Noch nie gab es so viele Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankung Die Fälle von Arbeitsunfähigkeit haben dieses Jahr um 20 Prozent zugenommen. Auch die IV muss mit einer neuen Welle rechnen – besonders bei den Jungen.

Die Fälle von Arbeitsunfähigkeit haben dieses Jahr um 20 Prozent zugenommen. Auch die IV muss mit einer neuen Welle rechnen – besonders bei den Jungen.

 

Abgebrannt: Die psychischen Erkrankungen haben zuletzt stark zugenommen. Bild: unsplash

Kaum jemand weiss so gut Bescheid über die gesundheitlichen Beschwerden der Schweizer Erwerbstätigen wie Andreas Heimer von der Firma PK Rück. Seine Datenbank umfasst 250 000 Angestellte aus 6000 Firmen quer durch alle Sektoren. Sobald jemand in einem Betrieb arbeitsunfähig wird, geht auch eine Meldung an die PK Rück. Diese begleitet den Fall und leitet bei Bedarf ein Coaching ein, um die Person bei der Rückkehr zu unterstützen.

Nun zeigt Heimers Datenbank, dass die Fälle von Arbeitsunfähigkeit dieses Jahr auf einen neuen Rekordstand gestiegen sind. «Was uns am meisten Sorgen bereitet, ist die starke Zunahme aufgrund von psychischen Erkrankungen», sagt der Leiter der Abteilung Leistungen bei der PK Rück. «Wir registrieren einen Anstieg von 20 Prozent zum Vorjahr.»

Dass es sich nur um einen Nachholeffekt nach der Covid-Pandemie handelt, könne er ausschliessen. Die Zunahme spiegle einen strukturellen Trend, die erfassten Fälle seien zudem gravierend – die Dauer der Absenz betrage im Schnitt elf Monate. Heimer sieht seine Daten als Frühwarnsystem: «Hier kommt eine neue Welle auf die Invalidenversicherung zu. Denn viele der Betroffenen werden für längere Zeit nicht ins Arbeitsleben zurückkehren können oder gar für immer ausscheiden.»

Wird ein Beschäftigter arbeitsunfähig, so zahlt zunächst die Taggeldversicherung den Lohnausfall. Der grösste Anbieter, die Krankenkasse Swica, teilt auf Anfrage mit, dass sie ebenfalls eine starke Zunahme beobachte: 15 Prozent mehr Fälle aufgrund einer psychischen Diagnose seien es im laufenden Jahr, der Kostenanstieg sei gar noch höher.

Viele Fälle führen zur Kündigung

Für Heimer ist dieser Schub ein Alarmsignal: Denn laut Studien führt jede zweite Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen zur Kündigung. Klappt es nicht mit einer neuen Stelle, so landen diese Fälle spätestens nach zwei Jahren bei der Invalidenversicherung. Um dies zu verhindern, brauchten die Betroffenen Unterstützung – doch sei diese heute häufig ungenügend: «Als Case Manager rechnen wir für ein Integrations-Coaching mit einem Budget von 8000 bis 15 000 Franken Dagegen kostet eine IV-Rente ein Vielfaches davon – im Schnitt sind es 460 000 Franken»

Was Andreas Heimer beunruhigt, sind aber nicht allein die zunehmenden Fallzahlen. Er stelle zudem fest, dass neue Krankheitsbilder immer mehr auf dem Vormarsch seien. Dazu zählt er namentlich posttraumatische Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, das Fatigue-Syndrom oder das Post-Covid-Syndrom. «Für diese neuartigen Beschwerden gibt es oft keine klare therapeutische Entscheidung, stattdessen besteht ein grosser Spielraum bei der Interpretation.»

Naheliegend ist die Frage: Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie für diesen Anstieg? Er sehe höchstens eine indirekte Kausalität, lautet Heimers Antwort. Man könne dies vergleichen mit dem Aufkommen der Burnouts vor etwa zehn Jahren. Ein wichtiger Faktor sei damals die geänderte Wahrnehmung in der Öffentlichkeit gewesen: «Depressionen waren schon vorher verbreitet, doch wurden die Symptome versteckt. Erst als Prominente und Topmanager ihr Burnout bekanntmachten, wurde die Krankheit salonfähig.»

Eine ähnliche Entwicklung beobachte er nun bei der Post-Covid-Diagnose. «Eine Störung der Konzentration oder ein Fatigue-Syndrom galten vor Corona als Stigma. Die Pandemie hat diese Wahrnehmung verschoben: Heute kann man sich einfacher mit einer solchen Erkrankung outen, wenn sie durch das Virus ausgelöst oder verstärkt wurde.»

Das Gefährliche an den neuartigen Erkrankungen sei das Konfliktpotenzial, warnt Andreas Heimer: Denn je unschärfer die Diagnose, desto eher könne man diese auch wieder infrage stellen. «Wer ein psychisches Leiden hat, empfindet die Krankschreibung zunächst als Erleichterung. Dass die Absenz am Arbeitsplatz aber häufig zu neuen Problemen führt, ist vielen zu wenig bewusst.»

Die IV kann eine Rente widerrufen

Gemäss Statistiken erreicht die Chance für eine erfolgreiche Wiedereingliederung nach einer dreimonatigen Abwesenheit noch 80 Prozent. Bereits nach einem Jahr indes sinkt diese Wahrscheinlichkeit auf unter 20 Prozent. Für die Erkrankten bestehe damit das Risiko, dass sie am Ende zwischen Tisch und Bank fallen, erklärt Heimer: «Bei einem diffusen Krankheitsbild kann es vorkommen, dass die IV in einer späteren Begutachtung das Recht auf eine Rente widerruft. Wer dann ohne Job dasteht, hat viel schlechtere Karten, um in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.»

Ralph Mager bestätigt die Gefahr, dass sich manche Betroffene zunächst in einer trügerischen Sicherheit wähnen könnten. Mager ist Präsident der Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie und Professor der Universität Basel. «Selbst wenn eine IV-Rente gewährt wird, ist eine Aberkennung aufgrund der üblichen Prüfungen nicht auszuschliessen.» Dies führe dann zu sehr schwierigen Situationen sowie deutlich eingeschränkten Chancen auf eine berufliche Reintegration.

Bis zur erneuten Begutachtung vergehen oft drei oder auch mehr Jahre, erklärt Mager. Komme diese zu einer anderen medizinischen Einschätzung, so bleibe im schlimmsten Fall nur der Gang zur Sozialhilfe. «Ein Problem ist dabei auch, dass bei bestimmten psychischen Störungen die Abgrenzung zu nicht krankheitswerten Auffälligkeiten besonders schwierig ist.» Eine Fehleinschätzung sei oft folgenreich – zumal die Gutachter nicht immer über genügend Ressourcen verfügten, um die notwendige Tiefe in den medizinischen Untersuchungen zu gewährleisten.

Der Zürcher Psychiater und Coach Andreas Canziani ergänzt: «Vor allem solche Leiden, die sich in Form von Sorgen, Ängsten und ähnlichen Beeinträchtigungen des Befindens äussern, stellen die Ärzte vor eine grosse Herausforderung. Manche Patienten haben sich vorgängig im Internet informiert und erwarten von mir lediglich eine Bestätigung für ihre bereits gestellte Diagnose.» Wenn er beim Patienten jedoch nachhake, stelle er womöglich fest, dass ein ungelöster Streit am Arbeitsplatz die Symptome ausgelöst habe. «Statt Betroffene auf die Krankenrolle zu reduzieren, ist eine zügige Klärung des Konflikts und die Entwicklung von Szenarien für die Zukunft ein wichtiger Genesungsfaktor.»

Dass die Invalidenversicherung bei den Arztzeugnissen kritischer hinschaut, liegt auch am Kostendruck. Allein letztes Jahr verzeichnete sie nahezu 9000 Neurentner mit psychischen Erkrankungen – das entspricht einem Plus von 16 Prozent zum Vorjahr. Jede zweite Rente hat inzwischen psychische Ursachen. Dramatisch ist die Zunahme bei den Jungen, wo dieser Anteil schon 70 Prozent erreicht. Bei den 18- bis 24-Jährigen ist die Zahl der Neurentner mit einem psychischen Leiden viermal so hoch wie vor 25 Jahren.

Schon jetzt schreibt die IV Defizite, zudem schuldet sie der AHV mehr als 10 Milliarden Franken Dass nun vermehrt Junge eine Rente benötigen, treibe die Kosten ebenfalls nach oben, sagt Andreas Heimer. «Für die Versicherung entsteht eine doppelte Belastung: Wir haben mehr Fälle, und diese werden mit der längeren Rentendauer erst noch teurer.»

Die Gründe für den Anstieg bei den Jungen stellen viele Fachleute vor ein Rätsel: Ist die Generation verweichlicht, wie Kritiker sagen, und kann sie mit Widerständen im Leben weniger gut umgehen? Oder ist es im Gegenteil die rasante gesellschaftliche Umwälzung, welche die Psyche stärker belastet? «Wir sollten wegkommen von Schuldzuweisungen – egal, auf welche Seite», sagt Heimer. «Entscheidend ist für mich, dass es mit den heutigen Prozessen zu wenig gut gelingt, diese Menschen im Arbeitsleben zu halten.»

Schablonenartige Antworten helfen somit kaum, um diese Welle neuartiger psychischer Erkrankungen zu bremsen. Wichtiger wäre vielmehr, die hohe Quote der Berufsaussteiger zu senken. Schon nur, damit die Finanzen der IV nicht weiter aus dem Lot geraten.

Albert Steck, «NZZ am Sonntag»

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