Rezession oder nicht: Wer die Wirtschaft erst mit Billigkrediten überhitzt, braucht sich über die Flaute danach nicht zu wundern Die Rezessionswarnungen haben einen neuen, fiebrigen Höhepunkt erreicht. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit dem schwächsten Wachstum seit dem Jahr 1990. Dabei war das Ende des künstlichen Booms von Anfang an «eingebacken».

Die Rezessionswarnungen haben einen neuen, fiebrigen Höhepunkt erreicht. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit dem schwächsten Wachstum seit dem Jahr 1990. Dabei war das Ende des künstlichen Booms von Anfang an «eingebacken».

 

Die Wall Street ist alarmiert über die jüngsten Konjunkturaussichten, die Bevölkerung reagiert derweil noch gelassen. Bild: unsplash

Nun also auch der Internationale Währungsfonds (IMF). «Die Weltwirtschaft steht vor dem schwächsten Wachstum seit dem Jahr 1990», schreibt die Institution aus Washington in ihrem aktuellen «World Economic Outlook» warnend und schliesst sich tendenziell dem Chor besorgter Stimmen an, die zum Teil schon seit Monaten prognostizieren, in den Industriestaaten stehe eine Rezession unmittelbar bevor.

Dort sei die sogenannte harte Landung oder der plötzliche konjunkturelle Umschwung in eine Stagnation oder gar in eine Rezession mit negativen Wachstumsraten «zu einem viel grösseren Risiko geworden», heisst es in dem Bericht. Damit hat die allgemeine Skepsis einen neuen, fiebrigen Höhepunkt erreicht, seitdem verschiedene Marktstrategen der Wall Street bis hin zu einzelnen Unternehmenschefs auf «die negativen Folgen der hohen Inflationsratenzu hohen Zinsen und der jüngsten Bankpleiten» aufmerksam machen.

IMF warnt vor einem «verlorenen Jahrzehnt»

Die meisten von ihnen haben den enormen Preisauftrieb aufgrund gigantischer geld- und fiskalpolitischer Stimulierungsmassnahmen nach der Pandemie trotz eindrucksvollen ökonomischen Modellierungen zwar nicht kommen sehen, wollen nun aber die konjunkturelle Schwäche der kommenden Jahre mit grösster Selbstverständlichkeit in ihren Glaskugeln präzise erkennen können. «Wir sind besorgt über die langfristigen Wachstumsaussichten, nicht nur mit Blick auf die nächsten ein oder zwei Jahre, sondern im Zeitraum von fünf Jahren und mehr», erklärt zum Beispiel Pierre-Olivier Gourinchas als Chefvolkswirt des IMF. Erst kürzlich hatte die Weltbank im Hinblick darauf vor einem «verlorenen Jahrzehnt» gewarnt.

 

Trotz allen skeptischen Prognosen ist es in den USA bisher jedoch nicht zu ausgeprägten rezessiven Tendenzen gekommen, weil absolut betrachtet immer noch sehr viel Geld im Umlauf ist, weil der Häusermarkt schwächelt, aber bis jetzt nicht zusammenbricht, weil der Konsum trotz steigenden Zinsen überraschend robust geblieben ist und vor allem weil sich der Arbeitsmarkt immer noch nicht richtig abgekühlt hat. Die Gewinnmargen der Unternehmen liegen im Durchschnitt weiterhin auf rekordverdächtigem Niveau, so dass die Firmen im Zweifel immer noch dazu tendieren, mit beachtlichen Lohnsteigerungen zu locken, und angesichts vieler offener Stellen allenfalls zögerlich beginnen, Stellen abzubauen.

Zwar ist es im Technologiesektor schon zu verschiedenen Entlassungswellen gekommen, allerdings hatten dort viele Firmen im Rahmen des «pandemischen Booms» ihre Zukunft offensichtlich zu optimistisch eingeschätzt und damals mehr Personal eingestellt, als sie heute benötigen. Nun achten sie stärker auf ihre Effizienz und passen ihre Pläne entsprechend an. Das lässt sich inzwischen auch in anderen Branchen beobachten. So hat McDonald’s in der vergangenen Woche im Rahmen einer Umstrukturierung Hunderten von Mitarbeitern im administrativen Bereich gekündigt und Gehälter gekürzt, wie es heisst. Operativ dagegen will man weiterwachsen.

Der US-Arbeitsmarkt ist immer noch heiss

Wie die jüngsten Zahlen zeigen, entspannt sich der amerikanische Arbeitsmarkt in seiner Gesamtheit zwar leicht, aber die Arbeitslosenquote ist immer noch rekordverdächtig tief, und die Nachfrage in einzelnen Branchen bleibt sehr hoch. In Produktionsbetrieben, Restaurants, Bars, Krankenhäusern und in Pflegeheimen etwa sind noch sehr viele Stellen offen – und das dürfte dazu beigetragen haben, dass die Löhne in diesen Bereichen noch im Februar im Jahresvergleich um bis zu 7 Prozent und damit deutlicher gestiegen sind als die Inflationsrate.

 

Selbst nachdem der allgemeine Preisauftrieb im Land der unbegrenzten Möglichkeiten am Mittwoch überraschend auf 5,0 Prozent gefallen ist, liegt er immer noch weit über dem Üblichen. Die Kernrate hat sogar zugelegt. Folglich müssen die Arbeitgeber mit attraktiven Vergütungen locken, um ihre personellen Lücken zu füllen. Der Personalmangel in verschiedenen kritischen Branchen in den USA ist aufgrund des Rückzugs vieler Babyboomer und eines Wandels der Präferenzen unter Arbeitnehmern so ausgeprägt, dass im Dienstleistungssektor die Entstehung einer Lohn-Preis-Spirale nicht ausgeschlossen zu sein scheint, was am zügigen Rückgang des allgemeinen Preisauftriebs zweifeln lassen kann.

Auch die geld- und fiskalpolitischen Strategien der Regierung unter Führung des demokratischen Präsidenten Joe Biden spielen eine Rolle. Ihre gewaltigen Stimulierungsmassnahmen erhöhten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kurzfristig so stark, dass sie im Verhältnis zum relativ starren Angebot zur hohen Inflation führen mussten – und diese erscheint noch lange nicht besiegt. Denn kaum waren die Renditen an den Bondmärkten im Rahmen der jüngsten Turbulenzen etwas gefallen und hatten die Hypothekarsätze mit nach unten gezogen, stieg auch die Nachfrage nach gebrauchten Autos und nach Einfamilienhäusern, was bei beiden die Preisentwicklung erneut anheizte. Selbst Benzin scheint wieder teurer zu werden, seit die Opec+-Staaten beschlossen haben, das Erdölangebot zu beschränken.

Die Inflation ist «zäher als erwartet»

Sogar IMF-Chefökonom Gourinchas kommt neuerdings zu dem logischen Schluss: «Die Inflation ist viel zäher als noch vor ein paar Monaten erwartet.» Er fürchtet, «unter der Oberfläche bauen sich Turbulenzen auf, und die Situation ist ziemlich fragil». Dabei meint er auch, dass «die drastische Straffung der Geldpolitik in den vergangenen zwölf Monaten ernsthafte Auswirkungen auf den Finanzsektor zu haben beginnt». Die Institution schlägt denn auch vor, die Zentralbanken sollten sich künftig vor allem auf die Bekämpfung der inflationären Strömungen konzentrieren. Die ausgabefreudigen Regierungen dagegen müssten einen Teil der gewaltigen, in den vergangenen Jahren zur Bewältigung von Covid-19 und der Energiekrise eingeführten keynesianischen Stimulierungsmassnahmen reduzieren.

 

Auf diese Weise würde die Rückkehr zu langfristig tragbaren Verhältnissen denkbar: Das dauerhafte Ende der staatlichen Kreditexpansion und der Staatsdefizite würde die Entwicklung der Geldmenge des Landes stabilisieren, die Inflation beenden und so die Kreditmärkte stabilisieren. Unternehmer könnten daraufhin ihre Projekte in der Gewissheit in Angriff nehmen, dass die Kosten nicht plötzlich aufgrund starker Preissteigerungen und oder wegen staatlicher Eingriffe in das Marktgeschehen eskalierten. Davon würde vor allem die Investitionsgüterindustrie profitieren, weil sie sich unabhängig von sonstigen Eventualitäten vor allem am Service für ihre Kunden orientieren könnten.

Die Flaute ist «eingebacken»

Allerdings scheint die amerikanische Politik noch meilenweit von dieser Erkenntnis entfernt zu sein. Sowohl unter Demokraten als auch unter Republikanern ist der Glaube weiterhin weit verbreitet, Struktur- und Wachstumsprobleme am einfachsten mit billigem Geld und staatlichen Ausgabenprogrammen auf Kredit lösen zu können. Dabei fördern tiefe Zinsen oder Programme wie die Inflation Reduction Act zunächst vor allem das spekulative Treiben und das Aufgleisen zweifelhafter Projekte. Der scheinbare Boom führt aber gleichzeitig zu deutlich steigenden Schulden und hohen Inflationsraten – und er endet automatisch in einer Flaute, sobald das nicht mehr möglich ist.

 

Christof Leisinger, New York, «Neue Zürcher Zeitung»

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