Warum Neugierde für Unternehmen überlebenswichtig ist: «Stellen Sie Fragen, und lassen Sie dem Tüftlergeist Ihrer Mitarbeiter freien Lauf!» Führungskräfte sollten Antworten geben, statt Fragen zu stellen. Und neugierige Mitarbeiter richten in der Firma ein Chaos an. Diese weitverbreiteten Annahmen sind ein Trugschluss.

Führungskräfte sollten Antworten geben, statt Fragen zu stellen. Und neugierige Mitarbeiter richten in der Firma ein Chaos an. Diese weitverbreiteten Annahmen sind ein Trugschluss.

 

Wandelbar: Aus einem Billy-Regal kann durchaus auch ein Spielzeugschrank im Roboter-Look werden. Bild: unsplash

Ikea hat eine grosse Fangemeinde – abgesehen von aufgebrachten Kunden, die ob der berüchtigten Montageanweisungen eines Möbelstückes nach stundenlangem Basteln entnervt aufgeben. Besonders von der Marke angetan sind sogenannte Ikea-Hacker, die mit den herkömmlichen Produkten des Möbelhauses ihre eigenen Kreationen entwerfen. Aus einem Billy-Regal wird ein Spielzeugschrank im Roboter-Look, die Kommode wird zu einem stylischen Bürotisch umfunktioniert, und aus zwei Ikea-Stühlen entsteht ein Fahrrad.

Dass dem Ideenreichtum kaum Grenzen gesetzt sind, zeigt die Website der Malaysierin Jules Yap, die sich bereits 2006 auf die individuelle Umgestaltung der Ikea-Möbel spezialisiert hat. Auf Ikeahackers.net zeigen Bastler aus der ganzen Welt, was sich mit Ikea-Produkten alles anstellen lässt.

Anwälte gegen Ikea-Hacker

Doch dem schwedischen Möbelhaus war dies ein Dorn im Auge: Das Management sah die Markenrechte des Unternehmens verletzt, sprach von Rufschädigung und befürchtete allfällige Haftungsansprüche infolge der unsachgemässen Handhabung der Produkte. 2014 erhielt Yap von den Anwälten von Ikea ein Unterlassungsschreiben: Sie solle ihren Domain-Namen Ikeahackers.net an Ikea übergeben oder ihren Blog in eine nichtkommerzielle Seite umbauen – was das Ende der Website bedeutet hätte. Doch die Anwälte unterschätzten die Macht des Internets und der kleinen, wenngleich starken Fangemeinde von Ikea-Hackers. Der Aufschrei war gross, und viele Medien nahmen sich der Geschichte an. Ikea musste klein beigeben. Yap durfte ihre Website weiterbetreiben.

«Eine verpasste Gelegenheit», urteilt Spencer Harrison, Professor für Organisational Behaviour an der französischen Kaderschmiede Insead. Mit den angedrohten rechtlichen Schritten habe Ikea eine treue Community verärgert, anstatt sie durch das Eingehen einer Kooperation näher an sich zu binden. Doch Ikea habe daraus gelernt, wie Harrison ausführt. Die Geschäftsleitung des Möbelhauses habe sich erstmals die Frage gestellt: «Wissen wir eigentlich, was unsere Kunden mit unseren Produkten machen?»

Das Zuhause wird zum Kleinzoo und Sportstudio

Das Unternehmen generierte den ersten Curiosity Report, der dazu beitragen sollte, die Designer-Vorlieben und Wohngewohnheiten seiner Kunden besser zu verstehen. Seit 2016 publiziert Ikea jedes Jahr einen «Live at Home Report», gestützt auf Umfragen bei Tausenden von Haushalten. In seinem letzten Bericht befasst sich das Möbelhaus beispielsweise mit den Folgen der Pandemie: «Was geschieht, wenn das Zuhause auch zum Sportstudio, zur Schule, zum Kleinzoo und zum Entertainment-Zentrum wird?», lautet hierbei die Frage.

«Neugierde wurde Teil der Ikea-Kultur», sagt Harrison. Dadurch habe sich auch die Art und Weise geändert, wie das Unternehmen auf seine Kunden schaue. 2008 verkündete das Möbelhaus sogar stolz «We hacked ourselves» und lässt sich seither bei seinen Kreationen immer wieder von der Ikea-Hack-Szene inspirieren.

Neugierde ist der Grundstein jeglicher Kreativität

Laut Harrison ist Neugierde für Unternehmen lebenswichtig: «Sie ist es, die uns dazu antreibt, nach Mustern zu suchen, nach Informationen und neuen Erkenntnissen.» Sie ermögliche, Veränderungen der Konkurrenzsituation oder im Kundenverhalten zu erkennen und darauf zu reagieren. Neugierde sei der Grundstein jeglicher Kreativität. Ohne Neugierde sind Firmen im Urteil des Insead-Forschers aufgrund des ständigen Wandels dem Untergang geweiht.

Und dennoch haben Firmen und Führungskräfte Mühe, ein Umfeld zu schaffen, das die Neugierde der Mitarbeiter stimuliert: Sie fürchten, dass eine solche Kultur Risiken fördert und zu Ineffizienzen führt – oder in anderen Worten zu einem kostspieligen Chaos. Laut einer Erhebung von Francesca Gino, Professorin an der Harvard Business School, unter 3000 Beschäftigten verschiedenster Branchen gab gerade einmal jeder vierte Befragte an, bei der beruflichen Tätigkeit regelmässig Neugierde zu verspüren. 70 Prozent fühlten sich demgegenüber daran gehindert, bei der Arbeit zusätzliche Fragen zu stellen.

Was geschieht, wenn der Status quo infrage gestellt wird?

«Führungskräfte sind der Ansicht, dass Firmen schwieriger zu führen sind, wenn Mitarbeiter ihren eigenen Interessen nachgehen können», lautet das Fazit der Professorin Gino. Die Gründe für die verbreitete Skepsis seien nachvollziehbar: Forscherdrang und kreative Ideen stellten nämlich oftmals den Status quo infrage, und nicht immer ergäben sich daraus nützliche Informationen.

Zugleich erfordert es Mut sowie Selbstbewusstsein, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen und sich auch von anderen Ansichten überzeugen zu lassen. «Für viele Aufsichtsführende hat Neugierde auch etwas Beängstigendes, weil die Folgen nicht berechenbar sind», sagt Raoul Nacke, der CEO von Eric Salmon & Partners, der Top-Kaderkräfte beim Aufbau und bei der Entwicklung von Führungsteams berät. «Sie setzen auf Linearität, Planbarkeit und starre Strategien, wie sie es oftmals an den Eliteuniversitäten gelernt haben.»

Neugierde werde damit unterdrückt – ein bedenklicher Umstand, zumal es sich hierbei um die Grundlage für die Erneuerung von Unternehmen und zeitgemässe, erfolgreiche Mitarbeiterführung handle, wie Nacke ausführt. Neugierde habe viel mit Veränderungsbereitschaft und Transformationsintelligenz zu tun, und diese gelte es in Unternehmen zu fördern.

Dass Neugierde nur für wissensintensive Tätigkeiten relevant ist, ist hierbei ein Irrglaube. Versuche zeigen laut dem Insead-Professor Harrison, dass auch Mitarbeiter in Fabriken, in denen Neugierde gefördert wird, eine deutlich höhere Produktivität erzielen. «Angestellte stellen sich dann die Frage: ‹Wie wäre es, wenn wir diesen Arbeitsschritt oder diese Tätigkeit anders machen würden?› Auch solch kleine Experimente erhöhen die Produktivität», sagt Harrison gestützt auf seine Forschungsarbeit.

«Wenn wir neugierig sind, betrachten wir Situationen auf kreativere Art und Weise. Wir suchen nach Alternativen», erklärt auch Gino. «Wir sind auch eher bereit, uns in andere einzufühlen und andere Ideen zu erörtern, anstatt nur die eigene Perspektive einzunehmen.» Neugierde sei ausserdem erlernbar, sagen die Forscher. Unternehmenschefs könnten bereits durch kleine Veränderungen in der Organisationsstruktur und in ihrem Führungsstil Neugierde fördern und ihr Unternehmen erfolgreicher machen. Folgende Massnahmen könnten hierbei weiterhelfen:

Neugierige Mitarbeiter einstellen: Gino hebt das Beispiel des Technologiekonzerns Google hervor, der die Neugierde quasi zur Unternehmensphilosophie erklärt hat. «Wir führen unser Unternehmen mit Antworten, nicht mit Fragen», verkündete bereits der frühere CEO und Verwaltungsratsmitglied Eric Schmidt. Das Unternehmen lockt neugierige Kandidaten beispielsweise auch mit Rätseln an, die sie lösen sollten, bevor sie überhaupt ihre Bewerbung einreichen können. Und zum Bewerbungsgespräch gehören offenbar auch Fragen wie: «Ist es schon vorgekommen, dass Sie nicht aufhören konnten, einer Sache auf den Grund zu gehen, die für Sie völlig neu war?» – «Was hält Ihre Ausdauer aufrecht?»

Die Design- und Beratungsgesellschaft Ideo mit Sitz im kalifornischen Palo Alto verlangt von ihren Mitarbeitern neben vertieften Fachkenntnissen vor allem die Fähigkeit zur fachübergreifenden Zusammenarbeit – eine Eigenschaft, die Empathie und Neugierde erfordert, wie Gino ausführt. Empathie bringe Mitarbeiter dazu, aufmerksam zuzuhören und Probleme oder Entscheidungen aus der Perspektive einer anderen Person zu sehen. Die Firma Ideo ist denn auch für ihr kreatives Produktedesign bekannt und hat unter anderem die industriell hergestellte Computermaus von Apple und den ersten Insulinstift des Pharmakonzerns Eli Lilly hervorgebracht.

Experimentierfreude im Unternehmen fördern: Firmen wie Google, 3M oder Hewlett Packard räumen ihren Mitarbeitern die Möglichkeit ein, Projekten jenseits ihrer Jobs nachzugehen. Damit sollen deren Neugierde und Kreativität geweckt werden. Bekannte Produkte, die daraus hervorgegangen sind, sind der E-Mail-Dienst Gmail oder die Post-it-Zettel.

Es gibt zahlreiche Erfindungen, die auf den Tüftlergeist von Mitarbeitern zurückzuführen sind. Doch Unternehmen, die ihren Angestellten hierfür auch den nötigen Freiraum zugestehen, sind eher die Ausnahme. Selbst bei den genannten Vorzeigekonzernen sind diese in der Regel kurzfristigen Zielvorgaben unterworfen, die sie herausfordern und die Kreativität unterbinden. Dabei können bereits ungezwungene Begegnungszonen in einem Unternehmen dazu beitragen, dass Angestellte diverser Abteilungen sich vermehrt über den Weg laufen, sich austauschen und auf kreative Ideen kommen.

Die Sicht des Anfängers mit kindlicher Wissbegierde einnehmen: Kinder zwischen drei und fünf Jahren stellen durchschnittlich 300 Fragen pro Tag. Doch mit zunehmendem Alter ändert sich dies. «Wir werden befangener, wollen selbstbewusster wirken und Wissen demonstrieren. Wir befürchten, für inkompetent, unentschlossen oder dumm gehalten zu werden», sagt Gino. Viele Chefs dächten, man erwarte von ihnen, dass sie redeten und Antworten gäben, statt Fragen zu stellen. Dabei seien entsprechende Befürchtungen unangebracht, führt die Forscherin der Harvard Business School aus. Durch Fragen förderten wir engere Kontakte und gelangten zu kreativeren Ergebnissen.

So hat kindliche Neugierde bei der Entstehung der Polaroid-Sofortbildkamera eine entscheidende Rolle gespielt. Die Idee entstand, als die kleine Tochter des Gründers Edwin Land eine einfache Frage stellte: «Warum müssen wir auf Fotos warten?» Auch bei der Design- und Beratungsfirma Ideo versucht man immer wieder, die Sicht des Anfängers einzunehmen – beispielsweise indem man bewusst Männer ins Team holt, wenn es um das Testen neuer Make-up-Produkte geht.

Annahmen hinterfragen: «Wenn wir bei Ideo nicht weiterkommen, stellen wir uns zwei Fragen», erklärt der Verwaltungsratspräsident und Co-CEO Tim Brown: «‹Warum›? und ‹Was wäre, wenn . . . ?›». Die Frage nach dem Warum helfe, die Überzeugungen oder Regeln, die hinter früheren Entscheidungen gestanden hätten, besser zu verstehen und Annahmen zu hinterfragen. Die zweite Frage diene dazu, mögliche Hürden auszumachen und zu eliminieren. «Fordern Sie Ihr Team auf, Ihre Ideen zu widerlegen, und lassen Sie es wissen, dass Sie wirklich an seinen Ansichten interessiert sind», fordert Brown Führungskräfte auf.

Ähnlich werden auch bei der 5-Why-Methode von Toyota die Mitarbeiter gebeten, Probleme auszuloten, indem sie Warum-Fragen stellen. Es handelt sich um eine Brainstorming-Technik, die vom Gründer Sakichi Toyoda entwickelt wurde. Die Annahme dahinter ist, dass mehrere Warum-Fragen erforderlich sind, um die Ursache für einen Defekt oder ein Problem zu bestimmen. Es wird so lange nachgehakt, bis der den Fehler verursachende Prozessschritt eindeutig identifiziert ist.

Mit gutem Beispiel vorangehen und die Komfortzone verlassen: Wenn Führungskräfte zugeben, dass sie auf eine Frage keine Antwort wissen, wirken sie nicht nur menschlich. Sie ermuntern damit auch ihre Umgebung, nach Antworten zu suchen. Mögliche Fragen ans Team sind: «Wie könnten wir . . . ?» «Wie würde sich das ändern, wenn . . . ?» «Was ist Ihre Erfahrung mit . . . ?» Es handelt sich um Einladungen an die Gruppe, sich zu beteiligen, Raum zu schaffen für Überraschendes und das Unerwartete zu entdecken, wie der Ideo-Chef Brown ausführt. Um mit Neugierde zu erkunden, müsse man gleichzeitig bereit sein, sich aus der Komfortzone hinauszuwagen. «Als eines unserer Teams daran arbeitete, das Stimmabgabesystem in Los Angeles County neu zu gestalten, besuchten sie Salsa-Tanzstunden auf Spanisch, um zu verstehen, wie es sich anfühlt, in einer Sprache zu operieren, die man nicht spricht.»

Die Komfortzone zu verlassen, hätte auch Ikea frühzeitig weitergebracht, ohne eine ihr zugetane Fangemeinde zu verärgern. Die richtigen Fragen hätten etwa gelautet: «Warum sind Ikea-Hackers so beliebt?», «Wie nutzen unsere Kunden unsere Produkte?», «Was könnten wir tun, um diese Gemeinschaft näher an uns zu binden?». Fragen, die sich Ikea immerhin im Nachgang zu stellen begann und die für die weitere Entwicklung des Möbelhauses zentral waren.

Nicole Rütti, «Neue Zürcher Zeitung»

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