Warum Führungskräfte sich gerne an Management-Ratgeber klammern Ratgeber für Führungskräfte stehen hoch im Kurs. Handelt es sich um moderne Märchen, denen jegliche Wissenschaftlichkeit abgeht? Oder sind sie vielmehr wertvolle Anleitungen zur Selbstreflexion?

Ratgeber für Führungskräfte stehen hoch im Kurs. Handelt es sich um moderne Märchen, denen jegliche Wissenschaftlichkeit abgeht? Oder sind sie vielmehr wertvolle Anleitungen zur Selbstreflexion?

 

Die Kunst ist, aus den unzähligen Tipps, wie man wann etwas machen soll, die wirklich nützlichen herauszufiltern. Bild: unsplash

Ratgeber für Führungskräfte haben Hochkonjunktur. Ob in Buchform, als Hörtext oder Podcast versprechen sie Schützenhilfe für die unterschiedlichsten Probleme und Lebenssituationen: «Positive Leadership: Die fünf Schlüssel zur High Performance» lautet beispielsweise der Titel, der einen revolutionären Führungsansatz anpreist. Sind Sie gerade zum Chef befördert worden? Dann empfiehlt sich: «Neu als Führungskraft: So werden Sie ein guter Vorgesetzter». Für Führungskräfte, die sich zu viel aufhalsen, gibt es den Ratgeber «Der Minuten-Manager und der Klammer-Affe» – und für alle, die mit Konflikten konstruktiver umgehen möchten: «Vom Umgang mit sturen Eseln und beleidigten Leberwürsten».

Management-Magazine versuchen derweil, Führungskräften den mühsamen Suchprozess zu erleichtern: «Diese zehn Titel sollten Sie als Führungskraft unbedingt gelesen haben.»

Bedarf nach Selbstoptimierung in schnelllebigen Zeiten

Nicht nur Management-Ratgeber, sondern Ratgeber jeglichen Genres sind begehrt. Nach Belletristik, Kinder- und Jugendbüchern bilden sie laut der Statistik des Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verbandes (SBVV) die drittgrösste Büchergruppe. In der deutschsprachigen Schweiz erwirtschaften sie 17 Prozent des Umsatzes der stationären Buchhändler und Online-Shops. Und die Nachfrage scheint bei weitem nicht gesättigt. Bei Orell Füssli spricht man für die Kategorie der Ratgeberbücher mit Blick auf das zurückliegende Jahr von einem zweistelligen prozentualen Absatzwachstum.

Davon profitiert auch das Unternehmen getAbstract, das sich auf die Zusammenfassungen von Wirtschaftsbüchern und Klassikern der Weltliteratur spezialisiert hat. Ratgeber gehören bei getAbstract zu den beliebtesten Titelgruppen. Immer häufiger werden die Zusammenfassungen (statt in schriftlicher Form) als Audioversion heruntergeladen und konsumiert. Besonders gefragt sind Beiträge, die sich mit den Themen Produktivität, Konzentration und Achtsamkeit befassen. Ebenfalls auf ein grosses Interesse stossen die Schwerpunkte Work-Life-Balance, psychische Gesundheit, Führung und Motivation. In den Fokus gerückt sind seit der Pandemie ausserdem Themen rund um die virtuelle Zusammenarbeit in Teams.

Ratgeberbücher erklären die komplexe Welt in einfacher Form

«Der Bedarf, Wissen effizient aufzunehmen, hat in den zurückliegenden 30 Jahren markant zugenommen», sagt Thomas Bergen, der getAbstract vor 24 Jahren mitgegründet hat. Dies hängt seiner Ansicht nach mit drei Faktoren zusammen: Erstens verweist Bergen auf die enormen Produktivitätssteigerungen in der Arbeitswelt. Diese Entwicklung habe sich in den letzten Jahren infolge von Fortschritten im Bereich der künstlichen Intelligenz nochmals beschleunigt. «Wir alle sind gefordert, uns ständig zu verbessern. Und wir können die Verantwortung dafür nicht an unsere Arbeitgeber outsourcen», erklärt der CEO von getAbstract.

Thomas Bergen ist Mitgründer von getAbstract.

Zweitens nennt Bergen die Anforderung der ständigen Erreichbarkeit. Drittens sei infolge der Globalisierung auch der Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz stark gestiegen. Diese Faktoren sorgen laut Bergen für einen massiv erhöhten Bedarf an Selbstoptimierung. «Jeder spürt, er ist unter Druck.»

Ähnlich sieht dies Gudela Grote, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich. «Wenn man vor schwierigen Aufgaben steht, für die es keine objektiv richtigen Ja- oder Nein-Antworten gibt, ist man heilfroh um jegliche Orientierung.» Ratgeberbücher hätten den Vorteil, dass sie Lesern die komplexe Welt vereinfacht erklärten. Manchmal wohl auch etwas zu einfach, fügt Grote hinzu.

Fehlerhafte Datenbasis, unzulässige Schlussfolgerungen

Zu den grössten Kritikern der Ratgeberliteratur zählt Phil Rosenzweig, emeritierter Professor an der Lausanner Kaderschmiede IMD. In seinem 2007 erschienenen Buch «Der Halo-Effekt» befasst er sich ausführlich «mit den sagenhaften Erfolgsgeschichten und idiotensicheren Patentrezepten» für Führungskräfte und gelangt dabei zu folgendem Schluss: «Management-Ratgeber-Bücher bedienen die Sehnsucht nach modernen Märchen – nicht mehr und nicht weniger.»

Dabei unterlägen Autoren und Leser der Täuschung des Halo-Effekts: «Man lässt sich von positiven Erscheinungen blenden und schliesst von ihnen auf das Gesamtbild», lautet Rosenzweigs Urteil. Die meisten Business-Studien beruhten auf einer schwachen oder fehlerhaften Datenbasis und zögen unzulässige Schlüsse. Es sei unmöglich, die einzig erfolgsträchtigen Strategien zu isolieren, da immer mehrere Erfolgsfaktoren korrelierten.

Wirtschaftsführer einmal hochgejubelt, dann verteufelt

Am Beispiel von Lego, Cisco oder ABB zeigt der Autor, wie die Unternehmensentwicklung von der Wirtschaftspresse gedeutet und im Laufe der Zeit konträr interpretiert wird. Dies wirkt sich laut Rosenzweig auch darauf aus, wie der CEO in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. In Zeiten des Erfolgs feierte die Wirtschaftspresse zum Beispiel Percy Barnevik von ABB als «charismatisch, mutig und visionär». Als die Leistung sich verschlechterte, kippte die Stimmung. Barnevik galt fortan als «arrogant, herrschsüchtig und unempfänglich für Kritik». Rosenzweigs Buch löste vor allem in der Wirtschaftspresse ein breites Echo aus.

Dass die Ratgeberliteratur sich nicht notwendigerweise mit wissenschaftlichen Fakten deckt, bemängelt auch Grote. Hinzu komme, dass die Management-Forschung selbst noch immer nicht überall als vollgültige Wissenschaft anerkannt sei. Sie habe keine klare disziplinäre Basis und bediene sich der Methodiken und Erkenntnisse vieler Forschungszweige wie der Psychologie, der Soziologie oder der Ökonomie, führt die ETH-Professorin aus. Um als Sozialwissenschaft zu Ergebnissen zu gelangen, sei die Management-Forschung darauf angewiesen, in komplexen Gefügen bestimmte Effekte zu isolieren, was wiederum deren generelle Aussagekraft schmälere. Anders als in der Naturwissenschaft seien Experimente, die kausale Zusammenhänge aufzeigen könnten, nur schwer durchführbar.

Gudela Grote, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich.

Gleichwohl sieht Grote in Ratgeberbüchern durchaus auch positive Aspekte. Gute Management-Literatur könne bei Leserinnen und Lesern die Selbstreflexion fördern. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Lektüre führe möglicherweise dazu, dass Mitarbeiter und Führungskräfte sich selbst gegenüber ehrlicher seien und Unsicherheiten und Probleme offen besprächen.

Nicht selten handle es sich um sinnvolle, allgemeingültige Ratschläge, führt die ETH-Professorin aus: bescheiden und authentisch sein, sich zurücknehmen, dem Gegenüber zuhören, Fragen stellen und das Team einbeziehen. Solche Anregungen würden helfen, sich selbst infrage zu stellen. «Wenn solche Grundsätze mehr berücksichtigt würden, könnten viele Management-Fehler vermieden werden», ist Grote überzeugt. Je höher eine Führungskraft die Hierarchieleiter emporsteige, desto einsamer sei sie. Man erhalte weniger Rückmeldungen, und umso grösser sei auch die Gefahr, sich zu verrennen. Ratgeberbücher können im Urteil von Grote insofern eine Stütze sein, vor allem auch für Personen, die unverhofft mit einer Führungsrolle konfrontiert seien. Sie fänden darin eine Art Anleitung, die sie handlungsfähig mache und die Verunsicherung etwas reduziere.

Orientierungshilfe für widersprüchliche Zielsetzungen

Was auch für gestandene Führungskräfte und Mitarbeiter den Bedarf nach Orientierungshilfen erhöht, ist der Umstand, dass sie sich in der modernen Arbeitswelt mit unzähligen, teilweise widersprüchlichen Zielsetzungen konfrontiert sehen: Da ist beispielsweise ein sich rasant änderndes Umfeld, das Firmen zu fortwährenden Anpassungen zwingt. Gleichzeitig muss die Führung auch ein gewisses Mass an Stabilität beibehalten, ohne die eine Organisation nicht funktionieren kann.

Wie treibt man innerhalb des Unternehmens den technologischen Fortschritt voran, ohne die Implikationen auf die Beschäftigten aus den Augen zu verlieren? Wie agiert man in einem von Politik geprägten Umfeld, ohne die eigene Integrität aufzugeben? Wie strahlt man als Führungskraft Selbstbewusstsein aus und behält gleichzeitig die nötige selbstkritische Distanz, um Fehler zu erkennen? Der Bedarf an Orientierung ist gross.

Doch wer sind die Autoren solcher Ratgeberbücher? Da sind zum einen Professorinnen und Professoren von Management-Universitäten. Für Lehrkräfte der Harvard Business School und anderer Eliteuniversitäten sind wissenschaftsbasierte Ratgeber Teil ihres Pflichtenhefts. Es gehört zu ihrem Job, Wissen mehr oder weniger verständlich einem breiteren Publikum zu vermitteln.

Berater erfinden Modetrends für Firmen und Führungskräfte

Zum anderen steckt dahinter auch die Beraterindustrie. Jede Beraterfirma, die etwas auf sich hält, entwickelt regelmässig neue Führungskonzepte, Organisationsstrukturen und Management-Philosophien. Alle zehn bis fünfzehn Jahre wiederhole sich der Management-Diskurs in leicht abgewandelter Form, sagt Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Berater befänden sich in Konkurrenz um die Meinungsführerschaft über Organisationskonzepte und erfänden deswegen immer wieder neue Modewörter für das Management.

Nicht zuletzt auch für kleinere Beraterfirmen und Einzelunternehmer sind Publikationen – in Kombination mit Vorträgen und Auftritten in den sozialen Netzwerken – ideale Werbeinstrumente. Sie helfen, sich in einem umkämpften Markt als Experte zu positionieren.

Jedenfalls spiegeln sich die Management-Strömungen der Beraterindustrie auch in der Ratgeberliteratur. So wird auch in Ratgebern seit längerer Zeit das Konzept der flachen Hierarchien, der agilen Teamorganisation, von Selbstmanagement und Eigenverantwortung der Mitarbeiter propagiert. In Magazinen und wissenschaftlichen Beiträgen werden jüngst aber auch zunehmend die Nachteile solcher Organisations- und Führungsformen hervorgehoben. Die Autoren stellen die berechtigte Frage nach der Überforderung der Mitarbeiter sowie der Delegation von Verantwortung durch Führungskräfte und beleuchten auch die Vorteile von Hierarchien.

«Es lässt sich eine Art Gegenbewegung beobachten, wobei ich nicht glaube, dass wir uns in Richtung sture Hierarchie und Stempeluhren bewegen», sagt die ETH-Professorin Grote. Ihrer Ansicht nach geht es vielmehr um eine differenziertere Sichtweise auf autonome, sich selbst steuernde Organisations- und Führungsformen.

Management-Bücher haben Ähnlichkeiten mit Lottospielen

Auch als Ratgeberkonsument empfiehlt es sich, nicht jeder Modeströmung aufzusitzen. Gleichzeitig gilt es zu unterscheiden, ob man sich auf eine wissenschaftliche Lektüre oder auf einen persönlichen Erfahrungsbericht einlässt. Am Ende geht es darum, entsprechende Ratgeber nicht als fixfertige Kochrezepte, sondern als mögliche Anregung und Hilfe zur Selbstreflexion zu nutzen. Viele erfolgreiche Management-Bücher sind das Ergebnis von mehreren Jahrzehnten Forschungs- bzw. Praxisarbeit – in allgemeinverständlicher Form zusammengefasst.

So rangiert auf der langjährigen Bestsellerliste von getAbstract «The Seven Habits of Highly Effective People» auf Platz eins. Mit seinem umfassenden Ansatz zur Persönlichkeitsentwicklung zählt das vor dreissig Jahren publizierte Werk des Autors und Pädagogen Stephen R. Covey zu den beliebtesten Klassikern. Rang zwei belegt der Titel «Mindset» – das Ergebnis von dreissig Jahren Praxisforschung über den entscheidenden Erfolgsfaktor der Selbstwahrnehmung – von Carol Dweck, Professorin für Psychologie an der Stanford-Universität, und Rang drei besetzt «Thinking, Fast and Slow» von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman.

Im Dschungel der Ratgeberliteratur die Übersicht zu behalten und ein pauschales Urteil zu fällen, ist gleichwohl ein Ding der Unmöglichkeit. Auf den Punkt gebracht hat dies Rolf Dobelli, Mitgründer von getAbstract, Philosoph und Schriftsteller; seiner Ansicht nach lassen sich Ratgeberbücher mit Lottospielen vergleichen: «Manche Tipps funktionieren, andere funktionieren nicht, einige eignen sich für gewisse Situationen und gewisse Personen und andere wiederum gar nicht. Aber wenn Sie konsequent versuchen, Dinge zu vermeiden, die Glück und Erfolg zerstören, dann haben Sie definitiv etwas Gutes getan.»

Nicole Rütti, «Neue Zürcher Zeitung»

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