«Ich habe enorm viel von mir in diesen Ort investiert»: Die Wirtin des legendären Cafés Schlauch in der Zürcher Altstadt hört auf Während hundert Jahren führte die Familie von Gabriela Weingand den «Schlauch». Nun steht die Stadtzürcher Institution vor dem Ende.

Während hundert Jahren führte die Familie von Gabriela Weingand den «Schlauch». Nun steht die Stadtzürcher Institution vor dem Ende.

Sie ist hier aufgewachsen: Gabriela Weingand im Café Schlauch. (Foto: Oliver Camenzind)

Generationen von Zürcherinnen und Zürchern haben im berühmten Café Schlauch in der Münstergasse schon zu Mittag gegessen, Zeitung gelesen, Billard gespielt oder einfach nur ein Bier getrunken. Das ganze Quartier war hier zu Gast, Alt und Jung trafen aufeinander, Akademikerinnen sassen neben Angestellten.

Doch damit ist nun Schluss: Ende Mai geht der «Schlauch» nach über hundertjährigem Bestehen zu.

Sie und ihr Mann hätten das Café 35 Jahre lang geführt, sagt die Wirtin Gabriela Weingand. Doch nun fehle ihnen die Energie für so einen stressigen Job: «Es geht einfach nicht mehr, und wir möchten aufhören, bevor uns die Arbeit zu sehr an die Substanz geht.»

Nach der Pandemie sei es immer schwieriger geworden, gutes Personal zu finden. Sie hätten vieles selbst auffangen müssen, und das habe Kraft gekostet. Weingand und ihr Mann seien im Pensionsalter und wollten sich von jetzt an mehr mit ihren Enkelkindern beschäftigen.

Eine passende Nachfolgelösung für das Café sei derzeit nicht in Sicht. Sie wünsche sich, dass jemand den «Schlauch» im gleichen Stil weiterführe, sagt Weingand. So jemand habe sie bis jetzt noch nicht gefunden. Weil sich das Haus in Familienbesitz befinde, habe sie damit aber keine grosse Eile. «Jetzt machen wir erst einmal Pause und tanken neue Kräfte. Dann schauen wir weiter.»

Falls sich niemand findet, die oder der hier weitermachen möchte, wäre es das Ende einer Stadtzürcher Institution: Den «Schlauch» gibt es schon seit 1920, Gabriela Weingand ist die Tochter des allerersten Patrons.

Ein Kaffeehaus nach Wiener Vorbild

Der aus Österreich-Ungarn eingewanderte Franz Schnepf hat Jahrgang 1889 und ist ausgebildeter Schreiner. In Zürich versucht er es zuerst als Tanzlehrer. In einem Saal über dem heutigen Café betreibt er eine Tanzschule.

Das Restaurant unter ihm ist das Stammlokal der städtischen Feuerwehr und trägt deshalb den Beinamen «Schlauch». Als sich 1920 die Gelegenheit bietet, übernimmt Schnepf das Lokal und wandelt es in ein Café um. 1928 macht er den Rosengarten hinter dem Haus platt und veranlasst den Anbau mit den Billardtischen. Der «Schlauch» ähnelt nun einem der Kaffeehäuser, die Schnepf aus seiner Zeit in Wien kennt und schätzt.

1950 übergibt er es an seine Tochter Sylvie. Mit ihrer Mutter führt diese das Café bis 1989 und überlässt es dann ihrer jüngeren Halbschwester Gabriela. Als diese mit ihrem Mann das Lokal übernimmt, gilt es mit seinen Billardtischen längst als «eines der originellsten» der Altstadt.

Ein Autor der Quartierzeitung «Altstadt-Kurier» zeigt sich in seinem Bericht über den Wirtewechsel im «Schlauch» denn auch erleichtert: Das Café bleibe in Familienhand, und auch sonst werde sich fast nichts ändern, schreibt er. Nur die Wände werden neu gestrichen – mit biologisch hergestellter Farbe. Und die Speisen sollen gesünder werden.

In Zürich isst man zu dieser Zeit noch eher traditionell. Vollwertkost, saisonale und vegetarische Gerichte sind in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren ein Novum und gelten als gastronomisches Alleinstellungsmerkmal. Mit ihrer modernisierten Menukarte treffen die Wirte einen Nerv.

Ausgerechnet ihr Mann fand Gefallen am «Schlauch»

Ein neues, junges Publikum kommt in den «Schlauch». Es schätzt die bekömmlichen Speisen zu guten Preisen.

Gabriela Weingand führt den «Schlauch» mit Erfolg – dabei habe sie gar nie in das Familiengeschäft einsteigen wollen. Sie sagt: «Meine Mutter stand jeden Tag ab 8 Uhr in der Küche und half aus, bis sie 92 Jahre alt war. Das wollte ich nie. Nie!» Sie liess sich zur Ernährungsberaterin ausbilden, heiratete den Maschinenbautechniker Rolf Weingand und wanderte nach Deutschland aus.

Weil sie in Deutschland keine Arbeitsbewilligung bekam, kehrte sie wieder heim. Und dann fand ausgerechnet ihr Mann Gefallen am Betrieb ihrer Familie: Als er gelegentlich aushalf, habe sich Rolf Weingand auf Anhieb mit allen Gästen gut verstanden und sich als ausserordentlich talentierter Gastgeber herausgestellt, sagt Gabriela Weingand.

Nach und nach sei klar geworden, dass das junge Paar seine Vorgängerinnen ablösen würde. «So wurde ich am Ende dennoch Gastronomin», sagt die Wirtin – und lacht über diese Wendung des Schicksals.

Sie gehen ohne Wehmut

Das ist jetzt 35 Jahre her. Das Mobiliar ist sich weitestgehend gleich geblieben. Die Lebensmittel sind bis heute biologisch und saisonal, die Speisen altbewährt. Die Neuerungen der letzten Jahre halten sich in überschaubarem Rahmen.

Gerade seines zeitlosen Charakters wegen ist der «Schlauch» ein Unikum im Zürcher Gastgewerbe. Es gibt dort keine Trends zu entdecken – aber auch keine zu verpassen. Im «Schlauch» bleibt alles, wie es war. Auch nach Jahren kennt man sich in der Karte noch aus.

Auf den «Schlauch» ist Verlass: Man kommt zur Tür herein und ist zu Haus – wo gibt es das noch?

Gabriela Weingand winkt ab. Sie ist in diesem Haus zur Welt gekommen und aufgewachsen. Den allergrössten Teil ihres Arbeitslebens hat sie hier verbracht. Dass sie nun in Pension geht und dass die Zukunft des Cafés ungewiss ist, scheint ihr gar nichts auszumachen.

Egal, was aus dem «Schlauch» werde – so wie bisher werde es ohnehin nicht bleiben. Man könne die Vergangenheit ja nicht bewahren. «Das Café war eine Lebensaufgabe. Ich habe enorm viel von mir in diesen Ort investiert.»

Nun sei jemand anderes an der Reihe, sagt sie, und schaut durch den Raum. Nach einem Augenblick lächelt sie und sagt: «Sonst müssen die Leute halt lernen, selber zu kochen.» Dann steht sie auf und geht – es ist Samstagmittag, bald kommen Gäste.

Oliver Camenzind (Text und Bilder), «Neue Zürcher Zeitung»

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