Langnau war eigentlich schon tot – wie die Tiger im Emmental auferstanden Die SCL Tigers sind vom Sanierungsfall zum Vorzeigemodell geworden. Möglich gemacht hat das die Vision eines Mannes, der den Klub und seine Infrastruktur grundlegend umgekrempelt hat.

Die SCL Tigers sind vom Sanierungsfall zum Vorzeigemodell geworden. Möglich gemacht hat das die Vision eines Mannes, der den Klub und seine Infrastruktur grundlegend umgekrempelt hat.

Die Halle als Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort: Die Tigers können auf ein treues Publikum zählen. (Foto: fanclub-scl.ch)

Im Emmental scheint die Zeit stillgestanden zu sein. Fährt man von Bern aus Richtung Luzern, taucht man ein in eine Welt, in der noch alles scheint, wie es schon immer gewesen ist: lieblich, unaufgeregt, manchmal fast schon ein wenig rückständig. Die Gegend wird von der Landwirtschaft und den topografisch schwierigen Umständen geprägt. Zu den wichtigsten Branchen gehören gemäss der Website der Gemeinde das Baugewerbe, das Gesundheitswesen, der Dienstleistungs- und Gewerbesektor, die Forst- und Landwirtschaft und die Handwerksbetriebe.

In der Aufzählung fehlen die SCL Tigers. Der Klub bietet mittlerweile 60 Personen eine Vollzeitbeschäftigung. Doch das Bemerkenswerte an ihm ist eigentlich, dass es ihn überhaupt noch gibt. Mehr als einmal standen die SCL Tigers unmittelbar vor dem Lichterlöschen. Peter Jakob, der Mann, der dafür verantwortlich ist, dass es nicht so weit gekommen ist, sitzt an diesem Dienstagnachmittag in der Geschäftsstelle gleich neben der Eishalle und sagt: «Wir sind heute schuldenfrei, und das sagen zu können, macht mich schon ein wenig stolz.»

Als Jakob vor 15 Jahren die Zügel im Klub übernahm, stand die Uhr nicht auf fünf vor, sondern eher auf fünf nach zwölf. Verbindlichkeiten von rund drei Millionen Franken lasteten auf ihm. In der Gemeinde rechnete man mit dem baldigen Ende jener Institution, die während Jahrzehnten die Quelle des Stolzes für die ganze Region war. Das Emmental ist strukturschwach und gehört zu den grössten Bezügern im kantonalen Finanzausgleich. Der Steuerfuss in Langnau ist einer der höchsten im finanzschwachen Kanton Bern. Bernhard Antener war während 24 Jahren Gemeindepräsident in Langnau. Vor zwei Jahren sagte er der NZZ: «Wir sind eines der Armenhäuser der Schweiz. Das lässt die Menschen zusammenrücken.»

Der Präsident geht auf Betteltour

Die Ilfishalle, die heute dem Zeitgeist entsprechend «Emmental Versicherung Arena» heisst, ist Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort einer ganzen Region. Wenn die Tigers spielen, füllen über 5000 Zuschauer die Arena. Eine Studie aus dem Jahr 2016 bezifferte die Wertschöpfung des Klubs auf jährlich 15,9 Millionen Franken. Und dieses KMU stand bei Jakobs Einstieg vor dem Aus. Phantasten aus dem Umfeld hatten es mit einer blauäugigen Vorwärtsstrategie gegen die Wand gefahren.

Jakob erzählt, wie er mit seinem neuen Team die Sponsoren besucht und um Hilfe gebettelt habe und auf breite Ablehnung gestossen sei. Für viele von ihnen war er einfach der nächste in der nicht abreissenden Reihe der Bittgänger, die im Namen des Klubs auf Betteltour gehen mussten, Besserung versprachen und dieses Versprechen eher früher als später brachen. Jakob sagt, einer der wichtigsten Partner habe ihm am Ende des Gesprächs während 20 Minuten «alle Gottschand gesagt», wie man im Emmental eine Strafpredigt nennt. «Er hat uns aufgezählt, wie oft man ihn angelogen und angebettelt habe. Nun helfe er, ein letztes Mal. Aber wir sollten uns ja nie mehr erdreisten, in seinem Büro aufzutauchen und ihn um Hilfe zu bitten.»

Das Vertrauen in den Klub und seine Führung war auf den Nullpunkt gesunken. Niemand wusste mehr, wie die offenen Rechnungen beglichen werden sollten. Die Gemeinde half mit einem Darlehen in der Höhe von 800 000 Franken, um zumindest den wichtigsten Verbindlichkeiten wie den Löhnen und Sozialabgaben nachkommen zu können. Die Hilfe war sogar im Eishockey-verrückten Langnau umstritten. Die Leserbriefspalten der lokalen Medien waren voll mit kritischen Beiträgen. Jakob erzählt: «Meiner Frau wurde beim Einkauf im Dorf vorgeworfen, sie glaube ja wohl selbst nicht, dass auch nur ein Rappen dieses Geldes jemals zurückfliessen werde.»

Das Geld floss zurück, und nicht nur das. Nächsten Monat werden die SCL Tigers auch den Covid-Kredit des Bundes in der Höhe von 2,8 Millionen Franken zurückbezahlt haben. Anders als etwa der HC Ambri-Piotta tasteten die Langnauer dieses Geld nicht an, obwohl die Verlockung, es in die Verstärkung des Kaders zu investieren, gross war.

Mittlerweile ist das Vertrauen in die SCL Tigers und ihre Klubpolitik wiederhergestellt. Der Tiger ist wieder kreditwürdig. Dazu beigetragen hat die Rückkehr zu den Wurzeln. Mit Ausnahme des Headcoachs (der Zürcher Thierry Paterlini) sind heute praktisch alle Schlüsselpositionen wieder mit Menschen besetzt, die ihre Karrieren in Langnau begonnen haben. Die Nachwuchstrainer Martin Gerber und Samuel Balmer, Paterlinis Assistent Steve Hirschi und auch der Leiter der Abteilung Sport, Pascal Müller, sind in der Nachwuchsabteilung des damaligen SC Langnau gross geworden.

Der Titel 1976 als einsamer Höhepunkt

Das aber bedeutet nicht zwangsläufig Ruhe. Die SCL Tigers sind weiterhin ein Volksklub, und in einem Volksklub will das Volk mitreden. Es gibt im Emmental kaum jemanden, der nicht eine Meinung dazu hat, wie man den Tiger führen müsste. Man träumt von vergangenen Erfolgen, welche die Region vorübergehend aus ihrer relativen Bedeutungslosigkeit herausrissen und national bekannt machten.

In den 1970er Jahren war Langnau eine Macht im Schweizer Eishockey. Der SCL lieferte sich mit dem SCB und dem EHC Biel in einer Art kantonalbernischer Meisterschaft mit nationaler Beteiligung ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Vorherrschaft im Land. Das Nationalteam war durchzogen mit Spielern aus dem Emmental. Trotzdem ist der Palmarès der Tigers relativ schnell aufgezählt. Meister 1976. Dazu noch drei zweite Ränge 1970, 1977 und 1978. Fertig.

Der eine Titel hat die Ansprüche geformt, die noch heute nachhallen. Man möchte auch in Langnau wieder mit den Besten mitspielen. Pascal Müller sagt: «Viele Anhänger interessieren sich nur dafür, ob wir das nächste Spiel gewinnen, oder vielleicht noch dafür, wer auf die kommende Saison zu uns stösst. Doch was alles dahintersteckt und wie komplex es ist, kümmert kaum jemanden. Als wir zu Beginn der Saison einige Male in Folge verloren, kamen bereits die ersten E-Mails, wann wir endlich einen Ersatz-Ausländer für den verletzten Anthony Louis oder den gesperrten Sean Malone holen würden.»

Müller sagt, gerade in Langnau müsse man die Anhänger abholen, damit sie auch mitziehen. Es ist ein Recht, das sich ihr harter Kern durch die Treue und Leidenschaft verdient hat. Schon zweimal hat der Anhang mitgeholfen, die Tigers nach einem Abstieg in der damaligen Nationalliga B zu sanieren. Selbst als Langnau vorübergehend in die erste Liga abstieg, strömten im Schnitt 4000 Zuschauer ins Stadion und halfen so, den Klub wirtschaftlich zu sanieren. Statt die Derbys gegen den SC Bern feierte man halt jene gegen Thun-Steffisburg.

Der Emmentaler ist ein genügsamer Mensch. Die unwirtlichen Lebensumstände in der rauen Natur haben ihn Bescheidenheit gelehrt. Niemand verkörperte diese besser als Simon Schenk, der ehemalige Meisterstürmer in Langnau, der zum Nationalcoach aufstieg und später der erste CEO der ZSC Lions wurde. Der vor knapp vier Jahren verstorbene Schenk kehrte nach 20 Jahren in Zürich zu seinen Wurzeln zurück und widmete sich dem Aufbau der Nachwuchsabteilung.

Schenk hätte seine helle Freude daran, wie sich die SCL Tigers und ihre Infrastruktur unter Jakob weiterentwickelt haben. Die Erneuerung der Ilfishalle, die 2012 fertiggestellt wurde, für 33 Millionen Franken war ein Meilenstein in der Klubgeschichte. Momentan entsteht auf dem ehemaligen Gelände der Markthalle, wo jahrelang Vieh-Ausstellungen stattgefunden haben, ein Anbau, der in der Schweiz vorbildlich ist und den Klub infrastrukturell in eine neue Ära katapultiert. Peter Jakob nennt es die Zündung einer neuen Phase. «Wie weit die Rakete damit fliegt, werden wir sehen.»

Auf einer Parzelle von 4000 Quadratmetern gleich neben der Eishalle lässt der Klub einen hochmodernen Anbau hochziehen, über fünf Stöcke verteilt, mit einem zweiten Eisfeld, einem weiteren Garderobentrakt, einer Gastrozone und einem hochmodernen Athletikbereich, in dem auch eine Tartanbahn, auf der mit Spikes gelaufen werden kann, nicht fehlt. Man denkt in Langnau auch an andere Sportler wie die starke Leichtathletik-Fraktion, die etwa die Leichtathletinnen Lisa Urech und Noemi Zbären hervorgebracht hat. Im September 2024 soll der 20 Millionen Franken teure Anbau fertig sein. Mit Stolz führt Peter Jakob den Besucher aus Zürich über die Baustelle. Arbeiter, denen er dabei begegnet, begrüsst er mit Vornamen. Für alle ist er der Peter, ein Patron alter Schule, nahbar und verlässlich.

Eigentlich hat Jakob in Langnau längst ein Denkmal verdient. Er hat den Klub zuerst gerettet und ihn nun auch auf eine Basis gestellt, die ihn künftig tragen kann. Trotzdem sah er sich wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, den Klub zu Tode zu sparen. Der ehemalige Gemeindepräsident Antener sagte der NZZ vor zwei Jahren: «Jakob ist ein Glücksfall für die Tigers. Er will nicht, dass ihm ein Denkmal gesetzt wird. Etwas Anerkennung würde ihm schon genügen. Doch es gibt in Langnau immer noch Menschen, die glauben, das Geld regne einfach so von der Moosegg herunter.»

Finanziert haben die Sanierung der Eishalle und den neuen Trainingskomplex praktisch ausschliesslich Peter Jakob und sein Familienunternehmen. Jakob ist das, was man in den USA einen Selfmademan nennt. 1904 hatte sein Grossvater in Trubschachen die Seilerei Jakob gegründet. Sie produzierte Hanfseile für die lokale Landwirtschaft. Zusammen mit seinem älteren Bruder machte Jakob aus dem Familienbetrieb einen international tätigen Konzern mit 750 Angestellten und Ablegern in Deutschland, Frankreich, Österreich, den USA und Vietnam.

Wer Langnau, seinen Anhang und dessen Skepsis gegenüber dem Geld verstehen will, der muss die Geschichte dieses wundersamen Dorfes kennen. Über Jahrzehnte wurde das Dorf von ein paar alteingesessenen Familien kontrolliert; den Lehmanns, Joosts, Mauerhofers oder Röthlisbergers, die durch den Export von Emmentaler Käse reich geworden waren und im Volksmund nur «d’Chäs-Herre» genannt wurden.

Der Liedermacher und Ur-Langnauer Tinu Heiniger, der seine Leidenschaft für den SCL bereits 1976 in einem Lied verewigt hat, erzählte, diese «Chäs-Herre» hätten den Fortschritt in der Talschaft lange behindert, um weiterhin günstige Arbeitskräfte zu haben, und auch, um ungestört ihren Geschäften nachgehen zu können. «Zur Weihnachtszeit bin ich als Pfadfinder mit meinen Kameraden jeweils zu sogenannt armen Familien gegangen, habe zusammen mit ihnen Weihnachten gefeiert und ihnen Geschenke mitgebracht, die Frauen aus dem Dorf genäht und gelismet hatten.» Es sei ihm jeweils peinlich gewesen. «Denn obwohl gut gemeint, waren es Almosen der Reichen für die Armen.»

Ein aussergewöhnliches Geschäftsmodell

Mit Almosen gibt man sich heute auch im Emmental nicht zufrieden, auch im Sport nicht. Müller sagt, natürlich wolle auch er Erfolg haben. «Wir wollen uns stetig weiterentwickeln und wie Ambri oder die Rapperswil-Jona Lakers wenn möglich jedes Jahr die Play-ins oder direkt die Play-offs erreichen. Das muss das Ziel der Organisation sein.»

Nun wünschen sich Peter Jakob, Pascal Müller und ihre Mitstreiter, dank der massiv verbesserten Infrastruktur und einer gesunden Basis den nächsten Schritt machen zu können und den steten Überlebenskampf endlich hinter sich zu lassen. Ihr Kurs wird unter den Spielern und ihren neuen Agenten wahrgenommen. Langnau geniesst auch bei ihnen wieder Respekt und Kredit. Doch wohin dieser neue Kurs den Klub treiben wird? Wer soll das schon wissen.

Das Geschäftsmodell, das den Klub unter Peter Jakob heute trägt, zeugt von der grossen Leidenschaft für die SCL Tigers. Die Firma Jakob Rope Systems befindet sich ganz im Familienbesitz. Aktionäre, die eine Dividende erwarten, gibt es nicht. So flossen die Gewinne der letzten Jahre zu einem grossen Teil in den Eishockey-Klub und seine Infrastruktur. Wie viel das ist, sagt Jakob nicht.

Jakob wird im August 68 Jahre alt. Die Firma hat er seinem ältesten Sohn überschrieben. Doch bereits hegt er neue Pläne für den Klub. In der Nähe der Arena möchte er ein Hotel verwirklichen, das aus nachhaltigem Baumaterial gefertigt ist und die Infrastruktur vervollständigt und perfektioniert. Es wäre die Vollendung der Vision eines Mannes, der durch und durch ein Tiger ist.

Daniel Germann, Langnau, «NZZ am Sonntag»

Abtrünnige, Legenden, Meistermacher und ein Stanley-Cup-Sieger

Der Käse mag das wichtigste Exportgut aus dem Emmental sein. 60 Prozent der jährlichen Produktion von 17 200 Tonnen werden ins Ausland verkauft. Doch fast so bedeutend sind die Eishockeyspieler, die ihre Wurzeln in der hügeligen Landschaft haben und teilweise in der ganzen Schweiz spielten. Je professioneller das Eishockey wurde, desto schwieriger fiel es dem Klub, seine besten Spieler zu halten. Der Exodus begann mit Bruno Wittwer, der seinen Transfer zum SC Bern zu Beginn der 1970er Jahre mit einer Eishockey-freien Saison und einem Winter beim HC La Chaux-de-Fonds erstritt, weil ihm die damalige Langnauer Klubführung die Freigabe verweigerte.

Wittwer bezahlte den Wechsel zum Rivalen mit dem Preis, nicht zu jener legendären Mannschaft zu gehören, die 1976 den bis heute einzigen Titel in der Geschichte des Klubs holte. 18 von 22 Spielern aus dem damaligen Team stammten aus dem Dorf. Die Namen der wichtigsten Spieler kennt im Emmental noch heute praktisch jedes Schulkind. Simon Schenk, Jürg Berger, Michael Horisberger, Rolf Tschiemer, Alfred Bohren, Edi Grubauer oder Peter Lehmann, den sie in Anlehnung an den legendären russischen Verteidiger im Emmental nur Ragulin nannten. Spielertrainer war der Kanadier Jean Cusson, der seine Popularität unter anderem auch dem Umstand schuldete, dass er den Bauern im Sommer beim Heuen half. Als Coach an der Bande stand Hans Brechbühl.

Es gab später eine Zeit, in der praktisch in jedem Nationalliga-A-Team mindestens ein Langnauer stand. Die Langnauer Talentschmiede war landesweit bekannt und anerkannt. Ihr bekanntester Spross wurde wohl Reto von Arx, der noch im Junioren-Alter zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Jan zum HC Davos wechselte und dort Arno Del Curtos Schlüsselspieler auf dem Weg zu insgesamt sechs Meistertiteln wurde.

Doch der international bekannteste Langnauer ist bis heute Martin Gerber geblieben. Der Wille und das Talent des Torhüters wurden in Langnau zuerst verkannt und Gerber ausgemustert, ehe er sich über Signau und Thun im Amateur-Eishockey doch einen Platz im Tor der Tigers erkämpfte und es von dort bis in die NHL und 2006 zum Stanley-Cup-Sieger mit den Carolina Hurricanes schaffte. Später spielte er auch noch in der russischen KHL für Atlant Mytischschi, ehe er seine Karriere in der Schweiz beim EHC Kloten ausklingen liess.

Danach kehrte der heute 49-Jährige nach Langnau zurück, wo er Nachwuchstrainer und Mitgründer des sogenannten Hauses der Young Tigers wurde. Die Liegenschaft ist eine betreute Wohngemeinschaft für zwölf Nachwuchsspieler, welche die Attraktivität der SCL Tigers für junge Spieler steigern soll. Um Ideen war man in Langnau noch nie verlegen.

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