Der Regenbogen leuchtet in vielen Firmen. Aber eine grosse Bevölkerungsgruppe profitiert von den Anstrengungen zur Förderung der Diversität kaum Menschen mit Einschränkungen haben es im Arbeitsmarkt schwer. Oft bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in einer geschützten Werkstätte oder gar nicht erwerbstätig zu sein. Doch es gibt erste, auch grosse Firmen wie den Anlagenbauer Skan oder die Modekette H&M, die bewusst Behinderte beschäftigen.

Menschen mit Einschränkungen haben es im Arbeitsmarkt schwer. Oft bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in einer geschützten Werkstätte oder gar nicht erwerbstätig zu sein. Doch es gibt erste, auch grosse Firmen wie den Anlagenbauer Skan oder die Modekette H&M, die bewusst Behinderte beschäftigen.

 

Akam Rahmanzadeh arbeitet als einer von drei behinderten Mitarbeitern beim Anlagenbauer Skan im Innendienst. Bild: PD

Der Regenbogen leuchtet in vielen Firmen. Die meisten Schweizer Grossunternehmen bekennen sich heutzutage explizit dazu, offen für Mitarbeiter aller sexuellen Orientierungen zu sein. Grossgeschrieben wird auch die Nichtdiskriminierung von Beschäftigten jeglicher geografischer Herkunft sowie von Frau und Mann. Aber eine grosse Bevölkerungsgruppe profitiert von den Anstrengungen zur Förderung der Diversität in der Arbeitswelt noch kaum: Menschen mit einer körperlichen, psychischen oder geistigen Beeinträchtigung.

Patrons mit sozialer Ader

Es gelingt vergleichsweise wenigen Behinderten, eine Stelle im regulären Arbeitsmarkt zu erhalten und sich damit nicht nur unter ihresgleichen zu bewegen. Noch immer seien es meist kleine Familienbetriebe, die Menschen mit Handicap eine Chance gäben, sagt Thomas Bräm, der selbst 15 Jahre lang eine Behindertenwerkstätte leitete und seit 2014 mit Mitschaffe.ch eine Personalvermittlungsfirma für Behinderte führt. «Diese Unternehmen machen das, weil es dem Patron wichtig ist.»

Grossfirmen, die bewusst Mitarbeiter mit Einschränkungen beschäftigen, bilden im Gegensatz dazu noch immer eine kleine Gruppe. Eine von ihnen ist der Haushaltgerätehersteller V-Zug. Das Unternehmen lässt in seiner Kühlschrankfabrik im thurgauischen Sulgen Personen mit Einschränkungen einfachere Tätigkeiten ausführen, beispielsweise im Bereich der Verpackung. Es arbeitet dabei mit einem externen Partner, der St. Galler Firma Obvita, zusammen, die aus dem Ostschweizerischen Blindenfürsorgeverein hervorgegangen ist.

Neues Thema an Bilanzmedienkonferenzen

Der Industriekonzern schrieb in seinem letztjährigen Nachhaltigkeitsbericht dazu: «Wir fördern den Geschlechter- und Generationenmix aktiv und bemühen uns, dass Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihre Stärken ebenso für unsere Marke einsetzen können.»

Das Management von V-Zug sprach dieses Engagement auch an der jüngsten Bilanzmedienkonferenz im vergangenen März an. Noch ausführlicher äusserte sich zur Inklusion Behinderter die Geschäftsführung des Baselbieter Anlagenbauers Skan. Der Konzernchef Thomas Huber sagte, als er die letztjährigen Geschäftszahlen präsentierte: «Diversity ist für uns ein wichtiges Thema. Es geht aber nicht nur um Männchen und Weibchen. Wir stellen auch Behinderte ein.»

Huber präzisierte, dass bei Skan am Hauptsitz in Allschwil drei geistig behinderte Menschen mitarbeiteten. Sie würden im Bereich des Facility-Managements eingesetzt. Dem Manager imponiert, wie das Trio über Leistungen des Fussballklubs Basel spricht – ein Thema, das auch viele andere Mitarbeiter der Firma in ihrer Freizeit umtreibt. Huber sagte zudem: «Diese Leute haben nun einen richtigen Job und sind nicht bloss in einem Heim tätig.»

Es geht um Rücksichtnahme und nicht um Produktivität

Die drei behinderten Mitarbeiter kümmern sich um die interne Post und erledigen einfache Aufgaben im Bereich der Hauswartung. Der Beitrag, den sie zur Produktivität des Unternehmens leisten, ist bescheiden. Doch für die sonst leistungsstarke Firma, die sich eines hohen Wachstums erfreut, scheint dies ohnehin nicht im Zentrum zu stehen. Die Beschäftigung Behinderter wird vielmehr als Bestandteil einer Kultur der Wertschätzung und der gegenseitigen Rücksichtnahme gesehen, auf die man bei Skan grossen Wert legt.

Das Unternehmen, dessen Kunden grösstenteils aus der Pharmabranche stammen, ist ein Kunde von Mitschaffe.ch. Der Schaffhauser Personalverleiher kümmert sich um das gesamte Administrative. Dazu gehört auch der Austausch mit der Invalidenversicherung, bei der die von Mitschaffe.ch vermittelten Arbeitskräfte in der Regel versichert bleiben. Zudem stellt das Unternehmen seinen Kunden einen Coach zur Seite, um offene Fragen zu beantworten.

Ihren Arbeitsvertrag, der laut Bräm meist unbefristet ist, erhalten die Behinderten von Mitschaffe.ch. Sie arbeiten im Stundenlohn, wobei der Personalverleiher, wie dies in der Branche Usus ist, von den Arbeitgebern zusätzlich eine Gebühr für seine Leistungen verlangt.

Bräm gründete seine Firma 2014 allein. Mittlerweile sei man zu sechst und betreue insgesamt 145 Behinderte.

Benachteiligt wegen Lese- oder Rechenschwäche

Der Personalvermittler sieht ein grosses Potenzial für weitere Einstellungen, denn die Zahl der von körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen Betroffenen ist hoch. Laut dem Bundesamt für Statistik lebten in der Schweiz 2020 – neuere Zahlen liegen noch nicht vor – 315 000 Personen, die wegen Behinderungen in ihrem Alltag und von ihren Fähigkeiten her stark eingeschränkt sind. Insgesamt wurden vor drei Jahren fast 1,5 Millionen Menschen mit Behinderungen gezählt.

Typischerweise fallen darunter nicht nur Leute, die beispielsweise wegen einer Lähmung oder fehlender Sehkraft auf grosse Hindernisse stossen. Auch Menschen, die zum Beispiel mit einer Rechen- oder einer Leseschwäche kämpfen, werden dazugerechnet.

Obschon in der Schweiz so gut wie Vollbeschäftigung herrscht und sich Firmen landauf, landab über fehlende Arbeitskräfte beklagen, fällt auf, wie viele Menschen mit Behinderungen nicht erwerbstätig sind. 2019 waren es unter allen 16- bis 64-Jährigen fast 32 Prozent.

In der Unterkategorie der Behinderten mit starken Einschränkungen wurden sogar sechs von zehn Betroffenen in dieser Altersgruppe als nicht erwerbstätig erfasst. 2007 war dies erst bei der Hälfte der Fall gewesen. Bei Menschen ohne Behinderung beschränkte sich der Anteil der Personen, die keiner bezahlten Arbeit nachgingen, 2019 wie schon 2007 auf rund 16 Prozent.

Manche Behinderungen sind derart gravierend, dass sie keinerlei Arbeitstätigkeit erlauben. Zugleich scheinen viele Menschen, die trotz einem Handicap arbeiten könnten, keine andere Wahl zu haben, als in einem geschützten Rahmen tätig zu sein. Anbieter entsprechender Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es in der wohlhabenden Schweiz in grosser Zahl. Es sind so viele, dass manche Beobachter von einer «Industrie» sprechen, die auf die vermeintlichen Bedürfnisse Behinderter zugeschnitten sei.

Geschützte Werkstätten wachsen

Der Dachverband der Dienstleister für Menschen mit Behinderung Insos zählt rund 1000 Mitglieder. Rund 250 der angeschlossenen Betriebe bieten Arbeitsplätze für Leute mit einem Handicap an – die meisten von ihnen im Rahmen geschützter Werkstätten. Die Gesamtzahl der Behinderten, die bei sogenannten «Unternehmen der Arbeitsintegration» beschäftigt sind, wird vom Verband auf 25 000 geschätzt.

Zahlen zur Beschäftigung Behinderter in geschützten Werkstätten werden vom Bundesamt für Statistik seit einigen Jahren nicht mehr erfasst. 2013, zum Zeitpunkt der letzten Erhebung, hatte die Behörde erst 18 000 derart erwerbstätige Behinderte gezählt. Dies deutet darauf hin, dass geschützte Werkstätten, die stark von Leistungen der Invalidenversicherung und Zuwendungen der öffentlichen Hand abhängig sind, ihr Angebot tendenziell erweitert haben.

H&M gibt Behinderten eine Chance

Unter den Grossunternehmen, die sich in der Schweiz aktiv um die Inklusion behinderter Mitarbeiter bemühen, befindet sich auch der schwedische Modekonzern Hennes & Mauritz (H&M). Romy Mann-Sangkuhl hat sich als Verantwortliche im Bereich Talent-Management des Themas angenommen und treibt es voran. Gestartet wurde laut ihren Angaben im vergangenen Sommer. Mittlerweile beschäftige man fünf Personen mit Beeinträchtigungen, die auf verschiedene Verkaufsläden des Unternehmens verteilt seien.

Angesichts von rund 1900 Mitarbeitern, die H&M in der Schweiz zählt, ist das noch eine verschwindend kleine Zahl. Mann-Sangkuhl betont indes: «Wir sind offen für weitere Einstellungen.»

Dies gilt auch für den deutschen Pharma- und Chemiekonzern Merck, der in der Schweiz über 2600 Angestellte hat und sich ebenfalls von Mitschaffe.ch zwei Mitarbeiter mit Einschränkungen vermitteln liess. Laut dem Unternehmen laufen derzeit weitere Einstellungsverfahren.

Bei H&M ist einer der beschäftigten behinderten Mitarbeiter an den Rollstuhl gefesselt. Er verbringt seine Arbeitszeit unter anderem damit, Kleider zu bügeln, damit sie in der Filiale schöner präsentiert werden können. Andere Mitarbeiter werden in der Kundenberatung eingesetzt. Eine solche Tätigkeit könne auch jemand ausüben, der beispielsweise an einer Rechenschwäche leide, sagt Mann-Sangkuhl. «Wir verzichten dann darauf, dieselbe Person an der Kasse einzusetzen.»

Eignung zeigt sich schnell

Nach Einschätzung von Mann-Sangkuhl sieht sich H&M generell als inklusiver Arbeitgeber. Man lege nicht so viel Wert auf bestimmte Ausbildungen. Entscheidender sei, dass sich die Mitarbeiter für Mode interessierten und gut kommunizieren könnten.

Ob jemand geeignet ist, zeigt sich nach Erfahrung von H&M schon nach kurzer Zeit. Sämtliche bisher eingestellten Mitarbeiter mit Handicap kamen erst zum Schnuppern. Laut Mann-Sangkuhl klappte es bei allen Interessierten auf Anhieb mit der Anstellung. Eine Person verliess indes das Unternehmen nach einer Weile, weil ihr die Arbeit im Verkaufsladen körperlich zu anstrengend war. Das komme aber auch bei anderen Beschäftigten vor, sagt die Personalmanagerin.

Vorsicht vor zu hohen Erwartungen

Eine Herausforderung für sämtliche Firmen, die sich um die Inklusion von Behinderten bemühen, sind Unsicherheiten in der bestehenden Belegschaft. Mangels Erfahrung wisse oft niemand so recht, wie man Menschen mit einem Handicap führe, sagt Bräm. Der Geschäftsführer von Mitschaffe.ch empfiehlt denn auch, Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen sowie deren Vorgesetzte genau darüber aufzuklären, was ein Behinderter könne und was nicht. Niemandem sei gedient, wenn es zu Überforderungen komme.

Bräm warnt auch davor, von Menschen mit einem Handicap eine zu grosse Leistungssteigerung zu erwarten. «Für unsere Leute steht nicht im Vordergrund, sich beruflich zu entwickeln. Sie sind in erster Linie einfach froh, dazuzugehören.» Das Schöne daran, fügt Bräm hinzu, sei auch, dass ihre Freude an der Arbeit positiv auf andere Beschäftigte abstrahle.

Automatisierung beseitigt viele einfache Tätigkeiten

Ein Vorbehalt, den Bräm aus Kreisen von potenziellen Arbeitgebern immer wieder zu hören bekommt, ist, dass es in der heutigen hoch automatisierten und digitalisierten Arbeitswelt nur noch sehr eingeschränkt Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen gebe. Der Personalvermittler räumt ein, dass besonders in der Industrie, aber auch in vielen Dienstleistungsbetrieben viele unqualifizierte Tätigkeiten verschwunden seien.

Zugleich stellt Bräm fest, dass immer wieder Bedarf an der Ausführung einfacher Arbeiten entsteht. So vermittelte Mitschaffe.ch im Rahmen eines sechsmonatigen Einsatzes einer Regionalbank drei behinderte Mitarbeiter. Diese scannten Hunderte älterer Dossiers von Hypothekarschuldnern ein. Zuvor waren diese Unterlagen nur in Papierform vorhanden gewesen.

Knappheiten am Arbeitsmarkt helfen

Mitschaffe.ch vermittelte in den ersten Jahren nach der Gründung fast ausschliesslich behinderte Arbeitskräfte an KMU. Seit zwei Jahren erhält die Firma jedoch vermehrt Anfragen von Grossfirmen. Bräm erklärt sich dies so: «Das Thema Inklusion ist ganz nach oben auf der Prioritätenliste von Unternehmen gelangt, und die Einbindung von Mitarbeitern mit Handicap zählt dazu.»

Bräm ist denn auch optimistisch, dass Behinderte, die in der Schweiz nicht nur im gesellschaftlichen Alltag, sondern auch in der Arbeitswelt oft noch immer an den Rand gedrängt werden, zunehmend eine Chance auf eine Anstellung im regulären Arbeitsmarkt erhalten. Die wachsenden Knappheiten am Arbeitsmarkt, sagt er, spielten ihnen zusätzlich in die Hände.

Dominik Feldges, «Neue Zürcher Zeitung»

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