Der Lockruf des Geldes hat gewirkt: Das Portemonnaie gibt den Ausschlag für den Volksentscheid zu höheren AHV-Renten Die Volksmehrheit ist den Verlockungen der Gewerkschaftsinitiative zum AHV-Ausbau erlegen. Die Urnengänger zeigen, dass sie rechnen können.

Die Volksmehrheit ist den Verlockungen der Gewerkschaftsinitiative zum AHV-Ausbau erlegen. Die Urnengänger zeigen, dass sie rechnen können.

Pensionierte erhalten künftig eine höhere AHV-Rente. (Foto: Selina Haberland / NZZ)

Was will man lieber: mehr Geld oder mehr Arbeit? So präsentierten sich wohl für viele Stimmbürger die beiden AHV-Volksinitiativen für höhere Renten beziehungsweise für ein höheres Rentenalter. Das Volksverdikt vom Sonntag kann aus einer engen ökonomischen Sicht nicht überraschen: Ja zu höheren Renten, Nein zu einem höheren Rentenalter.

Die Bürger sind nicht dumm. Wer in den letzten Monaten nicht auf dem Mond lebte, weiss, dass die Gewerkschaftsinitiative für den AHV-Ausbau überhaupt keinen Wohlstand schafft, sondern diesen nur noch stärker umverteilt, als dies bisher der Fall war – von Jung zu Alt und von oben nach unten.

Gemessen an den Abstimmungsdaten zum Urnengang von 2022 über die bisher letzte AHV-Reform lässt sich abschätzen, dass über ein Drittel der Urnengänger von diesem Sonntag im Rentenalter ist und fast zwei Drittel älter als 50 Jahre alt sind. Die Mehrheit der Urnengänger wird von der nun beschlossenen AHV-Renten-Erhöhung um 8,3 Prozent per saldo profitieren: Die Erhöhung der Renten kommt für die Älteren sofort oder relativ rasch, aber die Rechnung dafür wird über Jahrzehnte verteilt und schwergewichtig von den Jüngeren bezahlt – sei dies via höhere Steuern, grössere Lohnabzüge oder ein höheres Rentenalter.

Linke plus Ältere heisst Mehrheit

Die letzte SRG-Trendumfrage vom Februar zeigte ein klares Bild: Die Älteren waren eher für die Rentenerhöhung als die Jüngeren, und die Geringverdiener waren eher dafür als die Grossverdiener. Das illustriert die zwei grossen Umverteilungskanäle in der AHV: Junge subventionieren Alte, und Reiche subventionieren Arme. Wegen der Kombination dieser Kanäle erhalten Volksinitiativen zum AHV-Ausbau traditionell deutlich mehr Zustimmung als jene 30 bis 35 Prozent, die aus dem klassischen linken Lager kommen.

Die Milchbüchleinrechnung für Initianten geht etwa so: Ungefähr ein Drittel linke Ja-Stimmen sind quasi «gesetzt», da die Linke in jeder Lebenslage für einen Ausbau der Umverteilungsmaschine AHV kämpft – somit braucht es für eine Mehrheit noch etwa 20 Prozent Ja-Stimmen von Älteren ausserhalb des linken Lagers. Aus dieser Gruppe musste somit diesen Sonntag, grob geschätzt, mindestens knapp die Hälfte mit ihrem Portemonnaie abstimmen, um eine Volksmehrheit für den Ausbau zu ermöglichen. Diese Mehrheit ist nun da. Eine wichtige Rolle dürfte die hohe Mobilisierung gespielt haben, die wohl vor allem Ältere umfasste.

Die Rechnung trifft zwar vorwiegend die Jüngeren, doch für viele Jungen ist die Altersvorsorge noch weit weg. Zudem ist die Finanzierung der Zusatzrenten noch unklar, und die Umverteilungsmechanismen des Sozialwerks sind kompliziert. Das führt zur gängigen Asymmetrie in der Altersvorsorge: starkes Interesse für den Ausbau bei den Älteren, eher verhaltener Widerstand bis Gleichgültigkeit bei manchen Jungen.

Man muss sich keine Illusionen machen. Die Opferbereitschaft der Menschen für die eigenen Kinder ist zwar enorm gross, aber für eine amorphe Masse namens «kommende Generationen» ist sie überschaubar. Das zeigt sich nicht nur in der Altersvorsorge, sondern auch in der Klimapolitik – wo hehre Grundsätze wie das Netto-Null-Ziel zum CO2-Ausstoss für 2050 zwar populär sind, aber nur bis die Rechnung dafür ins Haus flattert. Ein weiteres Lehrbuchbeispiel liefert die Energiepolitik: Der Entscheid der Schweiz zum Ausstieg aus der Atomkraft fiel nicht etwa wegen des potenziell grössten Problems dieser Energiequelle (der Hypothek der Abfälle für künftige Generationen), sondern wegen des betrieblichen «Fukushima-Risikos» von Unfällen hier und heute. So ist das Leben.

Willkommene Ausreden

Keiner hört gerne, dass er zulasten der Jüngeren leben wolle. Deshalb gehörte es zu den Kernzielen der Gewerkschaftskampagnen für höhere AHV-Renten, den Älteren bequeme Ausreden für ein Ja zu liefern. Zu den Klassikern zählte etwa das Suggerieren einer allgemeinen Altersarmut und einer soliden Finanzlage der AHV. Das waren bewusste Irreführungen. Doch zu einer freien Gesellschaft gehört auch das Recht der Bürger, offerierte Ausreden zur Beruhigung des eigenen Gewissens zu verinnerlichen.

Das Kernproblem der AHV liegt nicht in den Umverteilungen als solchen, sondern in der Tatsache, dass diese versteckt sind. Das schafft enormes Anspruchsdenken und erlaubt den Profiteuren, sich selber und anderen wahrheitswidrig einzureden, die eigene Rente voll verdient zu haben, statt Empfänger staatlicher Almosen zu sein. Die breite Verteilung von Subventionen, ohne dass diese als Subventionen offengelegt sind, erklärt die grosse Popularität der AHV.

Die Abstimmung vom Sonntag über die höheren AHV-Renten war seit dem Jahr 2000 der vierte Urnengang zu einer Volksinitiative über den Ausbau des Sozialwerks. Die drei früheren Vorlagen schafften alle über 40 Prozent Ja-Stimmen, nun sind es erstmals über 50 Prozent. Zuletzt erhielt 2016 eine Gewerkschaftsinitiative zur Erhöhung aller AHV-Renten um einen Zehntel total 40,6 Prozent Zustimmung. Mit der Alterung der Bevölkerung nehmen die Chancen für solche Vorlagen zulasten der Jüngeren fast automatisch von Jahr zu Jahr zu.

Die Alterung seit 2016 kann aber den Sprung von fast 18 Prozentpunkten zusätzlichen Ja-Stimmen innert acht Jahren selbst unter Berücksichtigung der viel höheren Mobilisierung nicht voll erklären. Zu den weiteren Ursachen gibt es nur Mutmassungen. «Objektive» Gründe liegen kaum vor, da es eine allgemeine Altersarmut heute so wenig gibt, wie es sie 2016 oder im Jahr 2000 gab, und weil die Finanzlage der Rentner im Mittel nach wie vor eher besser ist als jene der Jüngeren.

Ein Faktor hinter der markanten Verschiebung ist der allgemeine Trend zu mehr Staatsgläubigkeit – genährt vielleicht durch Wachstumsskepsis, diverse Krisen, Skandale in der Wirtschaftswelt, den Fall Credit Suisse, effektivere Kampagnen der Linken und die über 30 Milliarden Franken gesprochenen Bundesgelder während der Corona-Pandemie.

Jährliche Umfragen lassen mutmassen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Privatunternehmen gesunken ist. Einwände der Wirtschaftsverbände gegen linke Volksinitiativen finden wohl auch deshalb weniger Resonanz als früher. Das Gefühl der Abgehobenheit von Grosskonzernen, die für das breite Publikum unverständlich hohen Löhne auf den Chefetagen und zwei staatliche Subventionspakete innert 15 Jahren wegen Versagens von Grossbanken dürften hier eine wesentliche Rolle spielen. Direkt hat all dies fast nichts mit AHV-Renten zu tun. Doch nach diesem Abstimmungssonntag müssten die Bezüger hoher Cheflöhne und die Architekten von Staatskrücken für Grossbanken in den Spiegel schauen: Sie haben wahrscheinlich einen Beitrag zu diesem Volksverdikt geleistet.

Wir müssen nun über die Rechnung reden

Zu wünschen wäre, dass nun sehr rasch die Frage der Finanzierung der höheren AHV-Renten aufs Tapet kommt. Wer wenigstens noch ein bisschen Generationengerechtigkeit will, müsste einen Teil der Kosten durch eine Erhöhung des ordentlichen Rentenalters von 65 auf 66 Jahre hereinholen; das würde etwa 40 bis 50 Prozent der Zusatzkosten abdecken. Doch das wuchtige Volksverdikt vom Sonntag gegen die Initiative zum Rentenalter lässt an diesem Weg zweifeln; allerdings ging jene Initiative weit über die Erhöhung des Rentenalters um ein Jahr hinaus.

Sonst gibt es nur schlechte Alternativen. Sollen die Rentner wenigstens einen kleinen Beitrag zu den Zusatzkosten leisten, wäre zumindest ein Teil über die Mehrwertsteuer zu finanzieren. Zusätzliche Lohnabzüge wären dagegen die Höchststrafe für die Jüngeren, lägen aber in der Logik des Volksentscheids vom Sonntag: Dies würde die versteckte Umverteilung von Jung zu Alt und von oben nach unten maximieren. Aus Generationensicht sähe das Bild dann wie folgt aus: Ein 20-Jähriger müsste höhere Lohnabzüge noch 45 Jahre lang zahlen, ein 60-Jähriger nur noch 5 Jahre lang, und Rentner zahlen überhaupt nichts. Das klingt doch für die Mehrheit der Urnengänger attraktiv.

Hansueli Schöchli, Bern, «Neue Zürcher Zeitung»

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