In Niederbipp darf nichts passieren – aus der Gemeinde im Berner Mittelland wird die Medikamentenverteilung in der Schweiz organisiert Bis anhin gab es drei bedeutende Mitspieler im Grosshandel mit Medikamenten. Neu werden nur noch zwei den Schweizer Markt dominieren. Und beide steuern ihr Geschäft von Niederbipp aus.

Bis anhin gab es drei bedeutende Mitspieler im Grosshandel mit Medikamenten. Neu werden nur noch zwei den Schweizer Markt dominieren. Und beide steuern ihr Geschäft von Niederbipp aus.

Am meisten los ist beim Grossisten Avosano mittags. Dann werden die Bestellungen der Apotheken für den Versand am Nachmittag verarbeitet. (Foto: PD)

Im vergangenen Winter waren wegen einer Welle von Infektionskrankheiten Antibiotika knapp. Ein anderes Mal war es Hustensirup, oder es fehlte an bestimmten Narkosemitteln. Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten scheinen zu einem Dauerbrenner geworden zu sein, selbst in der Schweiz mit ihrem im internationalen Vergleich hochdotierten Gesundheitssystem.

Voigt und Amedis-UE fusionieren

Jemand, der hierzulande über Lieferausfälle im Medikamentenbereich wie kaum ein anderer Bescheid weiss, ist Christian Fritz, der Chef des neugebildeten Pharmagrosshändlers Avosano. Unter dem Dach von Avosano wurden per Anfang Mai dieses Jahres die Tätigkeiten der Schweizer Grossisten Voigt und Amedis-UE verschmolzen.

Das Unternehmen betreibt im bernischen Niederbipp unweit des Autobahnkreuzes bei Härkingen ein riesiges Vertriebszentrum. Es bietet auf 35 000 Quadratmetern Platz für rund 40 000 verschiedene Pharmaprodukte. Und von ihm aus schwärmen Dutzende von Kastenwagen aus, um Apotheken sowie Spitäler, Arztpraxen und Pflegeheime in der gesamten Schweiz mehrmals pro Tag mit Medikamenten zu versorgen. Der Betrieb läuft von vier Uhr morgens bis elf Uhr abends, auch samstags.

Lieferengpässe haben viele Ursachen

Lieferausfälle werden im Branchenjargon der Logistik Stock-outs genannt, und laut Fritz kommen sie immer wieder vor. Und fast jedes Mal treffe es eine andere Kategorie von Medikamenten, sagt der 62-jährige Manager, der aus einer Apothekerfamilie stammt.

Die Gründe für die Lieferausfälle sind vielschichtig. So kann es an einem grossen Abfüllbetrieb liegen, der wegen Qualitätsproblemen auf einmal vom Bannstrahl einer Aufsichtsbehörde getroffen wird und bis auf weiteres als Lieferant ausfällt. Aber auch die Häufung von Erkrankungen in einem spezifischen Bereich kann zu Lieferengpässen führen. Dies zeigte sich eindrücklich zu Beginn der Coronavirus-Pandemie, als wegen der enormen Nachfrage diverse Medikamente knapp wurden.

Das Pharmageschäft beruht auf einer stark internationalen Arbeitsteilung. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Inhalts der drei Hochregallager im Vertriebszentrum von Avosano in Niederbipp. Sie ragen schwindelerregende 23 Meter in die Höhe und bieten Platz für je knapp 8000 Paletten voll Medikamente.

Pflichtlager für den Bund

Jeden Morgen docken Lastwagen aus zahlreichen europäischen Staaten wie Italien, Frankreich oder sogar Irland in Niederbipp an. Als sogenannter Pre-Wholesaler erbringt Avosano auch Dienstleistungen für Pharmakonzerne.

Die Medikamentenhersteller lassen ihre Produkte für den Vertrieb in der Schweiz beim Unternehmen einlagern. Dazu zählen auch Pflichtlager, welche die Pharmafirmen von Gesetzes wegen unterhalten müssen. Dass die Medikamentenhersteller stets gewisse Mengen an Präparaten, die für die medizinische Versorgung als kritisch eingestuft werden, an Lager halten, wird vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) überwacht.

Ein neuer Name

Im Schweizer Gesundheitswesen ist Avosano aber vor allem wegen seiner Rolle als Grossist bekannt. An den neuen Namen werden sich Apotheker und Ärzte, die selber Medikamente in ihren Praxen abgeben, erst noch gewöhnen müssen. Doch steht schon jetzt fest, dass der neue Spieler im Schweizer Markt über eine gewichtige Stellung verfügen wird.

Fritz schätzt den Marktanteil von Avosano im Grosshandel mit Medikamenten auf 30 bis 35 Prozent. Im Bereich Pre-Wholesale geht er sogar von 40 Prozent aus. Der Pro-forma-Umsatz des neuen Konzerns, der insgesamt 750 Mitarbeiter beschäftigt, liegt bei 1,7 Milliarden Franken.

Bis zum Zusammengehen von Voigt und Amedis-UE war in der Schweiz die Firma Galexis mit Abstand der führende Pharmagrossist. Die Tochterfirma des Berner Gesundheitskonzerns Galenica, deren grösstes Verteilzentrum sich mittlerweile ebenfalls in Niederbipp befindet, bezifferte ihren Marktanteil im vergangenen Juli auf Anfrage der NZZ auf 39 Prozent bei Apotheken sowie 28 Prozent bei Ärzten mit eigener Medikamentenabgabe. Im Bereich Pre-Wholesale spricht Galenica von 42 Prozent Marktanteil.

Auf Augenhöhe mit Galexis

Avosano hat es damit geschafft, sich auf Augenhöhe mit dem bisherigen Platzhirsch zu begeben. Zugleich liegt die Distribution von Medikamenten in der Schweiz nun zum Grossteil in den Händen von nur noch zwei Grossisten.

Die Wettbewerbskommission hatte am Zusammengehen von Voigt und Amedis-UE nichts zu beanstanden und genehmigte das Vorhaben am 24. Februar 2023 ohne Einschränkungen. Dennoch stellt sich die Frage, ob wegen dieses Duopols die Hochpreisinsel Schweiz im Medikamentengeschäft nicht erst recht zementiert wird. Besonders für viel verschriebene Generika, aber auch für zahlreiche frei erhältliche Medikamente liegen die Preise in der Schweiz seit langem deutlich über jenen in den Nachbarländern.

Auch beim BWL scheint man den neuen Kräfteverhältnissen erstaunlich gelassen entgegenzusehen. Beim Zusammengehen spiele der Markt, sagte ein Vertreter der Behörde an einer Investorenkonferenz von Galenica, die Ende Oktober 2023 in Zürich stattfand. Und auf die Frage, ob die Sicherheit bei der Versorgung mit Medikamenten mit nur noch zwei bedeutenden Grosshändlern nicht Schaden nehmen könnte, meinte der Bundesangestellte: Es gebe, was den Unterhalt von Pflichtlagern anbelange, Verträge, die unverändert Gültigkeit hätten.

Welche Rolle spielt ein deutscher Grossaktionär?

Am Anlass der Galenica-Gruppe war das Geschäft von Galexis nur ein Randthema. Allerdings konnte sich Andreas Koch, der Leiter der Tochterfirma, bei seinen Ausführungen nicht ein paar kritische Bemerkungen über den neuen Hauptkonkurrenten verkneifen.

So sagte Koch, dass Avosano wie jedes frisch fusionierte Unternehmen eine Weile vorab mit sich selbst beschäftigt sein dürfte. Zugleich frage sich, wie gut es bei Schweizer Ärzten ankomme, dass hinter dem Unternehmen zur Hälfte ein deutscher Grosskonzern stehe.

Der deutsche Einfluss bei Avosano rührt daher, dass sich 50 Prozent des Aktienkapitals im Besitz von Phoenix befinden. Die Firma Phoenix, die ihren Sitz in Mannheim hat und zur Unternehmensgruppe der Familie Merckle (unter anderem auch Grossaktionärin des Zementherstellers Heidelberg Materials) zählt, ist in Europa marktführend im Grosshandel mit Medikamenten.

Voigt wahrt bedeutenden Einfluss

Im zurückliegenden Geschäftsjahr (per Ende Januar 2023) brachte es der Koloss mit 48 000 Mitarbeitern auf einen Umsatz von fast 46 Milliarden Euro. Am Schweizer Grossisten Amedis-UE hielt er ab 2007 die Mehrheit.

Bei Avosano versucht man nach Kräften, den Eindruck zu zerstreuen, bloss ein Ableger eines deutschen Riesen zu sein. So betont Fritz, dass nicht nur er als Firmenchef, sondern auch der neue Verwaltungsratspräsident Jakob Küng von Voigt stamme. Küng repräsentiert als Mitglied der vierten Generation die Eigentümerfamilie von Voigt. Die Familie Küng kontrolliert die anderen 50 Prozent des Kapitals von Avosano.

Fritz steht nun vor der Aufgabe, die Organisationen von Voigt und Amedis-UE zusammenzuführen – und gewisse Dinge aufzuräumen, wie er sagt. In einem ersten Schritt dürfte der Firmenchef vor allem gefordert sein, die gestiegene Fluktuation unter den Beschäftigten zu senken.

Der Zusammenschluss sorgt für Verunsicherung in der Belegschaft. Wie bei jeder Fusion gibt es Gewinner und Verlierer. So hat man bei Avosano beschlossen, das ältere und kleinere bisherige Vertriebszentrum von Amedis-UE im aargauischen Unterentfelden zu schliessen und als Ersatz dafür gewisse Anlagen in Niederbipp zu erweitern.

Notstromaggregate für den Fall der Fälle

Der Aufbau des Standorts in Niederbipp, der von Voigt in die Fusion eingebracht wurde, erfolgte in zwei Phasen. Die erste wurde 2011, die zweite erst 2021 abgeschlossen. Insgesamt liess sich Voigt das Vorhaben 90 Millionen Franken kosten.

«Technisch ist alles auf dem neusten Stand», versichert Fritz. So wurde der gesamte Gebäudekomplex mit Notstromaggregaten ausgerüstet. Damit ist gewährleistet, dass auch bei einem Stromausfall Medikamente sicher aufbewahrt bleiben und die Anlagen für die Zusammenstellung der Lieferungen an Apotheken und Spitäler ebenfalls ungestört weiterlaufen. In Niederbipp darf schliesslich nichts schiefgehen.

Dominik Feldges, Niederbipp, «Neue Zürcher Zeitung»

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