Das Trinkgeld soll bald die AHV mitfinanzieren – doch nicht alle Gäste machen bei diesem Plan mit Ein Fünfliber fürs Personal – und bald auch fürs Sozialwerk? Der Bundesrat entdeckt das Trinkgeld als mögliche neue Einnahmequelle.
Ein Fünfliber fürs Personal – und bald auch fürs Sozialwerk? Der Bundesrat entdeckt das Trinkgeld als mögliche neue Einnahmequelle.

Der Kaffee ist getrunken, die Rechnung kommt. Jetzt noch schnell aufrunden, mit Münzen oder der Karte: Trinkgeld geben gehört in der Schweiz zum guten Ton. Sechs von zehn Gästen geben in Restaurants meistens oder immer ein Trinkgeld, wie eine neue Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Bank Cler zeigt. Und: Bargeld bleibt dabei erstaunlich beliebt.
69 Prozent der Befragten zahlen das Trinkgeld in bar. Und auch die Hälfte jener Gäste, die ihre Rechnung elektronisch begleichen, wechselt für das Trinkgeld auf Münzen oder Noten.
Manche, weil sie es bequemer finden. Andere, weil sie die persönliche Geste schätzen, die mit dem Überreichen von Bargeld verbunden ist. Den meisten Gästen aber geht es um Kontrolle: Sie möchten sichergehen, dass der Zustupf vollständig beim Servicepersonal ankommt und nicht etwa von den Restaurantbesitzern eingezogen wird.
Trotz all dem nimmt die Bedeutung von Bargeld ab. Gerade jüngere Generationen sind zunehmend ohne Portemonnaie unterwegs. Wer mit Karte oder Smartphone bezahlt, gibt häufig digital etwas dazu. In Bäckereien oder Cafés fragen Zahlterminals heute oft nach 5, 10 oder 15 Prozent Trinkgeld.
Diese Entwicklung verändert die Art, wie in der Schweiz über das Trinkgeld nachgedacht wird. Was einst diskret auf dem Tisch lag, wird zunehmend dokumentiert. Das haben nun auch die höchsten Politiker des Landes bemerkt.
Bis zu 50 Millionen Franken für die AHV
Es geht, wie so oft, um die Einnahmen des Staates. Genauer: um das Loch in der Altersvorsorge. Für die nächste grosse AHV-Reform, die 2030 ansteht, fehlen Milliarden. Der Bundesrat sucht deshalb jetzt schon nach neuen Einnahmequellen. Eine davon könnte das Trinkgeld sein.
Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider hat ihr Departement beauftragt, zu prüfen, ob eine Gesetzesänderung nötig sei, um auf elektronisch bezahltes Trinkgeld künftig Sozialabgaben zu erheben. Der Bundesrat bestätigte das vergangene Woche in der Fragestunde des Nationalrats, nachdem der «Blick» darüber berichtet hatte. Konkret würde Trinkgeld dann als Lohn gelten – und müsste entsprechend deklariert werden.
Rein rechtlich ist das bereits heute möglich: Sobald Trinkgelder einen «wesentlichen» Teil des Lohns ausmachen, sind sie beitragspflichtig. Was «wesentlich» genau heisst, lässt das Gesetz aber offen.
Viele Gastronomiebetriebe argumentieren, sie hätten keinen Überblick über die Höhe der Trinkgelder, weil diese meist bar gezahlt würden. So wandert das Trinkgeld in den meisten Fällen als Schwarzgeld in die Taschen der Arbeitnehmer. Und die Behörden sehen grosszügig darüber hinweg.
Mit der Digitalisierung ändert sich das. Elektronisch bezahlte Trinkgelder erscheinen in der Buchhaltung. «Dass der elektronische Zahlungsverkehr immer mehr zum Normalfall wird, verbessert die Nachvollziehbarkeit der Trinkgelder», schreibt Bundesrätin Baume-Schneider in einem Papier, aus dem der «Blick» zitiert.
Laut Schätzungen werden in der Schweiz jedes Jahr bis zu eine Milliarde Franken an Trinkgeldern verteilt. Würden diese konsequent als Lohn behandelt, könnten bis zu 50 Millionen Franken zusätzlich in die AHV fliessen.
Kritik von allen Seiten
In der Gastronomie kommt der Vorschlag der Regierung nicht gut an. Zwar gibt es bereits heute Betriebe, die die Trinkgelder ihrer Angestellten als Lohn ausweisen. Ein Grossteil der Gastronomen aber sperrt sich dagegen. Sie warnen vor administrativem Mehraufwand und vor allem: vor weniger Einkommen für die Angestellten.
«Trinkgelder sind weder Lohn noch Bestandteil davon», schreibt der Branchenverband Gastrosuisse und verweist auf die bereits hohen Personalkosten. Eine Integration der Trinkgelder in den Lohn würde diese Kosten in die Höhe treiben, und die Mitarbeitenden erhielten wegen der höheren Sozialversicherungsbeiträge am Monatsende weniger Geld.
Auch Thomas Geiser, emeritierter Professor für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen, hält wenig von der Idee des Bundesrats. Für ihn ist sie schlicht nicht nötig. Die geltende Rechtslage sei eindeutig, sagt er: «Trinkgelder sind Entgelt für geleistete Arbeit und damit von der Arbeitgeberin gegenüber den Sozialversicherungen abrechnungspflichtig.» Es brauche keine neue Regelung, sondern eine konsequente Umsetzung des bestehendes Gesetzes.
Auch das Bundesamt für Sozialversicherungen stuft die Rechtslage als eindeutig ein. Das geht aus einem Schreiben hervor, das der NZZ vorliegt. «Die Situation im Einzelfall» sei entscheidend dafür, ob das Trinkgeld einen «wesentlichen» Bestandteil des Lohns ausmache. Das schafft zwar Interpretationsspielraum, lässt aber am Grundsatz wenig Zweifel. Umso erstaunlicher ist das Vorgehen von Innenministerin Baume-Schneider.
Der Tessin-Trick
Bis im Herbst will der Bundesrat entscheiden, ob eine Gesetzesanpassung in die Vernehmlassung geht und wie eine solche aussehen könnte.
Parallel dazu beginnen ab Oktober die Verhandlungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag für Gastronomie und Hotellerie. Die Angestellten fordern unter anderem besser planbare Arbeitseinsätze und einen höheren Mindestlohn. Ob das Trinkgeld im GAV ein Thema sein wird, bleibt fraglich. Es könnte die Gelegenheit sein, eine seit Jahren ungeklärte Frage verbindlich zu regeln. Doch die Sozialpartner möchten an der verbreiteten Praxis nichts ändern.
Einfacher wird die Sache mit dem Trinkgeld jedenfalls nicht – weder für Gäste noch für Betriebe. Einen pragmatischen Umgang pflegt die italienischsprachige Schweiz. Laut der Trinkgeldstudie der ZHAW und der Bank Cler geben im Tessin hohe 82 Prozent der Gäste ihr Trinkgeld weiterhin in bar. Ein paar Münzen, die nach dem Mittagessen auf dem Tisch liegen bleiben, lassen sich auch künftig schwer erfassen.
Janique Weder, «Neue Zürcher Zeitung»