Ein Startup will Notfallstationen und Hausärzte entlasten – und damit auch noch Gesundheitskosten senken. Kann diese Rechnung aufgehen? Pflegende übernehmen in den Aprioris-Praxen die Aufgabe von Ärzten. In Zürich wurden vier Standorte eröffnet.

Pflegende übernehmen in den Aprioris-Praxen die Aufgabe von Ärzten. In Zürich wurden vier Standorte eröffnet.

 

In den Aprioris-Praxen kann man sich auch impfen lassen. Bild: Karin Hofer / NZZ

Frau Eigenmann fühlt sich, als hätte sie Watte im Ohr. Alles klingt dumpf. Spricht jemand mit ihr von weitem, versteht sie ihn nicht mehr. Sie kennt dieses Gefühl. Vor Jahren hatte sie es schon einmal. Damals brachte eine Ohrenspülung Linderung, und so googelt die junge Frau nach «Ohrenspülung Zürich» und stösst dabei zufällig auf ein Startup, das mit einem ganz neuen Konzept für sich wirbt.

Aussergewöhnlich daran ist, dass bei Aprioris Pflegerinnen und Pfleger die Untersuchung machen, die Diagnose stellen und die Behandlung vorschlagen. Sie machen also das, was sonst ein Arzt tun würde. Im Kanton Zürich gibt es inzwischen vier solche Walk-in-Praxen, bis auf eine befinden sich alle in einer Apotheke. Die Patienten können nach der Konsultation also auch gleich Medikamente abholen, sofern sie diese benötigen.

Initiiert wurde das Projekt von Christian Köpe. Der Jurist arbeitet seit gut 25 Jahren im Gesundheitswesen, hat den Telemedizinanbieter Medi24 aufgebaut und war Mitgründer beim Ärztenetz Medix. Das Kalkül des Unternehmers: Die Notfallstationen der Spitäler waren in den letzten Jahren heillos überlastet – auch weil sie von immer mehr Patienten mit geringfügigen Problemen aufgesucht wurden. Zugleich akzentuiert sich in der Schweiz der Mangel an Hausärzten. «Hier gibt es eine Lücke im System», sagt Köpe.

Aprioris fokussiert auf die einfachen Fälle, auf jene, welche die Pflegefachkräfte möglichst abschliessend lösen können. «Wir wollen den Ärzten jene Patienten abnehmen, für die sie eigentlich überqualifiziert sind», sagt Köpe. Pro Konsultation verlangt Aprioris je nach Aufwand 25 bis 89 Franken. Sie seien damit etwa 40 Prozent günstiger als der Hausarzt und mindestens 70 Prozent günstiger als der Notfall, sagt Köpe.

Köpe sieht in seinem Modell auch einen Vorteil für das vom Fachkräftemangel geplagte Gesundheitswesen. Denn zu häufig werde heute Personal am falschen Ort eingesetzt. Es dürfe doch nicht sein, dass sich Ärztinnen und Ärzte mit ihrer umfassenden Ausbildung um Bagatellfälle kümmern müssen. «Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen, einen Piloten am Check-in-Schalter arbeiten zu lassen.» Pflegefachkräfte seien bestens in der Lage, den Ärzten einen Teil ihrer Arbeit abzunehmen.

Doch auch in der Pflege fehlt das Personal. Es stellt sich also die Frage: Kann die Rechnung aufgehen, wenn man einen Mangel durch einen anderen Mangel ersetzen will?

Raus aus der «unkomfortablen Komfortzone» im Spital

Frau Eigenmann wird mit ihren Ohrenbeschwerden in der Aprioris-Filiale beim Paradeplatz von Fabia Baumgartner und Marc Holzhausen empfangen. Beide haben davor schon über zehn Jahre in der Pflege gearbeitet, insbesondere auch auf dem Notfall. Baumgartner ist schon seit dem Start im letzten Sommer bei Aprioris, Holzhausen ist neu dazugestossen und wird von der Kollegin eingearbeitet.

Eigenmann schildert den beiden ihre Beschwerden, dann stellt ihr Baumgartner einige Fragen: «Haben Sie Schmerzen?» «Nein.» «Tinnitus?» «Nein.» «Ausfluss?» «Nein.» «Kopfschmerzen oder Schwindel?» «Nein.» «Haben Sie eine Erkältung?» «Ein bisschen. Ich habe eine volle Nase.»

Danach macht Baumgartner einen Hörtest mit einer Stimmgabel und blickt ihr später ins Ohr. Sie fordert die Patientin dazu auf, die Nase zuzuhalten und zu versuchen, einen Druckausgleich zu machen. Eigenmann presst Luft in die Nase. «Da passiert nichts bei Ihnen», konstatiert Baumgartner. Das könne an der Erkältung liegen. Allenfalls könne sie es mit einem Nasenspray versuchen.

Von einer Ohrenspülung rät ihr Baumgartner allerdings ab, die Ohren seien sauber, «es würde nichts bringen». Auf einem Bildschirm zeigt sie der Patientin den sauberen Gehörgang. «Das ist eigentlich schade», sagt Eigenmann, «das heisst wohl, dass es etwas Ernsteres ist.» Baumgartner empfiehlt ihr, beim Spezialisten einen Hörtest machen zu lassen.

Rund 10 Prozent der Fälle könnten sie nicht selbst lösen, schätzt Baumgartner, und müssten diese weitergeben. «Es ist wichtig, dass wir wissen, wo unsere Grenzen liegen», sagt sie. Behandeln dürfen sie nur die einfachen Fälle. Um den einfachen vom komplexen Fall unterscheiden zu können, haben sie standardisierte Verfahren, an die sich die Pflegekräfte bei der Behandlung der Patienten halten müssen. Erarbeitet wurden diese zusammen mit einem Hausarzt, dem ärztlichen Leiter von Aprioris.

Fabia Baumgartner hat ihren Job im Spital verlassen, weil die Arbeitsbedingungen in der Pandemie grenzwertig geworden seien. Sie habe sich in einer «unkomfortablen Komfortzone» befunden, sagt sie – einer Mischung von Routine und Stress. Im Spital habe sie den Patienten nicht genug Zeit widmen, «ihnen nicht gerecht werden können». Im Stress wolle man möglichst schnell fertig werden, habe einen Tunnelblick.

Es habe extrem viel zu tun gegeben – und neben den ernsten Fällen mussten sie sich auch noch um die Bagatellen kümmern. «Ich verstehe die Leute ja, dass sie mit Ohrenschmerzen in den Notfall gehen, wenn sie keinen Hausarzt mehr finden», sagt Baumgartner. Aber diesen Patienten könne sie bei Aprioris einfacher und schneller helfen. Und sie hofft, dass sie damit auch ihre Kolleginnen und Kollegen auf dem Notfall entlastet.

Holzhausen geht es ähnlich. Er arbeitete die letzten Jahre im Asylwesen, «wir hatten dort plötzlich 900 statt 400 Personen zu betreuen. Ich hätte gerne mehr für sie gemacht, aber wir hatten keine Zeit.» Er freut sich darüber, den Patienten nun wieder besser zuhören zu können.

Nach 30 Jahren Berufserfahrung sei ihm klar, dass etwas passieren müsse im Gesundheitswesen. Die Notfallstationen müssten entlastet werden. Auch wegen des Fachkräftemangels. «Eigentlich gibt es auf dem Markt viel Personal», sagt Holzhausen. «Aber viele müssen Auszeiten nehmen, weil die Arbeit an die Substanz geht.» Modelle wie Aprioris mit geregelten Arbeitszeiten und ohne Nachtdienste könnten dafür sorgen, dass mehr Pflegefachkräfte im Job bleiben, statt in eine andere Branche zu wechseln.

Christian Köpe sagt denn auch, dass sie trotz Fachkräftemangel im Moment genug Personal finden für ihre Standorte. Dabei handle es sich meist um Personen, die den Beruf verlassen wollten. «Bei uns hat man mehr Kompetenzen, und der Job ist besser vereinbar mit der Familie.» Aprioris stellt allerdings auch hohe Ansprüche ans Personal. Infrage kommen nur diplomierte Pflegefachpersonen mit mehreren Jahren Spitalerfahrung.

Ärzte sehen die Sache positiv

Für Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Verbandes der Pflegefachleute (SBK), geht das Modell von Aprioris in die richtige Richtung. Der Beruf werde gestärkt, wenn die Pflegefachkräfte mehr Kompetenzen erhielten. Sie ist überzeugt, dass die Pflege «einen wesentlichen Teil dazu beitragen kann, die Gesundheitsprobleme von heute und morgen zu lösen».

Sogenannte Advanced Practice Nurses sollen künftig vermehrt ärztliche Aufgaben übernehmen und sich beispielsweise auch um chronisch kranke Patienten kümmern. Im angelsächsischen Raum ist dies schon üblich. Wegen der demografischen Entwicklung werde die Nachfrage in den nächsten Jahren weiter steigen, sagt Ribi. Zwar gebe es in diesem Bereich verschiedene gute Initiativen, aber die Finanzierungsfrage sei noch nicht gelöst. Was der Verband schon lange fordert, habe der Bundesrat nun für die Umsetzung der Pflegeinitiative in Aussicht gestellt.

Tobias Burkhardt, Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft, plädiert ebenfalls dafür, Pflegefachkräfte breiter einzusetzen – auch in den Hausarztpraxen. Das wäre heute schon möglich, doch die Leistung kann nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden, «und damit ist es leider auch nicht attraktiv». Deshalb müsse dringend ein Tarif für diese Leistungen geschaffen werden.

Das Aprioris-Modell sieht Burkhardt durchaus positiv. Wie gross die Entlastung der Ärzte wirklich sein werde, müsse sich aber erst noch zeigen, zumal das Behandlungsangebot doch eher schmal sei.

Die Krankenkassen beobachten das Projekt interessiert. Es könne finanzielle Ressourcen schonen und scheine dem Bedürfnis der Patienten nach einer raschen und qualifizierten Erstberatung und Behandlung gerecht zu werden, schreibt der Verband Curafutura auf Anfrage. Allerdings will man die Kostenentwicklung im Auge behalten. Die Erweiterung der Kompetenzen dürfe «nicht zu einer unerwünschten Mengenausweitung führen».

Vorläufig tangiert Aprioris die Krankenkassen aber noch nicht. Die Patienten müssen ihre Behandlung in der Regel selbst bezahlen. So wie dies auch Frau Eigenmann tut. Die 89 Franken begleicht sie in der Apotheke und kauft sich dazu noch ein Nasenspray. Sie ist zufrieden mit dem Service. Sie wäre sonst gleich zu einem Arzt in einer Permanence gegangen, «dann hätte ich aber wohl lange warten müssen».

Aprioris befindet sich noch am Anfang. Erst die nächsten ein, zwei Jahre werden zeigen, wie gut das Modell bei den Patienten ankommt. Und ob Aprioris auch wirklich dazu beitragen kann, Notfälle und Hausärzte zu entlasten.

Jan Hudec, «Neue Zürcher Zeitung»

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