Nutella-Erfinder Michele Ferrero war scheu und zunächst wenig erfolgreich – heute sind Mon Chéri und Kinder-Überraschung jedem ein Begriff Erstmals zeichnet eine Biografie das Leben des Erfinders von Nutella, Mon Chéri, Tic-Tac sowie Kinder-Schokolade nach: eine europäische Geschichte und ihr süsses Geheimnis.

Erstmals zeichnet eine Biografie das Leben des Erfinders von Nutella, Mon Chéri, Tic-Tac sowie Kinder-Schokolade nach: eine europäische Geschichte und ihr süsses Geheimnis.

 

Michele Ferrero 2004 bei der Feier zum 40. Geburtstag von Nutella. Bild: PD

Alle kennen seine Produkte, die wenigsten seine Geschichte: Michele Ferrero, der Schokoladenkönig aus Alba in Piemont, hat sich kaum öffentlich über seinen Werdegang geäussert. Das einzige grosse und substanzielle Interview, das er je gegeben hat, erschien erst am Tag nach seinem Tod am 14. Februar 2015 in der Turiner Zeitung «La Stampa». Geführt hatte es der damalige Chefredaktor Mario Calabresi fast fünf Jahre zuvor, im Sommer 2010. Aber Calabresi musste Ferrero versprechen, es erst nach dessen Tod zu publizieren.

Sosehr er sich von der Öffentlichkeit auch fernhielt: Michele Ferrero war kein Schweiger. Im Gegenteil, wie die neue, vom Publizisten Salvatore Gianella verfasste Biografie zeigt*. Der Patron tauschte sich regelmässig mit seinen Angestellten aus, packte an, suchte das Gespräch mit Kunden an den Kassen der Supermärkte, tüftelte mit seinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stundenlang in der «stanza della Chimica» herum, wie sie in Alba das geheimnisumwitterte Innerste der Ferrero-Fabrik nennen, wo neue Produkte kreiert, verworfen und verbessert wurden.

Trotzdem war Michele von eher scheuer Natur. Geboren 1925 in Dogliani, nur eine gute halbe Stunde von Alba entfernt, in den Langhe, jener einstmals mausarmen und heute von Kulinarik- und Wein-Fans aus aller Welt heimgesuchten Gegend, trat er nach einer Ausbildung als Buchhalter in den väterlichen Betrieb ein.

Feuertaufe in Asti

Sein Vater Pietro hatte in einem Schuppen eine Art Schokoladenlaboratorium eingerichtet und produzierte dort Pralinen. Weil Zucker damals, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, teuer und rar war, entwickelte er ein Verfahren, um aus Melasse Zuckerkristalle zu gewinnen. Verfeinert mit Haselnüssen, mit denen die Region reich gesegnet war (und ist), produzierte er eine Gianduja-Paste, im Dialekt «Giandujot» genannt.

Seinen Sohn Michele schickte er damit auf Verkaufstour: «Du bist jetzt unser Repräsentant für Asti», beschied der Vater seinem blutjungen Sohn. Ausgerüstet mit einem Fiat Topolino, einer Visitenkarte und mehreren Kilo «Giandujot» machte dieser sich auf, den nahe gelegenen Ort zu erobern. Doch Michele scheiterte zunächst an der Aufgabe. Er war zu ängstlich, um bei den selbstbewussten Bäckern für sein Produkt Werbung zu machen.

 

Pietro Ferrero, der Vater von Michele, hatte in den 1930er Jahren eine Konditorei in Alba. Bild: PD

Erst eine freundliche Dame kaufte ihm schliesslich zehn Kilogramm ab, nachdem sie festgestellt hatte, dass ihre Kunden trotz der damals noch mangelhaften Konsistenz hingerissen waren von dem, was sie verkostet hatten. «Abbiamo vinto, papà!», rief Michele seinem Vater nach der Rückkehr nach Alba zu, wir haben gewonnen. «Es war der Beginn der Geschichte von Ferrero», erzählte der spätere Patron, mittlerweile ein schwerreicher Mann, im Jahr 2013 seinen Angestellten.

Heute zählt Ferrero zu den drei grössten Süsswarenherstellern der Welt. Die aus über hundert Gesellschaften bestehende Gruppe ist an 32 Standorten weltweit tätig, hat 2022 einen Umsatz von 14 Milliarden Euro erwirtschaftet und beschäftigt weit über 40 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. An der Spitze der nicht börsenkotierten Firma steht mittlerweile Giovanni, der Sohn von Michele. Laut Forbes ist Giovanni Ferrero mit einem geschätzten Vermögen von 38,9 Milliarden Dollar der mit Abstand reichste Italiener.

Die neue Biografie zeichnet diese Erfolgsgeschichte nach und präsentiert mit Michele Ferrero einen Unternehmer, der ein untrügliches Gespür für die Bedürfnisse und Vorlieben der Kunden in den Boomjahren nach dem Krieg hatte und zudem wusste, wie man gute Ideen in eine industrielle Logik einpasst.

Früh auf Europa gesetzt

Die Geschichte erzählt darüber hinaus von einem Europa, das sich nach dem Krieg aufrappelte und zusammenwuchs, nicht zuletzt dank dem gemeinsamen europäischen Markt und Unternehmern wie Ferrero, die frühzeitig erkannten, welche wirtschaftlichen Chancen der endlich befriedete Kontinent bot. Es ist Anschauungsmaterial dafür, wie die heutige EU entstand und worin die Kraft ihrer Konstruktion besteht.

Am Anfang stand aber zunächst die Erfindung von bahnbrechenden Produkten für einen Alltag, der zwar noch keine allzu grossen Sprünge erlaubte, trotzdem aber nach dem kleinen Luxus lechzte, nach Süssigkeiten, die erschwinglich waren und nicht allzu frivol.

Die Antwort von Michele Ferrero war, unter anderem: Mon Chéri, die Piemontkirsche, eingehüllt in Schokolade und eingepackt in rosa glänzendes Papier, das daraus ein kleines Geschenk machte; Nutella, der Brotaufstrich, kreiert 1964, an dessen Ursprung «Giandujot» stand, Vaters Erfindung, und deren Weiterentwicklung in Form der sogenannten «Supercrema»; Kinder-Überraschungseier, die süsse Belohnung für den Nachwuchs.

 

Warum nur zu Ostern ein grosses Ei mit einem Spielzeug drin und nicht täglich ein kleines? Das fragte sich Michele Ferrero – und schuf die Kinder-Überraschung. Bild: PD

Micheles Genie bestand darin, es stets anders anzupacken als die anderen: «Alle machten feste Schokolade», sagte er in besagtem Post-mortem-Interview in der «Stampa», «ich machte sie cremig, und Nutella war geboren; alle machten Pralinenschachteln – wir fingen an, sie einzeln zu verkaufen; alle machten das Schoko-Ei für Ostern – ich dachte, wir könnten das Ei kleiner, dafür aber jeden Tag machen.»

So wurde Innovation um Innovation auf die dafür bereiten Märkte geworfen. Michele Ferrero war so fasziniert von neuen Produkteideen, dass er zwischendurch sogar fremdging, wie das Buch erstmals enthüllt: Als Fiat, der Turiner Automobilriese, um die Jahrtausendwende in die Krise geriet, entwickelte er 2004 kurzerhand den Prototyp eines neuen Kleinwagens – «cittadina» genannt –, der besonders leicht einzuparken war und der dem Unternehmen neuen Schwung und der befreundeten Familie Agnelli neue Umsätze hätte bescheren sollen. Hätte, denn der Wagen wurde schliesslich nicht realisiert. Die Fiat-Manager winkten dankend ab.

Besonders aufschlussreich ist die Geschichte von Mon Chéri. Im Jahr 1956, noch bevor die Römer Verträge zur Gründung der heutigen EU unterzeichnet waren, nahm Ferrero mit dem Produkt den europäischen Markt ins Visier, in erster Linie Deutschland. «Wir waren die Ersten in unserer Branche, die sich ins Abenteuer des gemeinsamen europäischen Marktes stürzten», erzählt Ferrero. Noch behinderten hohe Zölle und andere Hindernisse den freien Warenverkehr.

Doch der Patron liess sich nicht beirren. «Als wir ankamen, war Nachkriegsdeutschland ein Land voller Trümmer, traurig, deprimiert. Die Italiener waren sehr schlecht angesehen. Man betrachtete uns als Verräter und Übeltäter. Ich hingegen dachte an etwas, was die Stimmung heben und das Leben der Deutschen jeden Tag versüssen würde: an Schokolade mit einer Kirsche und Likör, der in diesen kalten und schlecht geheizten Zeiten wärmte.» Das Risiko zahlte sich aus. Per 1. Januar 1958 machten sich die Europäer an den Abbau der Zölle, Ferrero schaffte den Durchbruch in Deutschland und ganz Europa, die Vorurteile gegenüber den Italienern nahmen ab.

Valeria – und die Madonna von Lourdes

In seinem unternehmerischen Handeln orientierte sich Michele Ferrero stets an einer fiktiven idealtypischen Kundin. Er nannte sie Valeria. «Valeria ist die Herrin über alles», sagte er, «sie ist die Geschäftsführerin, diejenige, die über deinen Erfolg oder deinen Untergang entscheiden kann, diejenige, die du respektieren musst, die du niemals verraten darfst, sondern bis ins Innerste verstehen musst.»

 

1995 war die Familie noch vollständig: die Söhne Giovanni (hinten links, heute Verwaltungsratspräsident) und Pietro (2011 verstorben) mit den Eltern Maria Franca Fissolo und Michele Ferrero (2015 verstorben). Bild: PD

Valeria war im Weltbild von Signor Michele, wie ihn seine Angestellten in Alba nannten, die Mutter, die Grossmutter, die Tante, diejenige, die einkauft und entscheidet, was konsumiert wird. «Wenn sie eines Tages ihre Meinung ändert und nicht mehr zu dir kommt und nicht mehr bei dir kauft, dann bist du ruiniert.» Wer bei Ferrero arbeitete, musste Valeria vor Augen halten. Sie war die Chefin, die Einzige, welcher selbst der Patron gehorchte.

Obwohl: So ganz genau stimmt das nicht. Signor Michele war ein tiefgläubiger Mann. Besonders hingezogen fühlt er sich zeitlebens zur Madonna von Lourdes. «Ohne ihre Hilfe können wir wenig», sagte er einmal. Ferrero organisierte Firmen-Wallfahrten nach Lourdes, und in all seinen Fabriken wachte eine Madonna-Statue über die Produktion.

Doch auch aus dieser Nähe machte der findige Michele ein Produkt: Ferrero Rocher, laut Firmenangaben eine der meistverkauften Pralinen der Welt. Der Name «Rocher» bezieht sich auf den Roc de Massabielle, die Grotte in Lourdes, in der Maria der Hirtin Bernadette erschien.

* Salvatore Gianella. Michele Ferrero – condividere valori per creare valore. Salani Editore, Milano 2023.

Luzi Bernet, Rom, Neue Zürcher Zeitung

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