Stöckli ist längst nicht allein – wer Ski einer Schweizer Marke fahren will, hat die Qual der Wahl Nicht alles fährt Ski in der Schweiz, aber erstaunlich viele bauen Ski. Auf der Suche nach besonderen Nischenanbietern begegnet die NZZ auch einem einstigen Berner Abfahrtsweltmeister. In einem Bündner Klosterdorf.

Nicht alles fährt Ski in der Schweiz, aber erstaunlich viele bauen Ski. Auf der Suche nach besonderen Nischenanbietern begegnet die NZZ auch einem einstigen Berner Abfahrtsweltmeister. In einem Bündner Klosterdorf.

Werkbesuch bei Anavon in Disentis. Ein Mitarbeiter der Manufaktur prüft Ski auf der Kehlmaschine. Anavon-Ski setzen sich aus 23 Materialschichten zusammen. (Bild: Nicola Pitaro)

Dank Marco Odermatt, dem derzeit weltbesten Skirennfahrer, ist auch dessen Skiausrüster in aller Munde. Stöckli gilt als Schweizer David im Wettstreit mit ausländischen Goliaths wie Head oder Rossignol – und als letztes Relikt einer einst florierenden Schweizer Skiindustrie, für deren Niedergang längst verschwundene Namen wie Attenhofer oder Streule stehen.

Doch bei genauerer Betrachtung ist Stöckli mit jährlich rund 60 000 vertriebenen Paar Ski der Schweizer Goliath, neben dem etwa zwei Dutzend Davids existieren. In Tat und Wahrheit haben Hobby-Skifahrerinnen und -Skifahrer, die sich mit einer Schweizer Skimarke ausstatten wollen, also die Qual der Wahl. Die NZZ stellt drei ausgewählte Nischenanbieter vor. Protagonisten sind ein früherer Abfahrtsweltmeister und zwei idealistische Selfmademen.

Müllerski: von Freaks für Freaks und Normalos

Es soll Menschen geben, bei denen Autos Emotionen auslösen. Mit Ski verhält es sich genauso. Und schon sind wir bei Raphael Müller. Seine Leidenschaft fürs Skifahren und fürs Material, das man dazu braucht, hat etwas Ansteckendes. Wer den Zürcher Oberländer im Ladenlokal von Müllerski trifft, vergisst bald einmal, dass man sich in einem versteckten Winkel einer Industriezone in Wetzikon befindet – und wähnt sich stattdessen beim Carven auf einer perfekt präparierten Piste.

Müller, 47, fuhr einst FIS-Rennen, später förderte er den regionalen Skinachwuchs. Er lernte Maurer und Hochbauzeichner, war Bauleiter, studierte soziokulturelle Animation, ist heute in Teilzeit als Jugendarbeiter tätig. Mit 14 baute er ein Snowboard, 2003 verschrieb er sich dem Skibau, seit gut acht Jahren verkaufen er und seine Frau Marisa ihre Müllerski. (Mit dem renommierten früheren Langlaufski-Hersteller Edi Müller haben diese Müllers nichts zu tun.)

«Meine Verkaufsstellen sind die Skitests, die wir organisieren», sagt Raphael Müller, «Laufkundschaft habe ich hier keine.» Wer in einem Skigebiet Müllerski ausprobiert, wird vom Chef oder von einem seiner Teamfahrer begleitet. Zur Crew gehören elf Leute, «neun Männer und zwei Frauen, zwischen 24 und 57 Jahre alt, ehemalige Rennfahrer, ausgebildete Skilehrer – und zwei, die sonst geil Ski fahren», wie Müller sagt.

Seine Ski seien Performance-orientiert, aber Müller widerspricht der Schlussfolgerung, dass sie sich wohl primär für wahre und Möchtegern-Rennfahrerinnen und -fahrer anbieten. «In unserer Produktepalette hat es für jede und jeden etwas, auch wer weniger gut fährt, hat mehr von einem solchen Ski als von irgendeiner Gurke.»

Müllers Kapital ist das eigene Wissen, das sich in all den Jahren angesammelt hat, plus das Schwarmwissen seiner Equipe. Wichtig ist ihm etwa, dass die Käuferinnen und Käufer auch in Sachen Schuh und Bindung optimal ausgerüstet sind. Schuhe und Bindungen bezieht er von einer grossen Marke. Zum Paket gehört aber auch die passende Bindungsplatte aus dem breiten Sortiment müllerscher Eigenentwicklungen – und ein individuell abgestimmter Handschliff.

Pro Jahr kommt Müller auf 100 bis 120 Paar, die er zum Einheitspreis von 2200 Franken (inklusive Bindung und Platte) verkauft. Erhältlich sind die Ski bei ihm selber sowie in einem Sportgeschäft in Brigels, wo die vierköpfige Familie Müller jeweils ihre Skiferien verbringt. «Es wäre cool, wenn wir es in weitere Läden schaffen würden», sagt Müller.

Leben können die Müllers nicht von ihren Ski, auch Marisa Müller hat noch einen anderen Job. Die Werkstatt befindet sich im Stall, der zu ihrem Haus gehört, das Lager im Elternhaus von Raphael Müller. Für die Produktion mietet er sich bei Skiherstellern im benachbarten Ausland ein. Wo genau, mag er nicht verraten. Es gibt noch andere Betriebsgeheimnisse, Müller ist vorsichtig geworden, immer wieder kursieren in dieser Szene Geschichten von gestohlenem Know-how.

Müller sagt, eine Skipresse, wie er sie brauche, koste eine Viertelmillion. Das übersteigt seine Möglichkeiten. Und er sagt, frei von jeglicher Romantik, die seiner Selfmademan-Geschichte innewohnt, es käme ihm auch sonst nicht in den Sinn, seine Ski mit einem Schweizerkreuz zu versehen. «Die Rohstoffe kommen von überallher. So gesehen gibt es keinen einzigen Schweizer Ski.»

Die Müllerski-Fahrerinnen und -Fahrer bilden eine Community. «Ich kenne praktisch jeden Käufer mit Namen», sagt Raphael Müller. Er bietet Wachs- und Schleifkurse an, damit die Kundschaft das Material fachgerecht pflegen kann. Und während des Besuchs im Ladenlokal schleppen Marisa Müller und die beiden Kinder einen Christbaum an – für den Weihnachtsapéro am Tag vor Heiligabend.

Anavon: vorwärts mit Bruno Kernen

Einst befand sich an der Via dalla Stampa 8 in Disentis eine Druckerei. Heute werden im Industriegebäude beim Bahnhof unter anderem Ski produziert. Anavon heisst die Marke, es ist das rätoromanische Wort für vorwärts. Die Firma wurde 2018 von vier Unternehmern gegründet, seit vergangenem Sommer hat sie einen prominenten CEO: Bruno Kernen, den Abfahrtsweltmeister von 1997.

Kernen, 50, führt durch eine Produktionsstätte, die auch eine Erlebniswelt für Skifreaks ist. Anavon bietet Manufaktur-Besuche und Skibau-Workshops an. Kundinnen und Kunden können mit eigenen Augen sehen, wie hier Ski hergestellt werden, das schafft Nähe und Bindung, ganz anders als beim Kauf eines Massenprodukts eines Branchenriesen, der seine Allerweltsmodelle in China, Nordafrika oder der Ukraine produzieren lässt.

Anavon gehört zu den Grossen unter den zahlreichen Schweizer Nischenanbietern. «In dieser Saison produzieren wir zwischen 650 und 700 Paar, unser Ziel sind 1500 bis 1600 pro Jahr, mehr ist mit unserer momentanen Infrastruktur nicht realistisch», sagt Kernen. Damit so viele Ski verkauft werden können, muss der Absatz via Sportfachhandel ausgebaut werden. Noch ist der Direktverkauf der primäre Vertriebskanal.

Kernen sagt, die Produktepalette sei auf den Breitensport ausgerichtet. Dass viel Handarbeit in den Ski steckt und in der Schweiz produziert wird, hat seinen Preis. Die Erwachsenenmodelle kosten – inklusive Bindung von Marker, Salomon oder Tyrolia – zwischen 1600 und 2150 Franken. Es sind faire Preise, sie bewegen sich im gleichen Segment wie die Rennsportmodelle aus Massenproduktion der grossen Weltmarken (ebenfalls inklusive Bindung).

Zu den besonderen Merkmalen der Anavon-Ski gehören die asymmetrische Form und die Farbgebung. Das Deckblatt kann nach individuellen Wünschen der Kundschaft bedruckt werden. Zu dieser Kundschaft zählen auch Firmen, die in Disentis Ski mit ihrem Logo herstellen lassen, etwa als Geschenkartikel. Seit diesem Jahr ist Anavon Lizenzpartner des Modeunternehmens Bogner.

Anavon befindet sich immer noch in der Startphase, zur Kapitalbeschaffung wurde letztes Jahr ein Crowdinvesting durchgeführt, das innert sechs Wochen knapp 700 000 Franken einbrachte. Die Manufaktur beschäftigt acht Festangestellte (560 Stellenprozente). Das Prunkstück im Maschinenpark ist die Skipresse, in der die 23 Schichten unter Einwirkung von knapp 20 Tonnen pro Quadratzentimeter miteinander verbunden werden. Der Skibauer, ein gelernter Schreiner, kann an einem langen Arbeitstag maximal 13 Paar pressen.

Die laut Kernen um etwa 20 Prozent gestiegenen Preise für das Rohmaterial und dessen Knappheit stellen auch für einen Nischenanbieter wie Anavon Herausforderungen dar. Die Firma produziert sozusagen auf verbrannter Erde, denn zuvor war an der Via dalla Stampa 8 die Luxusmarke Zai zu Hause. Zai-Ski gibt es seit 2003, ein Paar kostet bis zu 10 000 Franken. Nach wiederholten finanziellen Turbulenzen wurde die eigene Produktion aufgegeben. Mittlerweile lässt Zai seine Ski bei den Mitbewerbern Timbaer in Appenzell und Blossom in Chiavenna fabrizieren.

Anavon setzt auf den Produktionsstandort Graubünden, und Kernen soll dem Unternehmen zum kommerziellen Durchbruch verhelfen. Kraft seines Namens und seiner Vergangenheit als Schweizer Skistar ist der CEO gleichzeitig der wichtigste Botschafter von Anavon. Sein Know-how fliesst auch in den Bau von Prototypen für ein rennsportlicheres Modell ein, das beispielsweise mehr von der Aluminiumlegierung Titanal enthält. «Diese Ski kann ich auch in den Altherren-Rennen einsetzen, die ich ab und zu fahre», sagt Bruno Kernen.

BFW: Sogar die Skipressen sind Marke Eigenbau

Conradign Netzer, 42, war dabei, als Skicross 2010 zur olympischen Feuertaufe kam, im Weltcup erreichte er drei Podestplätze. Gegen Schluss seiner internationalen Karriere, die 2015 endete, fuhr der Bündner Ski, die er selber gebaut hatte, «eine Kopie von normalen Ski, aber eine schlechte Kopie», wie er sagt. «Ich schaffte es nicht, die verschiedenen Materialien gut zu verleimen, nach 20 Paar gab ich auf.»

Nach einer schöpferischen Pause besann sich Netzer auf die Ursprünge dieses Handwerks, als Ski aus Holz hergestellt wurden, oft von Schreinern. Die heutige Schweizer Skibauer-Ausbildung ist eine Fachrichtung der Schreinerlehre, es gibt nur einige handverlesene Absolventen, von denen die meisten für Stöckli arbeiten.

Conradign Netzer ist Schreiner, «Holz verleimen – das kann ich». Also stellte er aus Neugier und Spass an der Freude ein Paar Ski her, das bis auf die Kanten und den Belag ausschliesslich aus Holz bestand. «Ich schämte mich fast, als ich damit in die Gondel stieg, diese Bretter sind doppelt so dick wie normale Ski. Aber sie funktionierten auf Anhieb super.»

Netzer hatte nicht vor, je einmal Ski zu verkaufen, ihn reizt vor allem das Tüfteln. Einen Prototyp bauen und schauen, was auf der Piste damit passiert. «Mehr vom Gleichen zu machen, finde ich weniger interessant.» Doch Kollegen animierten ihn, es doch zu tun, und mittlerweile arbeitet er winters als selbständiger Skibauer und sommers als selbständiger Schreiner. Pro Saison produziert Netzer etwa 20 Paar in der Werkstatt seines Onkels in Savognin. Sogar die beiden Skipressen sind Marke Eigenbau.

Netzer kann wenig damit anfangen, wenn das Handwerk des Skibaus allzu sehr verwissenschaftlicht wird. «Alle sagen, es sei so schwierig. Du musst etwas von Physik verstehen, die Druckverteilung ist wichtig. Aber sonst?» Er setzt auf das, was er sich als Athlet, Nachwuchstrainer, Servicemann und Schreiner angeeignet hat – und vergleicht sein Schaffen mit Grossmutters Küche. «Grossmütter haben nicht die besten Zutaten und auch nicht die besten Küchengeräte. Aber sie kochen mit Liebe – und dann schmeckt es.»

Ski aus Holz – das ist das Alleinstellungsmerkmal seiner Marke, die er BFW Ski nennt, was für Baltermia Fidel Wasescha stehe, «meinen Urururgrossvater». Und für best functional wood. In einem Paar stecken rund 30 Stunden Arbeit, die Materialkosten belaufen sich inklusive Bindung auf rund 500 Franken. Diese Zahlen relativieren den Preis von 2800 Franken pro Paar. Netzers Holzski überzeugen durch Laufruhe und Spurtreue. Und sie sind langlebig, denn das Holz verliert die Spannung nicht, im Gegensatz zu herkömmlichen Ski. Deckblatt, Kanten und Belag lassen sich ersetzen.

Netzer sagt, früher seien Skifahrerinnen und Skifahrer stärker darauf fixiert gewesen, Material zu haben, das aussehe wie jenes von Pirmin Zurbriggen oder Didier Cuche. Heute wollten mehr Leute Individualität statt Massenware. Netzer glaubt, in einem noblen Geschäft in St. Moritz liessen sich seine Ski wohl auch für 10 000 Franken verkaufen. «Aber ich will keine Ski für Superreiche bauen, sondern Ski, die Menschen Spass machen, die ich persönlich kenne oder kennenlernen darf.»

Philipp Bärtsch, «Neue Zürcher Zeitung»

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