Scheitern an der WTO-Konferenz: warum man die Welthandelsorganisation dennoch erfinden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe Die Verhandlungen in Abu Dhabi haben nur wenige greifbare Ergebnisse gebracht. Die Genfer Institution wirkt wieder einmal gelähmt. Wie kann es weitergehen?

Die Verhandlungen in Abu Dhabi haben nur wenige greifbare Ergebnisse gebracht. Die Genfer Institution wirkt wieder einmal gelähmt. Wie kann es weitergehen?

Seit 2021 steht Ngozi Okonjo-Iweala an der Spitze der Welthandelsorganisation. Sie brachte frischen Wind, der jetzt aber zu einem Lüftchen verkam. (Foto: WTO)

Osttimor und die Komoren. Das sind die neuesten Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO), die jetzt 166 Staaten umfasst. Die Aufnahme der beiden wenig gewichtigen Staaten zeigt gleichzeitig die immer noch vorhandene Anziehungskraft und die Misere einer internationalen Organisation, der schon seit Jahren beschieden wird, am Abgrund zu stehen.

Einerseits drängen weiterhin Staaten in die WTO, um an die Weltwirtschaft besser angeschlossen zu sein. Andererseits bedeuten mehr Mitglieder auch mehr Schwierigkeiten: Bei den Entscheiden der Genfer Institution herrscht Einstimmigkeitsprinzip, jedes Land, mag es auch noch so klein sein, kann bremsen und blockieren. Das verlangsamt die WTO – bis zur Lähmung.

Minimalkonsens erreicht

 

«Ich fordere Sie nun alle auf, der Welt zu zeigen, dass die WTO lebendig und gesund ist», sagte Thani Al Zeyoudi, der Wirtschaftsminister der Vereinigten Arabischen Emirate, beschwörend bei der Eröffnung der 13. Ministerkonferenz. Diese findet in der Regel alle zwei Jahre statt, diesmal in Abu Dhabi.

Die Ministerkonferenz ist das höchste Entscheidungsgremium der WTO. Die energische Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala rief die Minister dazu auf, «die Ärmel hochzukrempeln». Es war kein gutes Zeichen, dass sie dieses Bild auch zum Abschluss der Konferenz bemühte. Vor zwei Jahren in Genf bei der letzten Ministerkonferenz gab es einige mühsam erzielte Erfolge, die zeigen sollten, dass die Organisation noch relevant ist. Von dieser Euphorie war in Abu Dhabi wenig zu spüren.

Es kam zu Minimalergebnissen nach Verhandlungen bis spät in die Freitagnacht: Beim Moratorium für Zölle auf elektronische Übertragungen wie das Herunterladen von Filmen einigten sich die Länder darauf, weiterhin keine Zölle zu erheben – aber nur bis höchstens 31. März 2026. Viele Länder hätten sich gewünscht, dies permanent zu machen.

In Genf war nach 21 Jahren Verhandlungen ein Abkommen zur Abschaffung schädlicher Subventionen in der Fischerei zustande gekommen. Eine weiterführende Einigung in diesem Bereich scheiterte nun aber. Gespräche über Agrarsubventionen wurden weiter verschoben.

Seit Jahrzehnten in der Krise

Man muss kein grosser Zyniker sein, um die WTO in einer Krise zu sehen. Nachrufe auf die Organisation gibt es schon seit langem. Die Zeiten, als es bei der Ministerkonferenz im Jahr 1999 in Seattle zu Ausschreitungen von Anti-Globalisierern kam und die Abkürzung WTO mit «World Take Over» – zu Deutsch: Übernahme der Welt – in Verbindung gebracht wurde, sind definitiv vorbei. Auch die Gegner sind müde geworden. Der Höhepunkt war die Aufnahme Chinas in die WTO im Jahr 2001. Damit begannen aber auch einige der Probleme.

Im Grunde geht das multilaterale Handelssystem seit den 1990er Jahren durch eine Krise. Nach acht abgeschlossenen Runden, in denen die Mitglieder im Konsens Handelsliberalisierungen und neue Regeln vereinbart haben, sind die als Doha-Runde bekannten Verhandlungen 2016 nach rund fünfzehn Jahren gescheitert. Seit die multilaterale Handelsliberalisierung stockt, blühen bilaterale und regionale Freihandelsabkommen auf. Sollte diese Entwicklung anhalten, wird die WTO noch weiter an den Rand gedrückt.

Die Genfer Organisation sollte ein Garant dafür sein, dass im Welthandel nicht die Macht des Stärkeren gilt. Es war jedoch ein herber Schlag, als der damalige amerikanische Präsident Donald Trump Handelskriege anzettelte. Zudem blockiert Washington seit längerem die Ernennung von Mitgliedern des sogenannten Appellate Body, der Berufungsinstanz des zweistufigen Streitschlichtungsprozesses der Organisation. Dadurch funktioniert ein Gremium nicht mehr, das im Herzen des regelbasierten internationalen Handelssystems liegt. Ein Teil des Prozesses ist aber noch in Kraft.

Das Ringen der Grossmächte

Wer gehofft hatte, dass es in den USA unter Präsident Joe Biden zu einer Kehrtwende kommt, sah sich getäuscht. Die Biden-Regierung fährt den Kurs weiter, wenn auch in gemässigterem Ton. Die amerikanische Handelsbeauftragte Katherine Tai sagte im Vorfeld der Ministerkonferenz: «Die WTO und ihre Vorgängerorganisation wurden zu einer Zeit geboren, als eine neue Weltordnung entstand. Aber heute leben wir in einer grundlegend anderen Welt.» Sie sprach sich zumindest nicht für die Abschaffung, sondern für eine Modernisierung und Anpassung aus.

An der Reformwilligkeit und der Reformfähigkeit bestehen jedoch grosse Zweifel. Indien und weitere Entwicklungs- und Schwellenländer pochen darauf, dass der Streitschlichtungsprozess wiederbelebt wird. Washington kritisiert die langen Verfahren, die ausufernden Berichte sowie die Kompetenzüberschreitung der Berufungsinstanz. Die USA drängen auf Reformen, unklar ist jedoch, wie diese aussehen sollen. In Abu Dhabi hiess es, die Verhandlungen sollen bis Ende Jahr abgeschlossen werden. Das war auch schon in Genf beschlossen worden.

 

Die WTO-Prozesse sind zudem nicht auf ein Land wie China ausgerichtet mit seinem Staatskapitalismus, seinen umfangreichen Subventionen und seinem Heer an billigen Arbeitskräften. Eines der grössten Probleme ist, wie mit als ungerechtfertigt eingestuften Subventionen zu verfahren ist. Zunächst bestand die Hoffnung, dass sich China an die Marktwirtschaften des Westens annähere. Nun scheint es so, dass sich diese vielmehr China annähern.

Die USA haben unter Präsident Biden damit begonnen, mit enormen Summen grüne Technologien zu unterstützen. Die EU schäumt und will dagegenhalten. Brüssel selbst führt einen Klimazoll ein, den Schwellenländer wie Indien als Protektionismus betrachten. Die Saat für neue Handelskonflikte ist damit ausgebracht. Es kommt hinzu, dass Donald Trump bereits angekündigt hat, die Zölle auf alle Importe und besonders auf diejenigen aus China zu erhöhen, falls er wiedergewählt werden sollte.

Das System gleicht Boxregeln

Man darf auch nicht der Illusion unterliegen, dass die sich verstärkende Rivalität zwischen den USA und China innerhalb eines multinationalen Gremiums geregelt werde. Das passiert sicherlich ausserhalb der WTO, dafür wurde sie gegründet. Diese muss sich vielmehr an den umtriebigen Zeitgeist einer zunehmend fragmentierten Welt anpassen.

Diese Aufspaltung in Blöcke ist bereits beobachtbar. Peking, Washington und auch Brüssel versuchen vermehrt, Handelspartner an sich zu binden – auch als Ersatz für ein Versagen der WTO. Länder wie Indien, Brasilien, Saudiarabien oder Südafrika sind in ihre eigenen Spiele verstrickt. Die Welt wird multipolarer.

 

Gerade die Welthandelsorganisation kann nur so stark sein, wie es die Mitgliedsstaaten zulassen. Sie steht wie alle anderen internationalen Organisationen unter Druck. Dennoch werden immer noch 75 Prozent des Welthandels unter WTO-Regeln abgewickelt. Auf einer technischen Ebene funktioniert häufig die Diskussion um Unstimmigkeiten und Konflikte.

Der Geopolitik zum Trotz treffen sich in dem Forum Vertreter der USA, Chinas, Russlands und der Ukraine. Das System der WTO gleicht Boxregeln, die die Aggressivität in geordnete Bahnen lenken und einem ungeregelten Strassenkampf vorzuziehen sind. Dafür ist sie notwendig.

Manche Handelsminister unterstreichen auch, dass es nur schon wichtig sei, mit den Gegenparts in einem solchen Gremium zu sprechen. Für ein reines Gesprächsforum braucht es die WTO aber nicht. Aber niemand sonst macht so viel für ein regelgebundenes Handelssystem, das vor allem für kleinere und mittelgrosse Länder wie die Schweiz wichtig ist.

Ein Ausweg aus dem Stillstand sind sogenannte plurilaterale Abkommen, die es bereits innerhalb des WTO-Systems gibt. Eine «kritische Masse» von Mitgliedern kann eine Vereinbarung abschliessen, die auch Ländern offensteht, die nicht daran teilnehmen. Die Devise lautet: so multilateral wie möglich, so plurilateral wie nützlich. So könnte sich die WTO neu erfinden.

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