Chefs sollen empathisch sein – aber wie? Hier sind die grössten Missverständnisse bei Emotionen im Büro Gefühle sollen in Unternehmen mehr Platz haben. Doch was heisst das im Arbeitsalltag?

Gefühle sollen in Unternehmen mehr Platz haben. Doch was heisst das im Arbeitsalltag?

Wie viele Emotionen soll man am Arbeitsplatz zeigen? Bild: unsplash

«Du bist viel zu emotional, das untergräbt deine Autorität» – dieses Feedback hat Magdalena Rogl vor einigen Jahren von ihrer Arbeitskollegin erhalten. Sie hatte lange Zeit als Kinderpflegerin gearbeitet, bevor sie in die Unternehmenswelt wechselte. «Ich war ein empathisch geprägtes Arbeitsumfeld gewohnt und hatte zunächst grosse Schwierigkeiten, mich an die neue Arbeitsatmosphäre zu gewöhnen», sagt Rogl, die heute als Leiterin Diversity & Inclusion bei Microsoft Deutschland tätig ist. Die Aussage der Kollegin habe sie getroffen, gleichzeitig aber auch angespornt, sich näher damit auseinanderzusetzen, wie man am Arbeitsplatz am besten mit Emotionen umgeht. Sie hat dazu auch ein Buch geschrieben mit dem doppeldeutigen Titel «MitGefühl».

Nicht nur in der Rolle funktionieren

«Wir arbeiten zufriedener, innovativer und erfolgreicher, wenn wir bei der Arbeit unsere ganze Persönlichkeit einbringen und nicht nur in unserer Rolle funktionieren», sagt Rogl. Die Voraussetzung dafür sei, dass Emotionen in Firmen Platz hätten.

«Wir sollten bei der Arbeit unsere ganze Persönlichkeit einbringen», sagt Magdalena Rogl, Leiterin Diversity & Inclusion bei Microsoft Deutschland. Bild: PD

Mit diesen Aussagen stösst sie auch auf Widerstand. «Wenn alle heulen, kommt man ja gar nicht mehr zum Arbeiten», bekommt sie nicht selten zu hören. Wenn es um Emotionen am Arbeitsplatz geht, denken offenbar viele eher an Traurigkeit oder Ärger als an Freude oder Begeisterung. «Es ist auch gar nicht die Idee, Gefühle ungefiltert auszuleben», sagt die Managerin. Es gehe vielmehr darum, am Arbeitsplatz empathisch miteinander umzugehen.

Das Konzept der emotionalen Intelligenz

Die Bedeutung des Einfühlungsvermögens und eines intelligenten Umgangs mit den eigenen Emotionen wurde in den neunziger Jahren unter dem Begriff «emotionale Intelligenz» bekannt. Das Konzept geht auf die amerikanischen Psychologen John D. Mayer und Peter Salovey zurück; weltbekannt wurde es im Jahr 1996 mit der Veröffentlichung des Buches «EQ. Emotionale Intelligenz» von Daniel Goleman. Mit dem EQ ist die Fähigkeit gemeint, Informationen über die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer zu verarbeiten.

Wie Golemans Untersuchungen zeigen, brauchen zwar alle Führungskräfte in den oberen Chefetagen einen hohen Intelligenzquotienten, um ihren Job zu erledigen. Ob die Leistung eines Firmenchefs durchschnittlich ist oder ob er die Firma besonders gut führt, hängt aber hauptsächlich von seiner emotionalen Intelligenz ab. Auch bei CEO, die weniger gut abschneiden als der Durchschnitt, lässt sich deren Leistung auf ihre schwächeren Fähigkeiten im Umgang mit Emotionen zurückführen.

Wie ticke ich?

Das Konzept emotionale Intelligenz beruht auf den Säulen Selbstwahrnehmung, Selbstmanagement, Motivation, Einfühlungsvermögen und Beziehungsmanagement. Mit Selbstwahrnehmung ist die Fähigkeit gemeint, seine Gefühle, die Stärken und Schwächen, die Motivationen und eigenen Werte zu erkennen und zu verstehen, wie sie das eigene Verhalten beeinflussen. Wer eine gute Selbstwahrnehmung hat, schätzt sich realistischer ein und ist mit sich und anderen ehrlicher.

Ein Angestellter, der beispielsweise von sich weiss, dass er jeweils kurz vor dem Abgabetermin stark unter Druck gerät, wird frühzeitig mit dem Projekt anfangen und mehr Puffer einplanen. Und die Mitarbeiterin, die sich vor Aufträgen kaum mehr retten kann und weiss, dass es ihr schwerfällt, Nein zu sagen, springt über ihren Schatten und lehnt weitere Anfragen ab.

Um die Selbstwahrnehmung zu stärken, rät Rogl, während des Arbeitstages ab und zu innezuhalten, seine Gefühle wahrzunehmen und am Abend zu reflektieren, was gut und was weniger gut gelaufen ist. Ausserdem sei es sinnvoll, ehrliches Feedback von verschiedenen Menschen einzuholen, die einen gut kennen.

Ein Wutausbruch ist kein Zeichen von Stärke

Das Selbstmanagement baut auf der Selbstwahrnehmung auf und beschreibt die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren. Ärgert sich beispielsweise der Chef über einen Mitarbeitenden, nimmt er seine eigene Emotion wahr, reguliert sie und handelt erst, wenn er wieder einen kühlen Kopf hat. «Ein Wutausbruch des Chefs ist kein Zeichen von Stärke», sagt Rogl. Vielmehr gehe es darum, trotz Wut im Bauch umsichtig zu agieren.

Manchmal wird fälschlicherweise angenommen, dass ein Mensch, der seine Gefühle regulieren kann, ein «kalter Fisch» sei. Dies ist jedoch nicht der Fall: Wer erfolgreiches Selbstmanagement betreibt, unterdrückt seine Emotionen nicht, sondern spürt sie, hält kurz inne und reagiert, wie er dies in der Situation als angemessen empfindet. Das hört sich zwar einfach an, ist jedoch nicht leicht umzusetzen. «Auch mir gelingt das längst nicht immer», sagt Rogl. Zentral sei dabei die Selbstwahrnehmung. Je mehr man darüber wisse, wie man selber ticke, desto einfacher werde es. Und wenn man in einer Situation zu heftig reagiert habe, sollte man sich entschuldigen.

Mit der Motivation, einem weiteren Pfeiler der emotionalen Intelligenz, ist der innere Antrieb gemeint. Angestellte, denen ihre Tätigkeit Spass und Freude bereitet, inspirieren auch andere. Wer ein gutes Einfühlungsvermögen hat, kann sich in andere hineinversetzen und ihre Gefühle, Sorgen und Perspektiven nachvollziehen. Teilt beispielsweise ein Mitarbeiter seiner Chefin mit, dass er einen Schicksalsschlag erlitten hat, hört sie zu, zeigt Verständnis, nimmt daran Anteil und fragt, wie sie ihn am besten unterstützen kann. «Manchmal hilft es auch, den Ort zu wechseln und zum Beispiel spazieren zu gehen», sagt Rogl. Nicht zielführend sei es dagegen, vermeintliche Lösungen zu präsentieren oder das Geschehene zu verharmlosen («Sieh es doch einmal positiv, du hast einen tollen Job und eine tolle Familie»).

Ein «netter» Chef

Aber es reiche doch nicht, eine nette Chefin oder ein netter Chef zu sein, mögen manche einwenden. Sie haben dabei vielleicht eine Führungskraft vor Augen, die engagiert und respektvoll ist, aber keine Visionen hat und sich gegenüber anderen nicht durchsetzen kann. Hier kommt der Pfeiler Beziehungsmanagement zum Tragen. Dabei geht es um die Fähigkeit, echtes Vertrauen und Verbundenheit mit anderen aufzubauen. Einer emotional intelligenten Führungskraft gelingt es, schwieriges Feedback zu geben, andere zu begeistern und Konflikte auszutragen. Sie kann sich in unterschiedliche Perspektiven hineinversetzen, ihren eigenen Standpunkt klar vertreten und ihre Erwartungen an das Team präzise formulieren, ohne Mitarbeitende zu beschuldigen oder ihnen zu drohen.

Doch was ist mit einem Manager, der es nicht übers Herz bringt, Mitarbeitende zu entlassen, mit der Folge, dass die Firma in grosse Schwierigkeiten gerät? Kann man auch zu viel Empathie haben? Eine emotional intelligente Führungskraft verschliesst nicht die Augen vor unangenehmen Tatsachen, reagiert aber trotzdem empathisch. Ein Beispiel: Nach der Ankündigung einer Fusion muss der Bereichsleiter seinen Mitarbeitenden mitteilen, dass Arbeitsplätze abgebaut werden. Ist er gefangen in seiner Angst, selbst seinen Sessel räumen zu müssen, wird es ihm nicht gelingen, auf die Sorgen der Mitarbeitenden einzugehen. Ist er dagegen empathisch, weiss er intuitiv, wie es den anderen geht. Er kann seine eigenen Bedenken zugeben und macht keine falschen Versprechungen.

Gefahr der Manipulation

Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, kann aber auch problematisch sein. Dann nämlich, wenn Menschen ihr Einfühlungsvermögen einsetzen, um ihre Ziele besser durchsetzen zu können. Sie erkennen, was andere denken und fühlen, ohne jedoch wohlwollend zu sein und sie zu unterstützen. Dies kann beispielsweise dazu führen, dass Chefs ihre Mitarbeitenden dazu bringen, immer «die Extrameile» für sie zu gehen und sich bis zur Erschöpfung für das Unternehmen einzusetzen. «Es besteht eine grosse Gefahr, dass Menschen ihre Gefühle nur vorspielen und ihre Emotionen einsetzen, um andere zu manipulieren», sagt Rogl. Fraglich sei allerdings, wie lange diese Strategie funktioniere: «Menschen haben ein feines Sensorium dafür, was echt ist und was nicht.»

Häufig passiert dies aber auch unbewusst, weil die Person durch ihr Verhalten Bestätigung sucht. Sei es beispielsweise, dass der Mitarbeiter einem Arbeitskollegen beim Lösen eines Problems hilft, um sich als «Retter» zu fühlen. Oder sei es, dass die Chefin an der Teamsitzung den Mitarbeitenden zwar aufmerksam zuhört und auf sie eingeht, gleichzeitig aber bereits von Beginn an eine starke Meinung zum Thema hat: Sie möchte auf jeden Fall recht behalten. Oder eine Führungskraft holt bei den Mitarbeitenden Feedback zu ihren Stärken und Schwächen ein, signalisiert aber gleichzeitig, dass sie nur hören will, dass es an ihrem Verhalten nichts zu kritisieren gebe.

Einfühlungsvermögen ist lernbar

Wie emotional intelligent jemand ist, hat nicht nur mit seiner Veranlagung zu tun. Es kommt auch darauf an, ob die Person eher gewohnt ist, kognitiv und analytisch zu denken, oder die Beziehung zu anderen Menschen im Vordergrund steht. Beide neuronalen Netzwerke, das analytische und das empathische, sind wichtig. «Sie lassen sich wie Muskeln trainieren», sagt Rogl. Wer empathischer werden möchte, reflektiert sich selber, lässt Emotionen zu und konzentriert sich darauf, sein Gegenüber zu verstehen, ohne bereits zu überlegen, welchen Ratschlag er der Person erteilen will.

In einem empathisch geprägten Arbeitsumfeld wertschätzen und respektieren sich die Teammitglieder. Sie erfüllen nicht nur ihre Rolle, sondern bringen sich als Menschen mit ihrer ganzen Persönlichkeit ein. Die Angestellten bitten einander um Unterstützung, sprechen Lob sowie Kritik aus und bringen neue Ideen ein. Dies ist entscheidend. Denn ein Mitarbeiter wird einen unkonventionellen Vorschlag lieber für sich behalten, wenn er Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen, und weitere Nachteile für sich befürchtet. Wenn er dagegen weiss, dass im Team Vorschläge offen diskutiert werden, traut er sich, die Idee einzubringen. Stösst sein Vorschlag nicht auf Anklang oder stellt er sich in der Praxis als untauglich heraus, ist das für den Mitarbeiter in einem solchen Arbeitsumfeld kein Problem.

Weshalb Empathie wichtiger wird

Am Arbeitsplatz Raum für Emotionen zu schaffen und intelligent mit Gefühlen umzugehen, dürfte in Unternehmen weiter an Bedeutung gewinnen. Zum einen können es sich Firmen angesichts des Fachkräftemangels immer weniger leisten, ihre Mitarbeitenden nicht wertzuschätzen. Sie müssen ein Arbeitsumfeld bieten, das Talente anzieht.

Zum andern müssen Unternehmen innovativer und anpassungsfähiger werden, um in rasch wandelnden Märkten bestehen zu können. Hierarchien werden dadurch flacher, und die Zusammenarbeit im Team gewinnt an Bedeutung. An die Stelle von engen Vorgaben und einer Steuerung der Menschen über Leistungsbeurteilungen treten vermehrt das Kommunizieren auf Augenhöhe sowie selbständiges, kreatives Arbeiten im Team. In einem solchen Umfeld werden auch die empathischen Fähigkeiten von Führungskräften wichtiger. Alle Teammitglieder lernen voneinander – auch die Chefin vom Praktikanten.

Ein weiterer bedeutender Faktor, der die Fähigkeit zur Empathie und den Umgang mit Emotionen wichtiger werden lässt, ist die rasche Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI). Analytische Aufgaben wie Planen, Messen oder das Abarbeiten von definierten Aufgabenbereichen können vermehrt von künstlicher Intelligenz übernommen werden. Ganz anders sieht es jedoch mit den emotionalen Fähigkeiten aus, die den Menschen angeboren sind: Eine KI kann sich nicht spüren und daher auch nicht empathisch sein.

Natalie Gratwohl, «Neue Zürcher Zeitung»

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