Mobbing, Intrigen und Machtmissbrauch – was ist los in der Arbeitswelt? Konflikte am Arbeitsplatz haben für die betroffenen Mitarbeiter oftmals gravierende Folgen. Taggeldversicherer schlagen Alarm: Fallen Angestellte aus psychischen Gründen aus, so ist das mehrheitlich die Folge von Kränkungen oder Konflikten am Arbeitsplatz.

Konflikte am Arbeitsplatz haben für die betroffenen Mitarbeiter oftmals gravierende Folgen. Taggeldversicherer schlagen Alarm: Fallen Angestellte aus psychischen Gründen aus, so ist das mehrheitlich die Folge von Kränkungen oder Konflikten am Arbeitsplatz.

 

Das Klima am Arbeitsplatz scheint rauer geworden zu sein. Bild: unsplash

Bei Nestlé wird eine Kaderfrau an ihrem Arbeitsplatz offenbar jahrelang diskreditiert und herabgewürdigt. Dies setzt der Frau dermassen zu, dass sie mit 55 Jahren arbeitsunfähig wird und eine Berufsinvaliditätsrente beantragt. Beim grössten Hilfswerk des Landes, dem Schweizerischen Roten Kreuz, kommt es zu Machtkämpfen auf der obersten Kaderstufe. Mitten in der Vorweihnachtszeit wird der langjährige Direktor entlassen. Dieser fühlt sich von der Präsidentin gemobbt. Ein anderer Kadermitarbeiter kritisiert ein «toxisches Klima», wie die «NZZ am Sonntag» jüngst berichtete.

Auch beim Magazin des «Tages-Anzeigers» kommt es zum Eklat: In einem Gastbeitrag im «Spiegel» berichtet eine ehemalige Mitarbeiterin von Sexismus, Machtmissbrauch und einem Unternehmen, das aus ihrer Sicht zu wenig dagegen tut.

Karriere, Gesundheit und Seelenfrieden verloren

Mobbing, Intrigen und Machtmissbrauch: Handelt es sich um medial aufgebauschte Einzelfälle, oder hat sich in der Arbeitswelt eine toxische Kultur breitgemacht, mit gravierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen?

Dass die Ereignisse bei den Betroffenen bleibende Spuren hinterlassen, ist unbestritten. «Ich verlor meine Karriere, meine Gesundheit, meinen Seelenfrieden», erklärte die ehemalige Nestlé-Kaderfrau gegenüber SRF. Laut dem Waadtländer Berufungsgericht muss der Konzern seiner ehemaligen Managerin zwei Millionen Franken Lohnentschädigung zahlen. Zuvor hatte sie insgesamt zwölf Jahre lang prozessiert, bis sie nun vollumfänglich recht bekam.

Von einem Tag auf den anderen auf die Strasse gestellt

Dass das Klima am Arbeitsplatz rauer geworden ist, bestätigt Roger Hischier, Fachgruppenleiter Arbeitsrecht des Zürcher Anwaltsverbandes. Hischier spricht von einer zunehmenden Verrohung. Als Fachanwalt befasst er sich täglich mit Arbeitskonflikten, berät seine Klienten und vertritt diese wenn nötig vor Gericht.

«Zurzeit vertrete ich gleich fünf oder sechs Klienten, die dem Vorgesetzten aus irgendwelchen Gründen nicht passten und die von einem Tag auf den anderen auf die Strasse gestellt wurden.» Die Fälle reichten vom entlassenen Monteur bis zur gemobbten Bankkaderfrau. Früher sei man zusammengesessen und habe zumindest noch über eine allfällige Abfindung für die Entlassene oder den Entlassenen diskutiert, sagt Hischier. Heute sei dies nicht mehr der Fall.

Juristische Auseinandersetzungen wegen langjährigen Mobbings sind demgegenüber laut Hischier seltener geworden. Klienten und Anwälten sei klar, dass Mobbing vor Gericht schwer beweisbar sei. Ausserdem komme es sehr schnell zu einer Entlassung, bevor der Konflikt zu einem langwierigen Mobbing-Fall auszuarten drohe, sagt der Arbeitsrechtsexperte. Die Auswirkungen für die Betroffenen seien gravierend. «Viele Personen definieren sich mit ihrem Beruf und verlieren den Boden unter den Füssen, wenn sie auf diese Art und Weise ihren Job los sind. Es fällt ihnen schwer, damit umzugehen», erklärt Hischier.

«90 Prozent der Klienten, die wegen eines Arbeitskonfliktes zu mir kommen, sind arbeitsunfähig oder werden dies im Verlauf der eskalierenden Auseinandersetzung.» Die Gefahr sei gross, dass einige auch längerfristig keinen neuen Job fänden, einige Zeit lang Kranken- und Arbeitslosentaggeld bezögen und schliesslich bei der Invalidenversicherung landeten.

Arbeitsunfähigkeit wegen Kränkung und Konflikten

Arbeitsunfähigkeiten aus psychischen Gründen nehmen seit Jahren stetig zu. Doch in der Schweiz fehlen nationale Daten über einen längeren Zeitraum. Einen Anhaltspunkt liefern Zahlen aus dem nördlichen Nachbarland: In Deutschland hat sich die Anzahl der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitsfälle zwischen 1997 und 2019 verdreifacht.

Eine jüngst publizierte Erhebung des Krankentaggeldversicherers Swica und des Kompetenzzentrums Workmed der Psychiatrie Baselland liefert für die Schweiz interessante Fakten. Laut der Auswertung von 1350 anonymisierten Krankentaggeld-Dossiers sind 57 Prozent aller psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeiten eine Reaktion auf Kränkungen oder Konflikte am Arbeitsplatz. Das heisst, die Mehrheit wird durch eskalierende Probleme am Arbeitsplatz ausgelöst. Die Arbeitsunfähigkeit dauert im Durchschnitt sieben Monate.

«Wir gehen heute anders mit psychischen Problemen um, sind sensibilisiert und reden darüber», so erklärt der Psychologe und Leiter von Workmed, Niklas Baer, den Anstieg der Fälle. Früher sei das Thema psychische Erkrankung tabuisiert und mit einem Stigma behaftet gewesen. Heute werde es öffentlich diskutiert. Betroffene nähmen schneller professionelle Hilfe in Anspruch und würden entsprechend auch häufiger krankgeschrieben.

Die Kehrseite der positiven Entwicklung sei, dass der Umgang mit Konflikten zusehends pathologisiert werde. Die vielen Krankheitsfälle zeugen in den Augen von Baer auch von einer mangelnden Fähigkeit aller Beteiligten, mit Spannungen, Herausforderungen und unterschiedlichen Interessen umzugehen. «Oftmals wären Konflikte lösbar, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer früh das Gespräch suchen würden», sagt der Psychologe. Es brauche aber auch ein Umdenken bei den Ärzten, die ihren Patienten vermehrt helfen sollten, schwierige Arbeitssituationen aktiv zu klären, statt sie nur passiv zu entlasten. Die Hälfte aller Betroffenen verliere nämlich wegen der langen Arbeitsunfähigkeit ihre Stelle.

Mehr Konkurrenzdruck und auf kurzfristige Resultate fixiert

Thomas Ihde, geschäftsführender Chefarzt der Psychiatrie der Spitäler FMI im Berner Oberland, verweist auf ein weiteres Phänomen, das beim Anstieg der psychischen Erkrankungen eine massgebliche Rolle spielt: «Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld ist schnelllebiger geworden, der Konkurrenzdruck hat zugenommen, und Unternehmen sind verstärkt auf kurzfristige Resultate ausgerichtet. Das spiegelt sich nicht zuletzt auch in einem ruppigeren Führungsstil», sagt Ihde, der seit Jahren über das Thema psychische Gesundheit forscht, schreibt und referiert. Als Stiftungspräsident von Pro Mente Sana setzt er sich auf nationaler Ebene für die Belange von psychisch Erkrankten und deren Angehörigen ein.

Amerikanische IT-Unternehmen entliessen Tausende von Mitarbeitern, bevor sich überhaupt Probleme abzeichneten, führt der Chefarzt aus. Das Management gebe den Druck nach unten weiter. Hinzu komme das Phänomen der gesellschaftlichen Emotionalisierung: «Heute lassen wir Emotionen wie Empörung, Frust oder Ärger freien Lauf. Das zeigt sich auch im Umgang miteinander: Vor zehn Jahren wäre niemandem in den Sinn gekommen, auf Notfallstationen Sicherheitspersonal zu platzieren, welches das Pflegepersonal vor Übergriffen von Patienten und vor allem Angehörigen schützen muss.»

Der finanzielle Schaden ist gross

Allerdings gibt es laut Ihde auch positive Entwicklungen. Firmen seien vermehrt sensibilisiert und investierten in die Prävention, um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu verbessern – beispielsweise indem sie ihre Kaderkräfte schulten und Kurse zur Früherkennung psychischer Probleme durchführten.

Unternehmen sind am Umdenken, auch weil sie merken, dass psychische Krankheiten grösseren finanziellen Schaden verursachen. Krankheitsbedingte Abwesenheiten sind hierbei nur die Spitze des Eisbergs. Wie internationale Erhebungen zeigen, machen diese bloss 18 Prozent der Kosten im Zusammenhang mit psychischen Problemen aus. Über 60 Prozent entfallen auf Leistungseinbussen der beeinträchtigten Mitarbeiter.

Gleichwohl sind es nicht zuletzt die Taggeldversicherer, die Druck auf die Firmen ausüben. Denn die hohe Zahl an Arbeitsausfällen infolge psychischer Krankheiten ist für sie ein zentraler Kostentreiber. Die Versicherer sind vermehrt dazu übergegangen, Firmen zu kündigen und die Prämien neu auszuhandeln. Betroffen sind vor allem auch Unternehmen im Gesundheits- und Sozialwesen. Wie Gesundheits- und Versicherungsexperten bestätigen, gibt es Betriebe, die keinen neuen Anbieter finden und ihre Krankheitsrisiken wiederum selbst tragen müssen.

Schlechte Betriebskultur und Führung sind Risikofaktoren

Laut internationalen Erhebungen zählt eine schlechte Betriebskultur zu den grössten Risikofaktoren psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz. Ein Klima der Angst ist ein äusserst giftiger psychischer Belastungsfaktor. Zu den Negativbeispielen zählen unter anderem diffamierende Sprüche und ein respektloser Umgang. Positiv ausgedrückt geht es um Themen wie Vertrauen, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Fairness.

Ebenso zentral sind eine klare Führung sowie klare Erwartungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ausschlaggebend ist hierbei weniger die Art des Führungsstils, sondern vielmehr die Verlässlichkeit der Führung: «Der Mitarbeiter muss sich in der Landschaft orientieren können und eine gewisse Sicherheit haben, dass sich die Spielregeln nicht plötzlich ohne Ankündigung ändern», sagt Ihde. Firmen und Führungskräfte sollten ein angstfreies Klima bieten.

Psychologische Sicherheit steigert die Leistung

Dabei sind sich Wissenschafter über den grossen Stellenwert psychologischer Sicherheit längst einig: Als Management-Thema wurde psychologische Sicherheit Ende der 1990er Jahre bekannt, vor allem durch die Forschungsarbeiten von Amy Edmondson, Professorin für Leadership and Management an der Harvard Business School.

In ihrem Buch «The Fearless Organization» wies Edmondson nach, dass Unternehmen massgeblich davon profitierten, wenn Angestellte sich sicher fühlten und ihr Feedback sowie ihre Kritik offen mitteilen könnten: Sie seien kreativer, es finde mehr Lernen statt, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seien bereit, auch Risiken einzugehen, und es würden weniger schlechte Entscheidungen getroffen.

In den 2010er Jahren startete Google ein Projekt mit dem klangvollen Namen Aristoteles, um herauszufinden, was effektive Teamarbeit ausmacht. Anhand der Analyse von 180 Teams gelangten die Forscher zu folgendem Befund: Die erfolgreichsten Gruppen waren stets diejenigen mit einer hohen psychologischen Sicherheit. In einem solchen Umfeld gingen Teammitglieder Risiken ein, sie konnten Fehler zugeben, Fragen stellen und neue Ideen einbringen.

«Die Erkenntnis, dass psychologische Sicherheit einen sehr starken Einfluss auf die Leistung hat, war bahnbrechend», sagt Matthias Mölleney, Leiter des Zentrums für HRM und Leadership der Hochschule für Wirtschaft Zürich. «Es wurde klar, dass es dabei nicht um die Schaffung einer Spürst-du-mich-Kultur geht, sondern um echten Mehrwert für die Firmen.» Diese Erkenntnis sei auch in Schweizer Unternehmen angekommen. Doch die Umsetzung gestalte sich schwierig. «Psychologische Sicherheit basiert auf Vertrauen. Wo Vorgesetzte Angst und Schrecken verbreiten und Leute niedermachen, sind wir ganz weit davon entfernt», sagt Mölleney.

Fluktuation ist teuer

Firmen seien allein schon überfordert, wenn es um die Einordnung der Kennzahl Fluktuation und der Folgen gehäufter Personalabgänge gehe. Dabei ist das Ausscheiden von Mitarbeitern mit hohen Kosten verbunden, wie der Spezialist für Personalfragen ausführt. «Wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter den Betrieb verlässt und ersetzt werden muss, kostet dies bis zu einen Jahreslohn.»

Die grössten Kostenblöcke wie Produktivitäts- und Wissensverlust oder eine erhöhte Unzufriedenheit bei den verbliebenen Angestellten bleiben unsichtbar. Mit weniger Fluktuation könnten Firmen viel Geld einsparen. Ausschlaggebend für Kündigungen ist in der Regel das Verhalten des Vorgesetzten. 70 bis 80 Prozent der Angestellten, die in den ersten drei Jahren ihren Arbeitgeber wieder verlassen, nennen ihren Vorgesetzten als wichtigsten Trennungsgrund.

Der Nimbus des omnipotenten Chefs bröckelt

Toxische Chefs habe es schon immer gegeben, erklärt Mölleney. Doch der Umgangston sei rauer geworden. Vorgesetzte fühlten sich vermehrt hinterfragt und angegriffen. Der Nimbus des omnipotenten Chefs bröckle. «Im Gegenzug wird den Mitarbeitern heute mehr Verantwortung übertragen, und diese setzen sich auch öfter zur Wehr, wenn ihnen etwas nicht passt», sagt Mölleney.

Firmen sollten seiner Ansicht nach verstärkt in Massnahmen zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit, zur Stärkung der psychischen Gesundheit und der psychologischen Sicherheit investieren. «Ein Umfeld, in dem Angestellte sich möglichst darauf fokussieren, keine Fehler zu machen, und ihre Meinung für sich behalten, können sich Unternehmen eigentlich gar nicht leisten», zeigt sich der HR- und Leadership-Experte überzeugt. Firmen seien auf kreative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen, wenn sie im Wettbewerb bestehen wollten.

Firmen müssen ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen

Dass ein Umdenken angesagt ist, zeigt auch das juristische Urteil im Nestlé-Fall. Dieser gilt als aussergewöhnlich, sowohl was die Länge der juristischen Auseinandersetzung, das Ausmass des Mobbing-Schadens als auch die Höhe der verhängten Lohnentschädigungen für die ehemalige Kaderfrau anbelangt.

Dass davon eine gewisse Signalwirkung für die künftige Rechtsprechung ausgehen könnte, ist deshalb eher unwahrscheinlich. Aber Arbeitgeber dürften sich vermehrt bewusst sein, dass sie eine Fürsorgepflicht zu erfüllen haben. Und dass der Schaden hoch ausfallen kann, wenn sie dieser nicht nachkommen.

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