatorium hinausgehen. Diese Kassen haben den Umwandlungssatz schon bisher auf durchschnittlich 5,3% reduziert und dies mit zusätzlichen Sparbeiträgen kompensiert. Eine solche Senkung ist laut Tellenbach unumgänglich: «Seit Einführung des BVG im Jahr 1985 hat die Lebenserwartung ab dem 65. Altersjahr um 35% zugenommen. Falls eine Kasse das nicht über einen tieferen Umwandlungssatz ausgleicht, bedeutet dies, dass die Erwerbstätigen die Renten der Pensionierten querfinanzieren müssen.»

15 Jahrgänge profitieren

Das Schlagwort vom Rentenabbau gilt also primär für die Versicherten der Minimalkassen. Aber auch für diese Versicherten hat das Parlament vorgesorgt: Hier kommen nun die vom VZ-Experten als grosszügig eingestuften Rentenzuschläge ins Spiel. Vorgesehen sind die Zahlungen für eine Übergangsgeneration von insgesamt 15 Jahrgängen. Im besten Fall sind es 2400 Fr. pro Jahr. Der Betrag ist so abgestuft, dass ältere Erwerbstätige und solche mit wenig Alterskapital am meisten erhalten. Erst bei einem Vorsorgeguthaben von mehr als 441 000 Fr. geht man leer aus.

«Von diesen Zuschüssen profitieren auch viele Versicherte, bei denen die Renten gar nicht sinken», sagt Roger Baumann, Gründungspartner des Vorsorgeberaters C-alm. «Etwa die Hälfte der Übergangsgeneration wird bessergestellt. Damit geht der Empfängerkreis weit über jene 10 bis 20% hinaus, welche von der Senkung des Umwandlungssatzes betroffen sind.»

Das zweite Beispiel in der Grafik verdeutlicht den Zusammenhang: Obwohl die Rente des Versicherten wegen der Reform um lediglich 63 Fr. sinken würde, erhält er einen «Solidaritätsbeitrag» von 2200 Fr. im Jahr. «Die 15 Jahrgänge kommen sehr gut weg», urteilt Baumann. «Man kann sich fragen, ob es Sinn ergibt, wenn sämtliche Versicherten mit weniger als 441 000 Fr. Alterskapital einen Zuschuss erhalten.»

Dass der Slogan «Mehr bezahlen, weniger Rente!» trotz den generösen Zuschüssen verfängt, liegt auch an der Komplexität der BVG-Reform. So müssen die Versicherten nicht nur abklären, ob sie einer Minimalkasse angehören und wie hoch ihr allfälliger Zuschlag ausfällt. Hinzu kommen die geänderten Sparbeiträge: Je älter man wird, desto mehr zahlt man in seine Pensionskasse ein.

Die Vorlage sieht nun vor, dass man ab 55 nicht mehr 18%, sondern nur noch 14% einzahlt, hälftig aufgeteilt auf Arbeitgeber und -nehmer. Umgekehrt sollen die Beiträge im jungen Alter steigen. «Diese Anpassung ist sinnvoll», sagt Simon Tellenbach vom VZ, «damit steigen die Chancen der Älteren bei der Stellensuche. Bisher wurde oft kritisiert, dass diese zu teuer auf dem Arbeitsmarkt seien, weil sie höhere Kosten in der Vorsorge verursachten.»

Für die Versicherten der Übergangsgeneration bedeutet dies, dass ihnen die höheren Beiträge aus dem jungen Alter fehlen. Doch sei die Rechnung auch in diesem Fall komplizierter, so der VZ-Experte: «In der BVG-Debatte wird häufig übersehen, dass jeder für sich spart – im Gegensatz zur AHV. Wenn ich also weniger in die Pensionskasse einzahle, so sinkt zwar mein Alterskapital. Dafür profitiere ich umgekehrt von einem höheren Nettolohn.»

Verbesserung für Teilzeit

Zudem, ergänzt Tellenbach, verzichten wohl viele Kassen freiwillig auf eine Senkung der Sparbeiträge für Ältere: «Schon heute gehen die Leistungen der meisten Kassen über das gesetzliche Minimum hinaus. Und gerade jetzt, in Zeiten des Fachkräftemangels, können die Firmen mit einer gut ausgebauten PK punkten.»

Eine weitere wichtige Neuerung betrifft die Teilzeitangestellten: Per Gesetz sind sie bisher nur ungenügend in der beruflichen Vorsorge versichert – wobei viele Kassen dies aus eigenen Stücken bereits korrigiert haben. Künftig sollen alle Teilzeitler mehr einzahlen, was die heutige Ungleichheit verringern würde.

Weil in der zweiten Säule jeder für sich spart, gilt aber auch hier: Zwar steigt dadurch das Alterskapital – und damit die Rente. Der Preis dafür ist allerdings, dass für viele Teilzeitbeschäftigte die Lohnabzüge zunehmen, womit ihr Nettolohn schrumpft. Dasselbe gilt für all jene Tieflohnbezüger, die dank der tieferen Eintrittsschwelle neu in die Pensionskassen aufgenommen würden. Laut Schätzungen wären dies 70 000 Beschäftigte.

Die Kritik, wonach die Reform Arbeitnehmer mit tiefen Löhnen benachteilige, halte er für falsch, so der Vorsorgeexperte Roger Baumann. «Unter dem Strich erreichen die Erwerbstätigen mit Löhnen bis etwa 70 000 Fr. künftig eine höhere Rente. Ausserdem gehen die Rentenzuschläge in der Übergangsgeneration an jene Versicherten mit weniger Kapital. Und die Mehrheit von ihnen erhält diese sogar, obwohl ihre Renten nicht sinken.»

Auf den Einwand der Gewerkschaften, die Zuschläge seien zu knapp bemessen, entgegnet Baumann: «Jemand muss für diese Zahlungen ja aufkommen. Das sind namentlich die Beschäftigten unter 50, welche nicht zur Übergangsgeneration gehören.»

Somit beseitigt die Rentenreform zwar bisherige Ungerechtigkeiten, insbesondere bei der Teilzeitarbeit. Gleichzeitig allerdings führen die geänderten Regeln zu neuen Umverteilungen. Ob diese zweckmässig sind, darüber lässt sich streiten. Doch der pauschale Vorwurf «Mehr bezahlen, weniger Rente!» zielt mit Sicherheit daneben.

Albert Steck, «Neue Zürcher Zeitung»

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