Es gibt so viele Chefs wie noch nie – das stösst bei den Angestellten auf Skepsis Die Schweiz zählt dreimal mehr Führungskräfte als vor dreissig Jahren. Eine Umfrage bei Beschäftigten lässt zweifeln, dass es sie alle braucht.

Die Schweiz zählt dreimal mehr Führungskräfte als vor dreissig Jahren. Eine Umfrage bei Beschäftigten lässt zweifeln, dass es sie alle braucht.

Von wegen flache Hierarchien: Tatsächlich beschäftigen die Firmen immer mehr Kaderleute. Bild: Patric Sandri

Das Parkinsonsche Gesetz funktioniert bestechend zuverlässig. Aufgestellt hat es der britische Historiker Cyril Northcote Parkinson Mitte des 20. Jahrhunderts. Ihm war die widersprüchliche Personalentwicklung in der Royal Navy aufgefallen: Von 1914 bis 1928 schrumpfte die Zahl der Matrosen um einen Drittel auf 100 000, weil die Marine weniger Schiffe betrieb. Trotzdem wuchs die Admiralität kräftig: Im obersten Kommando waren plötzlich 3600 statt nur 2000 Mann beschäftigt.

Dasselbe beobachtete Parkinson in der Kolonialverwaltung. Zwar besass Grossbritannien weniger Kolonien. Trotzdem kümmerten sich immer mehr Amtsträger um deren Kontrolle. Daraus entwickelte er zwei Lehrsätze für die Funktionsweise von Bürokratien: Erstens will jeder Angestellte die Zahl seiner Untergebenen vergrössern, nicht aber die Zahl der Rivalen.

Parkinson nannte das Beispiel eines stark ausgelasteten Funktionärs. Dieser könnte zur Unterstützung einen Kollegen anfordern. Doch damit würde er sich einen Konkurrenten ins Haus holen, der die eigene Karriere gefährdet. Deshalb beschäftigt er lieber einen Assistenten, der an ihn rapportiert – womit er nicht nur entlastet wird, sondern zudem seinen Status verbessert.

Das zweite Gesetz lautet: Angestellte schaffen sich gegenseitig Arbeit. Denn die Produktivität eines Managers lässt sich nicht exakt messen wie etwa bei einem Bäcker. Deshalb, so Parkinson, dehne sich die Büroarbeit aus wie ein Gummiband, um schliesslich das vorhandene Zeitbudget vollständig auszufüllen.

Dass die Chefs immer zahlreicher werden, gilt auch hierzulande. Heute gibt es laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung dreimal so viele Führungskräfte wie noch Anfang der neunziger Jahre, nämlich 400 000. Das zeigt eine neue Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI). Keine andere Kategorie hat einen solchen Boom erlebt. Selbst bei den technischen Berufen kam es lediglich zu einer Verdoppelung. Das Total der Erwerbstätigen nahm in der gleichen Zeit um 25 Prozent zu und beträgt nun 5 Mio.

Man müsse sich die Frage stellen, ob es all die zusätzlichen Führungskräfte tatsächlich brauche, sagt Studienautor Jakub Samochowiec vom GDI. «Manche leisten zweifellos wertvolle Koordinations- und Motivationsarbeit. Doch viele dieser Vorgesetzten sorgen ebenso für unnötigen Mehraufwand, der an den Untergebenen hängenbleibt.»

Der Personalexperte und Dozent Matthias Mölleney bestätigt diese Einschätzung: «Die Firmen loben sich zwar gern für ihre angeblich schlanke und effiziente Organisation. Tatsächlich aber spielt die Hierarchie in unserer Arbeitswelt eine enorm wichtige Rolle.» Zum Beispiel komme es häufig vor, dass verdienstvolle Mitarbeitende zur Belohnung eine Kaderposition erhalten, obwohl dies aus fachlicher Sicht gar nicht nötig wäre. «Der primäre Grund ist das Prestige, das eine solche Beförderung mit sich bringt.»

Sobald jemand aber in eine Kaderstellung aufsteige, müsse er sich um den Aufbau eines eigenen organisatorischen Silos kümmern. Der Zweck sei das Absichern der Machtposition, erklärt der frühere Swissair-Personalchef: «Eine grosse Führungsgruppe führt zu mehr Komplexität und erschwert die Koordination.»

Auffallend sind die immer neuen Titel, mit denen sich die vielen neuen Chefs schmücken: Wer beispielsweise mit Planungsaufgaben beschäftigt ist, nennt sich Chefstratege oder Strategiechef – Head of Strategy klingt ebenfalls beeindruckend. Poppt irgendwo ein Thema auf, so wird es umgehend zur Chefsache erklärt, was dem Chief Compliance Officer, Chief Information Officer – nicht zu verwechseln mit dem Chief Knowledge Officer – oder etwa dem Chief Information Security Officer ein willkommenes Betätigungsfeld bietet.

Effizienter mit weniger Vorgesetzten

Doch wie nützlich sind alle diese Chefs wirklich? Das GDI befragte 1000 repräsentativ ausgewählte Angestellte in der Deutschschweiz. Mit einem ernüchternden Ergebnis: Ein Drittel sagt, man könnte mit weniger Führungskräften effizienter arbeiten. Gar 40 Prozent sind der Meinung, dass das Management Dinge entscheide, die sie als direkt Betroffene besser beurteilen könnten.

«Jeder Chef muss seine bevorzugte Stellung rechtfertigen», erklärt GDI-Forscher Samochowiec den Befund, «also strebt er danach, möglichst viele Entscheidungen an sich zu reissen – auch bei Dossiers, in denen er wenig kompetent ist und die er besser seinem Team übertragen würde.» Je mehr Manager folglich die Karriereleiter hochsteigen, desto grösser werde der Druck, die eigene Position durch noch mehr Aktivismus zu legitimieren.

Die Arbeitspsychologin Nicole Kopp kennt das Gerangel um Kompetenzen aus ihrer langjährigen Beratungspraxis. Dabei stosse sie regelmässig auf ein grundsätzliches Problem: «Ich stelle häufig fest, dass das Management den eigenen Angestellten zu wenig Vertrauen entgegenbringt», sagt die Co-Gründerin der Beratungsfirma GoBeyond. Daraus entstehe der Reflex, jede Entscheidung automatisch nach oben zu delegieren.

«Hinter dem hierarchischen Denken steckt die falsche Vorstellung, dass eine Gruppe ohne Chef führungslos wird», erklärt Kopp. «Tatsächlich aber findet Führung immer statt. Die Frage ist einzig, ob sie nur auf einen oder aber auf mehrere Köpfe verteilt wird.» Dabei zeige ihre Erfahrung, dass ein selbstorganisiertes Team meist effizienter funktioniere und ebenso die Zufriedenheit unter den Mitarbeitenden fördere.

Mehr Stress durch Digitalisierung

Das Festhalten an starren Rangordnungen passe zudem schlecht zum rasanten Wandel in der Wirtschaft, findet Kopp. «Wer in unserer komplexen Welt Erfolg haben will, sollte nicht auf die allwissende Führungskraft setzen, sondern auf selbstorganisierte Teams, die ihre Projekte eigenständig realisieren können.»

Matthias Mölleney ergänzt, auch die Digitalisierung habe bisher nicht zur erhofften Entlastung bei der Arbeit geführt. «Stattdessen klagen viele Beschäftigte, sie würden noch stärker von administrativen Arbeiten in Beschlag genommen.» Was an den hierarchischen Strukturen liege: «Zwar propagieren die Firmen stets, man solle die Menge an Sitzungen und E-Mails eindämmen. Doch wenn es gleichzeitig immer mehr Kaderleute gibt, die man zu allen möglichen Themen im Loop halten sollte, so wird dies zu einem Kampf gegen Windmühlen.»

Wie unproduktiv viele ihren Arbeitsalltag erleben, hat die GDI-Studie ebenfalls ermittelt. Die Beschäftigten wurden gefragt, wie viel Zeit sie mit Tätigkeiten verbringen, die man ohne negative Folgen einfach weglassen könnte. Im Schnitt kamen sie auf einen Anteil von einem Viertel. Auch dieses Ergebnis müsste in den Firmen umgehend zur Chefsache erklärt werden. Darum kümmern könnte sich natürlich: ein Chief Efficiency Officer.

Albert Steck, «NZZ am Sonntag»

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