Schleppende Umsetzung der Klimaziele bei Unternehmen: «Kurzfristig ergibt es immer noch Sinn, die Welt zu verbrennen» Alles auf netto null: Ein Unternehmen nach dem anderen ruft langfristige Klimaziele aus. Doch allein das Vorhandensein von Zielen laut Experten genügt nicht, um die Erderwärmung einzudämmen.

Alles auf netto null: Ein Unternehmen nach dem anderen ruft langfristige Klimaziele aus. Doch allein das Vorhandensein von Zielen laut Experten genügt nicht, um die Erderwärmung einzudämmen.

 

Arbeiten im Stahlwerk. Bild: unsplash

Wer hat noch nicht, wer will noch? Auf dem Weg ins Flugzeug, am Bahnhof oder in der U-Bahn, überall hängen grosse Werbeplakate, die für den Klimaschutz werben – meist in Form eines Netto-Null-Emissionsziels bis 2050 und oft bezahlt von Unternehmen, die zu den grössten Verursachern von Treibhausgasemissionen gehören.

Daten, die im Juni veröffentlicht wurden, zeigen, dass 702 – mehr als ein Drittel – der grössten kotierten Firmen der Welt Netto-Null-Ziele verkündet haben. Im Dezember 2020 war es laut Neto Zero Tracker noch ein Fünftel.

Diese Entwicklung zeigt, dass der Klimaschutz im Mainstream der Geschäftswelt angekommen ist. Schaut man viele dieser Ziele aber genauer an, offenbaren sich Schwachstellen. Laut dem Net Zero Tracker erfüllten 65 Prozent der Unternehmen nicht einmal die Mindeststandards für die Berichterstattung über die Umsetzung der gesetzten Ziele.

Die Studie ist bei weitem nicht die einzige, welche die Qualität vieler dieser Nachhaltigkeitsversprechen hinterfragt. Greenwashing wird zunehmend zu einem Problem, mit dem sich nicht nur Aktivisten, sondern auch Regulatoren, Investoren und die Strafverfolgungsbehörden beschäftigen. Im Raum steht der Verdacht, dass viele Unternehmen entweder keinen glaubwürdigen Plan haben, ihre Verpflichtungen langfristig umzusetzen – oder in ihren Klimazielen zu kurz greifen.

Vergangenen Monat rechnete das Carbon Disclosure Project (CDP) vor, dass es in keinem der sieben reichsten Industriestaaten (G-7) eine Branche gebe, die ihre Emissionen schnell genug reduziere, damit die Erderwärmung auf 1,5 Grad beschränkt werden könne, wie es das Pariser Klimaziel vorsieht. Stattdessen steuern die Klimaversprechen der Unternehmen laut der Nichtregierungsorganisation zusammengerechnet eher auf eine 2,7-Grad-Welt zu.

CDP ist eine der Gruppen hinter der Science Based Target initiative (SBTi). Diese prüft und zertifiziert die Klimaziele von Unternehmen auf Basis wissenschaftlicher Standards und ist so zu einem Qualitätsnachweis im Dschungel der grünen Versprechen geworden. Seit vergangenem Jahr gibt es auch einen Netto-Null-Standard, um die explosionsartige Zunahme langfristiger Versprechungen mit dem 1,5-Grad-Ziel in Einklang zu bringen. Laut CDP haben knapp über 1400 Unternehmen sich bislang zu einem Netto-Null-Ziel verpflichtet; 80 wurden so weit validiert.

Deutschland gehört gemeinsam mit Italien zu jenen Ländern, die in der CDP-Wertung am besten abschnitten: Die dortigen Unternehmen seien auf einem 2,2-Grad-Pfad. Unternehmen aus Frankreich und Grossbritannien belegten derweil die Mittelplätze in der Auswertung. Insgesamt hätten sich europäische Unternehmen in den letzten zwei Jahren von 2,7 auf 2,4 Grad verbessert, sagt Laurent Babikian, der Leiter des Kapitalmarkt-Teams bei CDP. Kanadas Wirtschaft steuert laut Hochrechnungen dagegen auf 3,1 Grad zu und schneidet damit am schlechtesten ab. In Kanada und in den USA verpflichten sich laut CDP viel weniger Unternehmen darauf, wissenschaftlich basierte Unternehmensziele zu erreichen.

Babikian ist überzeugt davon, dass von unabhängiger Seite geprüfte Klimaziele zu schnelleren Emissionsreduktionen führen. Er verweist auf Deutschland, wo über 75 Prozent der gemeldeten Emissionen von Unternehmen stammen, deren Ziele von SBTi validiert wurden. Die Herausforderung bestehe nun darin, diese Dynamik weltweit zu verbreiten – insbesondere in den USA, Asien und den Schwellenländern.

«Wir werden nicht in der Lage sein, unsere Wirtschaft auf 1,5 Grad auszurichten, wenn die Unternehmen, die derzeit die höchsten Emissionen verursachen, nicht schnell dekarbonisieren», sagt Babikian.

Der Weg zur klimafreundlichen Wirtschaft kostet Hunderte Billionen Dollar

Der Umbau hin zu einer Volkswirtschaft, die von grünem Strom angetrieben wird, mit nachhaltigem Stahl baut und umweltfreundliche Produkte entwickelt, erfordert sehr viel Geld. Das Beratungsunternehmen McKinsey rechnete dieses Jahr vor, dass es Investitionen in der Grösse von 275 Billionen Dollar brauche, also durchschnittlich 9,2 Billionen Dollar pro Jahr, um den Umbau zu einer Netto-Null-Wirtschaft zu finanzieren. Das entspricht im Vergleich zu heute einem jährlichen Anstieg von bis zu 3,5 Billionen Dollar.

Laut Experten greife da der Ansatz von «Green» oder «Sustainable Finance» zu kurz, sagt Elia Trippel, eine Analytikerin bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Begriff müsse differenziert werden, um wirklich nachhaltige Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien – beispielsweise Windparks – von Aktivitäten abzugrenzen, die laut Pariser Klimazielen noch nicht im engeren Sinn nachhaltig seien, aber sich in diese Richtung bewegten.

Die OECD spricht in diesem Zusammenhang von Übergangsfinanzierung. Diese breiter gefasste Auslegung von «Sustainable Finance» soll künftig stärker forciert werden. «Davon profitieren können alle Wirtschaftssektoren, auch Firmen, die heute verschmutzen und einen hohen Emissionsausstoss haben, solange sie einen Plan haben, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen», sagt Trippel.

Der regulative Druck steigt

Natürlich besteht bei einer breiteren Interpretation des Nachhaltigkeitsbegriffs immer das Risiko, dass Unternehmen ihren Vorhaben einen grünen Anstrich geben, um an Geld zu kommen. Um Greenwashing einzudämmen, arbeitet Grossbritannien derzeit an einem «Goldstandard» für Klimaschutzpläne von Finanzinstitutionen und Unternehmen.

Das Finanzministerium lancierte im April die sogenannte «UK Transition Plan Taskforce», um sicherzustellen, dass die Pläne zum Erreichen der Netto-Null-Klimaziele Hand und Fuss haben. So greifen ab nächstem Jahr neue Verpflichtungen zur Berichterstattung für viele grosse Unternehmen und Finanzinstitute in Grossbritannien, um Klimarisiken transparenter darzustellen.

Kate Levick vom Umwelt-Think-Tank E3G sagt, Unternehmen sollten sich darauf gefasst machen, bald über ihre Umstellung zu einer Netto-Null-Welt berichten zu müssen. Eine entscheidende Frage lautet, wie ein glaubwürdiger Plan in Zukunft überhaupt aussehen soll. «Es gibt einfach noch nicht besonders viele bewährte Verfahren», sagt Levick im Podcast-Gespräch mit Trippel. Es sei schwierig, eine allgemeingültige Checkliste für jedes Unternehmen zu erstellen. Denn der Erfolg der Nachhaltigkeitsanstrengungen hänge von vielen Faktoren ab: von der Firma selbst, den Wettbewerbern, dem nationalen Kontext und den verfügbaren Technologien.

Für Trippel steht aus diesem Grund auch fest: Ein Übergangsplan muss darlegen können, wie ein Unternehmen bis 2050 die eigenen Emissionen so weit wie möglich auf null reduziert. Mit kleinen, schrittweisen Veränderungen sei es nicht getan, warnt sie.

Wenn ein Unternehmen zur Verbesserung der eigenen Treibhausgasbilanz beispielsweise von Kohlekraft auf Erdgas wechselt, ist das aus Sicht der Treibhausgasemissionen zwar kurzfristig eine Verbesserung. Langfristig aber trägt dies dazu bei, dass die Gasinfrastruktur zu lange in Betrieb gehalten werde, und das, obgleich die Ziele des Pariser Klimaabkommens eigentlich verlangen, grossflächig aus den fossilen Energien auszusteigen. «Es geht nicht nur um Dekarbonisierung und das Erreichen der Netto-Null-Ziele», sagt Levick. «Es geht auch darum, neue Industriezweige aufzubauen und neue Lösungen zu entwickeln.»

Ein neuer Markt entwickelt sich

Die schnellere Gangart kommt vor allem bei jungen Investoren gut an. «Du kannst natürlich der grüne ‹gute› Investor sein, der nur in erneuerbare Energie investiert, aber das geht an der Realität vorbei», sagt Mátyás Csiky im Gespräch. Csiky war bei dem Private-Equity-Unternehmen Partners Group für Nachhaltigkeit bei europäischen Anlagen zuständig und ist heute als Mitgründer von Atacama Partners tätig, einem Fondsmanager, der sich unter anderem auf den Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft konzentriert. «Natürlich brauchen wir die erneuerbaren Energien, aber der grösste Aufwand liegt bei den Unternehmen, die noch nicht grün sind, ob in der Zement-, Stahl- oder Energiebranche», sagt Csiky. Viele dieser Firmen würden heute schon an den Finanzmärkten dafür bestraft, noch nicht grün zu sein.

Er und seine Partner nutzen die Taxonomie der EU – das Nachschlagewerk für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten –, um diejenigen Unternehmen herauszufiltern, die heute zwar viel emittieren, aber mittels existierender oder entstehender Technologien in einer klimaneutralen Wirtschaft weiterhin bestehen können.

Dabei gibt es einige Kriterien, die für Csiky ausschlaggebend sind. Zum einen schaue man darauf, ob das Klimaziel des Unternehmens durch die SBTi validiert wurde. Das signalisiere, dass sich das Management der Firma mit den eigenen Verpflichtungen auseinandergesetzt habe, sagt Csiky, auch wenn das natürlich nicht ausreiche. Unternehmen könnten ziemlich schnell sagen, sie hätten ein SBTi Target. Es gebe genug Untersuchungen, die zeigten, dass viele Unternehmen ihren eigenen Zielen in Wahrheit noch nicht nachkämen.

Mehr Aufschluss geben können konkrete Übergangspläne. Das Vorhandensein eines solchen Plans sei ein wichtiges Indiz dafür, dass sich ein Unternehmen engagiere, sagt Csiky. Ohne vergleichbare Standards kann die Qualität solcher Pläne jedoch ziemlich unterschiedlich sein. Es lohnt sich, genau hinzusehen, so Csiky, und «zu verstehen: Wie stellt sich das Unternehmen die Roadmap wirklich vor?»

Die politischen Rahmenbedingungen müssen stimmen

Diese Linie vertritt auch Georg Kell. Er war der Gründer des Global Compact, des nachhaltigen Unternehmensverbunds der Vereinten Nationen, heute ist er Vorsitzender von Arabesque, einer Technologiefirma für nachhaltige Investitionen. Anleger sollten wissen, wie ernst es den Unternehmen sei, und ihre Bewertung entsprechend anpassen, sagt er. Umstellungspläne spielten hier eine wichtige Rolle, genauso wie das Messen von Emissionen und Umweltauswirkungen entlang der Wertschöpfungskette. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass es eine Illusion sei zu glauben, dass es «grüne» und «braune» Unternehmen gebe – fast alle Unternehmen verursachten auf die eine oder andere Weise Umweltverschmutzung.

Am Ende steht auch fest: Unternehmen allein können es nicht schaffen. Es braucht die politischen Rahmenbedingungen, um die Umstellung auf eine Netto-Null-Welt zu gewährleisten. Die Unternehmen müssten kommerziell überleben, sagt Kell. Und solange sich die Rahmenbedingungen nicht änderten, unter anderem über wirksame CO2-Bepreisung, das Verbraucherverhalten oder über Auflagen bei öffentlichen Aufträgen, könnten sich die Märkte nicht aus eigener Kraft umstellen.

Das heisst nicht, dass Unternehmen durch Technologie und Investitionen keine Vorreiterrolle spielen können. Aber noch könnte man argumentieren, dass die meisten der Unternehmen, die Netto-Null-Ziele angekündigt haben, zwangsläufig in Konkurs gehen würden, wenn sie es wirklich ernst meinten, sagt Kell. «Kurzfristig ergibt es immer noch Sinn, die Welt zu verbrennen.»

Kalina Oroschakoff, «Neue Zürcher Zeitung»

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