«Vom Golfplatz aus fördert man keine solche Firmenkultur» – warum der Arbeitgeber Rudi Bindella sich als Arbeitnehmer sieht Sein Familienunternehmen hat entscheidend zum Erfolg der italienischen Lebensart in der Deutschschweiz beigetragen. Nun tritt Rudi Bindella senior mit 75 Jahren endgültig in die zweite Reihe.

Sein Familienunternehmen hat entscheidend zum Erfolg der italienischen Lebensart in der Deutschschweiz beigetragen. Nun tritt Rudi Bindella senior mit 75 Jahren endgültig in die zweite Reihe.

 

Rudi Bindella senior (rechts) gibt die ganze Verantwortung an den ältesten Sohn Rudi Bindella junior weiter. Bild: PD

Die Gastrogruppe, die für Italianità steht wie kaum eine andere hierzulande, ist auf einem urschweizerisch anmutenden Humus gewachsen: «Werte, wie sie schon beim Rütlischwur wichtig waren», nennt Rudi Bindella senior auf die Frage, was ihm sein Vater als Unternehmer mitgegeben habe: «Disziplin, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Sinn für Wirtschaftlichkeit.» Wer will, kann sie auch Zwingli zuschreiben: Die Familie Bindella ist vor über hundert Jahren vom Tessin nach Zürich übergesiedelt – hat allerdings spanische Wurzeln.

Wer hinter solchen Attributen einen trockenen Businessman vermutet, sieht sich bei Begegnungen mit Bindella gründlich getäuscht. In den Augen funkelt Lebens- und ein Funke Abenteuerlust. Er betont zwar wiederholt den Wert des Masshaltens, sei’s in der Liebe, in der Politik oder im Unternehmertum; gleichzeitig gilt er als impulsiv und räumt freimütig ein, privat wie geschäftlich mitunter «sehr schnell und extrem» zu sein.

Ergründung eines Phänomens

Nebst den erwähnten Werten und dem Familien- samt Vornamen übernahm er von Papa Rudolf nach dessen Tod 1982 eine Firma mit einem Jahresumsatz von gut 40 Millionen Franken. Heute liegt dieser fünfmal so hoch, was das kleine Imperium zur grössten familiengeführten Gastrofirma des Landes macht.

45 Gastbetriebe von Schaffhausen bis Freiburg, etwa ein Drittel mehr als noch zur Jahrtausendwende, bilden den Kern der Gruppe; hinzu kommen eine Weinhandlung, ein Gipser- und Malergeschäft – plus ein Portfolio an Immobilien an bester Lage, das ebenfalls schon der Vater aufzubauen begonnen hatte. Heute gehören dem Unternehmen rund ein Drittel der Liegenschaften, in denen es wirtet.

Nun ist der nächste Generationenwechsel vollzogen: Ins firmeneigene Restaurant Terrasse am Zürcher Bellevue ist vor einigen Wochen rund ein Drittel der 1400-köpfigen Belegschaft der Bindella Terra Vite Vita SA zu einer Doppelfeier geladen worden: Es ist der Abend von Rudi Bindellas 75. Geburtstag, an dem er, wie vor Jahren angekündigt, die Firmenführung weiterreicht.

Er tritt ganz zurück ins zweite Glied, seine Stimme wird nur noch beratende Funktion haben. «Aber in den Ruhestand trete ich nicht», stellt er klar, «ich will den Sohn nach allen Möglichkeiten unterstützen.» Gemeint ist Rudi junior, mit Jahrgang 1977 der älteste der vier Söhne, der seit fünf Jahren schon alle Bereiche bis auf den Weinhandel verantwortet und nun die Gesamtleitung übernimmt.

Das Phänomen Bindella in einem verschärften Verdrängungswettbewerb zu ergründen, mündet immer wieder in eine Schlüsselfrage: Wie eint man eine Gastrogruppe, die so unterschiedlich positionierte Betriebe wie das Feinschmeckerlokal «Ornellaia» und die «Santa Lucia»-Betriebe umfasst, fern des Ketten-Miefs in einem gemeinsamen Geist? Mit Italianità allein ist das nicht erklärt, schon eher mit dem Geheimnis der Gastlichkeit, so oft beschworen und nicht nur im mürrischen Zürich so selten eingelöst.

Die einzelnen Geschäftsführer treten als Gastgeber auf, auch viele Angestellte vermitteln Besuchern das Gefühl, sich persönlich für deren Wohlergehen verantwortlich zu fühlen. Und das hat viel mit einem Patron zu tun, der Menschlichkeit als zentrale Eigenschaft guter Unternehmer ansieht. Schon vor Jahren prägte er das Bonmot, dass Arbeitgeber eigentlich Arbeitnehmer heissen müssten: Schliesslich sei es nicht selbstverständlich, dass Angestellte sich in ihren Dienst stellten.

Schon Rudolf Bindella, der Vater von Rudi senior, pflanzte der Firma den Samen der Italianità ein. Bild: PD

Als Reverenz an deren Arbeit kann gesehen werden, dass er so gut wie jede Mahlzeit in einem seiner Restaurants einnimmt, stets korrekt angemeldet. Hinzu kommen regelmässige Besuche von Vater und Sohn, um die Mitarbeitenden zu schulen. «Viele von ihnen würden für uns durchs Feuer gehen», sagt Rudi Bindella und fügt an: «Vom Golfplatz aus fördert man keine solche Firmenkultur.» Gewiss zwei Drittel der Angestellten kenne er persönlich, wenn auch nicht alle gleich mit Namen, und etwa ein Fünftel sei seit mindestens zehn Jahren dabei. Der Allrounder Giuseppe Cirillo, noch heute der gute Geist im Haus in Höngg, kam als Teenager aus Italien und wurde schon von Rudolf Bindella eingestellt. Jeden Morgen um fünf Uhr trinken, so hört man, die beiden Rudis mit ihm ihren ersten Ristretto des Tages.

Je grösser das Unternehmen sei, desto schwieriger sei diese Nähe allerdings aufrechtzuerhalten, gibt Rudi Bindella senior zu bedenken. Und der derzeitige Fachkräftemangel in der Gastronomie macht trotz allem auch seiner Firma zu schaffen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um den hohen Stressfaktor im Kochberuf geht: «Hohes Tempo, Hitze, der Druck ist enorm.»

Im Grunde wäre, wie er anmerkt, die Arbeit in Küchen wie an den Tischen besser zu entlöhnen, was allerdings eine gesteigerte Wertschöpfung voraussetzen würde. Sprich: Preiserhöhungen, die in der Hochpreisinsel Zürich kaum realistisch wären. Hinter der schwindenden Bereitschaft, sich schwierigen Arbeitsbedingungen auszusetzen, sieht er aber auch gesamtgesellschaftliche Tendenzen: «Es geht uns allen etwas zu gut, und ein satter Tiger jagt nicht mehr.» Zurzeit versuche man gezielt Personal in Italien zu rekrutieren, wofür man eigens eine Vermittlerin angestellt habe.

Über kaum einen wird in der sonst durchaus zum Lästern neigenden Branche mit so viel Respekt gesprochen wie über Rudi Bindella senior und das, was er aufgebaut hat. Er gilt vielen als Vorbild, auch Michel Péclard, der in der folgenden Generation zu einem der Zürcher Platzhirsche aufgestiegen ist: Ein Pranzo mit Bindella senior sei immer wie eine Lektion in Firmenphilosophie, hält er fest. «Dann bin ich immer ganz junior und sauge auf, so viel ich kann. Obwohl er sein Unternehmen fast gnadenlos konsequent auf Kurs hält, verströmt zudem alles diese unnachahmliche Leichtigkeit.»

Zu Bindellas Glaubwürdigkeit trägt bei, dass ihm jeglicher Dünkel ein Greuel ist. Wenn er etwas predigt, dann Bescheidenheit und das Credo, dass man sich selbst nicht zu wichtig nehmen sollte, ja, überhaupt niemand wichtiger sei als andere. Gegen Luxuskonsum weiss er, der seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften der Hochschule St. Gallen mit einer Dissertation zu Steuerrecht und Bodenpolitik erwarb, ebenso zu wettern wie gegen die Arroganz des Kapitals, die er schon bei grossen Immobilienbesitzern an der Bahnhofstrasse ortete.

Lieber als der Scheinwerfer ist ihm die Kerze, sie brennt auf den Tischen aller Restaurants – und bei jedem wichtigen Gespräch in der Firma. Und während trendige Gastronomen elaborierte Claims ersinnen, lautet der simple Bindella-Spruch seit Jahrzehnten: «La vita è bella». Es gibt innovativere Gastrofirmen, gewiss. Doch von der Beständigkeit lebt erfolgreiches Unternehmertum ebenso wie die italienische Kochtradition, deren Faszination (wie auch jene der asiatischen übrigens) er so auf den Punkt bringt: «Die guten Lösungen sind immer einfach, darum sind sie auch die schwierigsten.»

Die Pizza bahnt sich den Weg

Er selbst ersetzte vor vierzig Jahren die vom Vater gekauften Westschweizer Weinberge durch das Gut Vallocaia in der Montepulciano-Region, das inzwischen von 2,5 auf 175 Hektaren gewachsen ist. Und er trimmte die ganze Firma konsequent auf Italianità, für die er sich Jahr für Jahr bei Ferien mit den Eltern und später in einem Auslandsemester in Perugia begeistert hatte. Und sein Grossvater Jean, Spross italienischer Einwanderer mit spanischen Wurzeln, war dort geboren und aufgewachsen, wo die Schweiz und das südliche Nachbarland sich umarmen: im Tessin. 1909 zog er als Erster hierzulande einen Chianti-Import auf, der namentlich bei heimwehkranken italienischen Einwanderern punktete, und zog dann mit seiner deutschstämmigen Gattin Anna Mayer nach Zürich.

Dort eroberte die italienische Lebensart Jahrzehnte später die Deutschschweiz, mit massgeblicher Unterstützung der Bindellas. Rudolf eröffnet 1965 die erste Pizzeria mit Holzofen in der Stadt, das Ur-«Santa Lucia» in Zürich 5, dessen Teigfladen die NZZ als das «südländische Pendant unserer einheimischen Wähen» umschrieb. Nach und nach verlor die italienische Küche ihren Exotenstatus, und heute gilt sie als eingebürgert. Aus dem südlichen Nachbarland stammen nach wie vor zwei von fünf importierten Weinen, in anderen kulinarischen Bereichen dürfte es ähnlich aussehen.

Die vier Söhne hat der Patron zusammen mit seiner ersten Frau, Christa Bindella-Gschwend, seine heute zwölfjährige Tochter stammt aus einer zweiten Ehe. Immer wieder zieht er im Gespräch über seine Arbeit als Unternehmer Parallelen zu Liebesfragen, in denen diese oder jene Eigenschaft ebenfalls wichtig sei.

In Geschäftsfragen gilt er als harter Verhandler, der zu seinem Wort steht. Natürlich kennt er auch Rückschläge in diesem Bereich – etwa als die Migros als Vermieterin seinem vor 44 Jahren mit viel Herzblut gegründeten «Santa Lucia»-Standort in Altstetten den Stecker zieht. Er legt seinen Frust über diesen als illoyal empfundenen Schnitt in aller Ruhe dar, wenngleich es in ihm brodelt: «Man merkt, dass man vielleicht ein Auslaufmodell ist, wenn sich die Werte derart ändern.»

Er ist Feingeist mit einem für manche wohl fast schon naiv anmutenden Glauben an das Gute und das Schöne. Seinen Texten, ob geschäftliche Mails oder Beiträge zum Weinprospekt, verleiht er dank eigenwilliger Handhabung von Satzbau und -zeichen meist eine Art Versform. Von seiner Liebe zur bildenden Kunst vorwiegend einheimischer Provenienz geprägt sind die Restaurants ebenso wie die Büros im Hauptsitz in Höngg, wo jeder Zentimeter an den Wänden und jede Nische mit hochkarätigen Werken bestückt zu sein scheint.

Den Esssaal des «Terrasse» prägen Statuen von Rolf Brem, der Patron verkriecht sich an seinem Geburtstag nicht an einem Ehrentisch, er mischt sich unter die Belegschaft im weissen Polo-Shirt. Dieses gehört zur «Uniform» seiner Band Les Moby Dicks, die gleich ihren Auftritt hat. Er hat sie als 16-jähriger Schüler des damals streng geführten Freiburger Collège St-Michel gegründet, sie spielt bis heute die Hits von damals, noch immer mit ihm am Schlagzeug: Er gibt den Takt an, ohne sich in den Mittelpunkt zu stellen. Auf «California Dreamin’» von The Mamas and the Papas folgen einschlägige Canzoni, bei «Sapore di sale, sapore di mare» übernimmt seine Stimme für einmal den Lead.

Das «Più» weist in die Zukunft

Die südeuropäisch geprägte Festgesellschaft erweckt den Eindruck einer riesigen Famiglia. Einige Mitglieder des engsten Familienkreises fehlen allerdings – was zumindest erahnen lässt, dass solche Nachfolgeregelungen oft eine Belastungsprobe für alle Beteiligten bedeuten. Das hat der Vater unlängst auch am Swiss Economic Forum bei einem gemeinsamen Auftritt mit Rudi junior angedeutet.

Vor der Belegschaft im «Terrasse» begründet er die Wahl von Rudi junior zuallererst mit dessen menschlichen Qualitäten: «Von den vier Söhnen verfügt er nach meinem Empfinden über das grösste Feingefühl.» Unternehmerisch die stärkste Duftmarke hat dieser bis anhin mit dem «Più»-Konzept gesetzt, 2015 in der alten Zürcher Sihlpost realisiert und inzwischen vervielfältigt. Diese Marke soll künftig auch den Weinhandel beleben und dort jüngere Generationen ansprechen.

Der Vater attestiert ihm, im sehr dynamischen und hoch positionierten Zürcher Markt «frischen Sauerstoff in die Firma zu bringen». Gemeinsam signiert das Duo, das auch einige physiognomische Eigenheiten wie das markante Kinn teilt, mit «Rudi Bindella – Vater und Sohn».

Noch hat Letzterer zumindest in öffentlichen Auftritten nicht das Format des Herrn Papa, dessen Voten er im Gespräch gerne mit der Wendung «Ich sehe es genau gleich» aufnimmt. Das mögen manche als Zeichen mangelnder Eigenständigkeit interpretieren, aber eine Kopie ist er nicht. Er wirkt fast schon gesetzt im Vergleich zum Senior, bezeichnet sich selbst als vorsichtiger und besonnener. Nach zentralen Werten der Unternehmenskultur gefragt, nennt der 46-jährige Vater zweier Töchter allerdings zuerst den Fleiss, den die Chefs vorzuleben hätten. Es ist ein Credo, das als Erbe des eigenen Vaters wie auch des Grossvaters gelten kann.

Urs Bühler, «Neue Zürcher Zeitung»

Das könnte Sie auch interessieren: