Die Transsibirische Eisenbahn erhält Konkurrenz: Immer mehr Güterzüge rattern via Istanbul nach Peking Güter über Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan nach China zu transportieren, ist deutlich aufwendiger als mit der Transsibirischen Eisenbahn. Doch die Route hat einen grossen Vorteil: Sie verläuft nicht durch Russland.

Güter über Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan nach China zu transportieren, ist deutlich aufwendiger als mit der Transsibirischen Eisenbahn. Doch die Route hat einen grossen Vorteil: Sie verläuft nicht durch Russland.

 

 

Im November 2019 fuhr der erste Güterzug von Xian in Zentralchina über die Türkei bis nach Prag. Bild: pexels

Als hürdenfrei kann die Landverbindung von China in die Türkei sicherlich nicht bezeichnet werden. Güter, die per Eisenbahn vom Reich der Mitte nach Anatolien transportiert werden, passieren fünf Länder mit jeweils unterschiedlichen Zollbestimmungen. Zweimal ändert sich die Spurweite der Schienen, und für die Fahrt über das Kaspische Meer müssen die Container verschifft werden.

 

Für den Weitertransport von der Türkei bis zu den grossen Märkten in Westeuropa ist zudem der Bosporus zu überwinden und der kleinteilige Balkan zu durchqueren. Dass der Mittlere Korridor, wie die Landbrücke von China über Zentralasien und den Kaukasus in die Türkei und von dort nach Europa genannt wird, auf der neuen Seidenstrasse bis jetzt nur eine Nebenrolle spielt, erstaunt angesichts dieser Hindernisse nicht.

Die Route durch Russland mit der Transsibirischen Eisenbahn, der sogenannte Nördliche Korridor, ist einfacher, schneller, zuverlässiger und günstiger. Zumindest war dem bis vor kurzem so.

Steiler Anstieg beim Gütervolumen

Denn Russlands Überfall auf die Ukraine und die darauf folgenden westlichen Sanktionen haben sich auch auf den Güterverkehr ausgewirkt. Das Gütervolumen, das über den Mittleren Korridor bewegt wird, ist 2022 auf 3,2 Millionen Tonnen gestiegen. Das ist sechsmal mehr als im Jahr zuvor. Manche Beobachter erwarten eine weitere Zunahme in der nahen Zukunft auf bis zu 10 Millionen Tonnen.

Gleichzeitig ging der Warentransport, der durch Russland verläuft, nach dem steilen Wachstum der letzten Jahre erstmals um etwa einen Drittel zurück. Zwar übersteigt diese Menge das Gütervolumen auf dem Mittleren Korridor noch immer um ein Vielfaches. Dennoch ist eine neue Dynamik erkennbar.

Die Türkei setzt auf ihre Brückenfunktion

Für die Türkei sind das gute Nachrichten. Ankara verfolgt bereits seit anderthalb Jahrzehnten die Idee einer Landroute nach China. Ihre geografische Lage verleiht der Türkei eine Brückenfunktion zwischen Ost und West, die Ankara wirtschaftlich und strategisch auszunutzen versucht. Eine Handelsroute, die nicht durch Russland und Iran verläuft und somit der Türkei automatisch eine Führungsrolle verleiht, ist dabei von zentraler Bedeutung.

Mehrere grosse Infrastrukturprojekte der letzten Jahre stehen mit dieser strategischen Vision in Zusammenhang. Dazu gehört die Bahnlinie Kars–Tbilissi–Baku, die 2017 in Betrieb genommen wurde und eine Verbindung von Ostanatolien über den südlichen Kaukasus ans Kaspische Meer schuf.

In Istanbul gibt es mit dem Marmaray-Tunnel seit 2013 zudem eine Schienenverbindung zwischen Europa und Asien. Tagsüber wird er für den Personennahverkehr genutzt, nachts fahren Güterzüge. Und auch über die dritte Bosporus-Brücke im Norden der Millionenmetropole – Erdogans Prestigebau – sollen mittelfristig Züge verkehren.

Der Wunsch nach Abgrenzung von Russland hilft

Diese Leuchtturmprojekte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ausbau des Mittleren Korridors bisher nur sehr langsam voranschritt. Es dauerte bis 2019, bis erstmals ein Güterzug aus China in die Türkei und weiter nach Europa fuhr. In die Gegenrichtung fuhr der erste Zug sogar noch ein Jahr später.

Die Türkei schenkte dem Schienenverkehr lange keine grosse Aufmerksamkeit. Während die Autobahnkilometer und die Zahl der Flughäfen in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt wurden, wuchs das türkische Eisenbahnnetz im selben Zeitraum nur geringfügig.

Doch das soll sich ändern. «Mindestens 60 Prozent der Mittel für Verkehrsinfrastruktur werden künftig der Eisenbahn zukommen», erklärte der stellvertretende Infrastrukturminister Enver Iskurt Ende letzten Jahres vor ausländischen Journalisten.

Der Ausbau der Landverbindung nach Zentralasien und China hätte auch für eine neue Regierung in Ankara Priorität. Erdogans wichtigster Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag, Kemal Kilicdaroglu, erklärte am Wochenende, dass er die Seidenstrasse wiederbeleben wolle.

Auch andere Staaten schenkten dem Mittleren Korridor bis vor kurzem wenig Beachtung. «China setzte für seine Belt-and-Road-Initiative auf andere Routen. Für die Verbindung in die Türkei gab es weniger Geld, auch weil zwischen Peking und Ankara lange viel Misstrauen herrschte», sagt der türkische China-Experte Selcuk Colakoglu.

Die Transitländer im Kaukasus und in Zentralasien waren wiederum aus Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten zurückhaltend, wenn es um den Ausbau einer Handelsroute ging, die im Wettbewerb mit der Transsibirischen Eisenbahn stehen könnte. «Beides hat sich durch den Krieg geändert», sagt Colakoglu. In Peking habe man den Nutzen einer Alternative zum Nördlichen Korridor erkannt. Und die zentralasiatischen Staaten seien sichtlich bemüht, die starke Ausrichtung auf Russland zu verringern.

Physische und weiche Infrastruktur

Das Potenzial der neuen Route ist erkannt, in der Türkei, in China und in den Staaten dazwischen. Auch an Kundschaft fehlt es nicht. Neben dem dänischen Branchengiganten Maersk nutzen seit vergangenem Jahr auch Logistikunternehmen aus Deutschland, den Niederlanden oder Finnland den Mittleren Korridor.

Um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, muss aber noch viel getan werden. Wegen der vielen Flaschenhälse entlang der Route dauert der Transport von Waren bei gewissen Logistikunternehmen bis zu vierzig Tage.

Neben der physischen (Schienen, Rollmaterial, Häfen, Fähren) muss auch die sogenannte weiche Infrastruktur ausgebaut werden. Damit gemeint sind vereinheitlichte oder zumindest aufeinander abgestimmte Zollformalitäten oder Einfuhrbestimmungen, um den zeitlichen und finanziellen Aufwand an den vielen Grenzübergängen zu reduzieren.

Die direkteste Landverbindung führt aus China über Kasachstan, Aserbaidschan und Georgien in die Türkei. Auf der alternativen Route über das südliche Zentralasien und Iran sind sogar noch mehr Grenzübergänge zu passieren.

Diplomatische Offensiven aus Ankara

Auch mit diesem Ziel vor Augen hat die Türkei die Beziehungen mit den Staaten der Region sichtlich intensiviert, auf bilateraler und auf multilateraler Ebene. Ende 2021 wurde etwa der Turkische Rat zur Organisation der turksprachigen Staaten aufgewertet.

Neben der Türkei sind mit Ausnahme Turkmenistans, das Beobachterstatus hat, alle turksprachigen Ex-Sowjetrepubliken Vollmitglieder. Bereits seit 2017 existiert die Trans-Caspian International Transport Route, eine Koordinierungsbehörde staatlicher Verkehrs- und Logistikbetriebe.

Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine gab es 2022 mehrere Durchbrüche bei den Verhandlungen. Im Dezember unterzeichneten Turkmenistan, Aserbaidschan und die Türkei mehrere Handelsabkommen. Im März hatten die Eisenbahngesellschaften von Aserbaidschan, Kasachstan und Georgien die Gründung der Eurasian Rail Alliance beschlossen.

Dass im Herbst in der Türkei erstmals auch die World Nomad Games stattfanden, hat mit Handelspolitik nichts zu tun, passt aber dennoch zur verstärkten türkischen Aufmerksamkeit für Zentralasien. Bei den Nomadenspielen treten Wettkämpfer in Disziplinen wie Reiten und Bogenschiessen an, die unter den Turkvölkern traditionell einen hohen Stellenwert haben.

Die Türkei setzte bereits in den neunziger Jahren auf kulturelle Nähe und Verbundenheit mit den Turkstaaten, um in der Region eine Führungsrolle zu erlangen. Damals scheiterte Ankara an den machtpolitischen Realitäten.

Auch private Firmen investieren entlang der Route. Der grösste türkische Logistikkonzern Arkas hat bereits 2015 mit der Betreibergesellschaft des Duisburger Hafens, Duisport, ein Joint Venture gegründet, um bei Kocaeli im Hinterland des Marmarameers den ersten grossen Trockenhafen der Türkei zu bauen.

«Dauerhafte Verbindung zwischen Asien und Europa»

Dass der Mittlere Korridor der Eisenbahnverbindung durch Russland bald den Rang ablaufen wird, erwarten die wenigsten Beobachter. Selbst in optimistischen Szenarien stehen die Kapazitäten der beiden Routen mittelfristig in einem Grössenverhältnis von 1 zu 10.

«Trotzdem stehen die Zeichen zurzeit so gut wie noch nie, dass der Mittlere Korridor zu einer dauerhaft wichtigen Verbindung zwischen Asien und Europa wird», sagt der türkische China-Experte Colakoglu. Mit Asien meine er übrigens nicht nur China, sondern vor allem auch die Staaten entlang der Route, denen so ein direkter Handelsweg nach Westen eröffnet werde. «Wenn sich der Korridor gut entwickelt, gibt es viele Gewinner.»

Volker Pabst, Istanbul, «Neue Zürcher Zeitung»

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