Der Fall Holcim zeigt, wie schwierig ein guter Plan gegen den Klimawandel ist Holcim ist der grösste CO2-Emittent der Schweiz. Sein Weg zur Klimaneutralität zieht Kritik auf sich. Ebenso das Bündnis SBTi, von dem sich immer mehr Firmen ihre Klimaziele bestätigen lassen. Zu Recht?
Holcim ist der grösste CO2-Emittent der Schweiz. Sein Weg zur Klimaneutralität zieht Kritik auf sich. Ebenso das Bündnis SBTi, von dem sich immer mehr Firmen ihre Klimaziele bestätigen lassen. Zu Recht?
Holcim hat sich vorgenommen, im Jahr 2050 klimaneutral zu sein. Ob dafür ausreichen wird, was in den verbleibenden 27 Jahren geschehen soll, darüber gehen die Bewertungen auseinander. Im Frühjahr haben vier indonesische Fischer Klage gegen Holcim eingereicht, weil ihre Insel vom steigenden Meeresspiegel bedroht ist. Die Fischer forderten von Holcim unter anderem schärfere Reduktionsziele. Unterstützt werden sie von Nichtregierungsorganisationen, darunter das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (Heks).
Früher Ablehnung, jetzt Zustimmung
Es gibt aber auch Beobachter, die neuerdings zufrieden mit Holcim sind. Dazu zählt die Anlagestiftung Ethos. Am Donnerstag stellte der Konzern seinen Klimabericht für 2022 an der Generalversammlung zur konsultativen Abstimmung. Er wurde angenommen – und anders als im Vorjahr hat auch Ethos zugestimmt. «Grundsätzlich hat Holcim gute Fortschritte gemacht», sagt der Ethos-Direktor Vincent Kaufmann im Gespräch. «Die meisten Mängel, die wir vergangenes Jahr beanstandet haben, wurden adressiert.»
Der Hauptkritikpunkt von Ethos lautete, dass Holcims Klimaziele zwar zur Absicht passten, die Erderwärmung auf einen Anstieg um 2 Grad bis zum Jahr 2100 gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen. Aber sie reichten nicht aus, um zur Eindämmung auf 1,5 Grad beizutragen. Inzwischen hat Holcim die Ziele verschärft: Neu soll der Netto-CO2-Ausstoss aus der Produktion von Zement (Scope 1) auf 420 Kilogramm im Jahr 2030 sinken. Vorher lag das Zwischenziel bei 475 Kilogramm.
Doch ein Klimaplan muss mehr sein als eine grüne Absichtserklärung. Hier kommt die Science Based Targets Initiative (SBTi) ins Spiel. Sie bewertet die Reduktionsziele von Unternehmen und prüft, ob sie mit wissenschaftlichen Szenarien zur Bekämpfung des Klimawandels vereinbar sind. Diese Zustimmung, so wie sie Holcim erhalten hat, wird immer begehrter.
Investoren verlangen die externe Prüfung
«SBTi ist der Goldstandard für die externe Prüfung der Klimaziele geworden. Es ist auch sehr wichtig, dass dies geschieht», sagt Kaufmann. Immer mehr Investoren achteten darauf. Die Prüfung geschieht nicht aus dem Bauch heraus: Die SBTi analysiere grosse Mengen Daten der Unternehmen, unter anderem zu den Emissionen, teilt sie auf Anfrage mit – weit mehr Angaben, als die Firmen öffentlich publizierten. Eine Analyse dauere zwischen 30 und 60 Tage.
Kritiker wie Heks monieren, dass die Initiative intransparent sei und nicht nur die Standards definiere, sondern von den Unternehmen für die Bewertung bezahlt werde. Hier gebe es einen Interessenkonflikt. Angesichts ihres schnellen Wachstums sieht auch die SBTi Handlungsbedarf. Im März kündigte sie an, einen unabhängigen technischen Beirat einzurichten. Auch eine Direktorin für Compliance wurde ernannt.
«Diese Neuerungen in den Governance-Prozeduren sind sehr begrüssenswert. Ich sehe das als eine natürliche Weiterentwicklung», sagt Antonio Carrillo, Leiter der Klimastrategie von Holcim. Carrillo ist selbst als Berater in einem anderen Expertengremium der SBTi aktiv. Viele Vertreter von Firmen, aber auch von Nichtregierungsorganisationen sind dort dabei. Die externen Stimmen helfen, für einzelne Branchen die besten Wege zur Emissionsreduktion zu definieren.
Es fehlt eine Alternative zur SBTi
Die SBTi urteilt nicht über die Klimastrategie eines Unternehmens, sondern über seine Reduktionsziele und seine grundsätzliche Ambition, diese Ziele zu erreichen. «Wie die Ziele erfüllt werden, wird von der SBTi nicht bewertet», sagt Carrillo. Aber mit den Analysen für einzelne Branchen würden Signale gegeben, welche Technologien und Verfahren am geeignetsten seien. Dass die Unternehmen dabei mitreden, wird ebenfalls kritisiert.
Doch Vincent Kaufmann von Ethos sieht die Mithilfe der Firmen gelassen: «Die Initiative braucht Input von den Unternehmen, um die Reduktionspfade zu entwickeln. Die Aufgabe ist sehr technisch.» Bedenklicher sei, dass keine international ähnlich beachtete Alternative zur SBTi existiere. Das sei ein Risiko. «Es darf nicht nur eine Stimme geben», kritisiert Kaufmann – weshalb Ethos derzeit ein eigenes Bewertungssystem entwickelt.
Die Spielräume, welche die SBTi den Firmen gewährt, stossen nicht überall auf Zustimmung. Bei der Zementproduktion wird Klinkergestein aufgebrochen, wodurch traditionell viel CO2 anfällt. Weil die Herstellung aufwendig umgestellt werden muss, räumt die SBTi der Branche für die nähere Zukunft ein grösseres CO2-Budget ein. Ähnlich empfiehlt es die Internationale Energieagentur (IEA). Holcim reduziert schrittweise den Klinkeranteil und verwendet immer mehr rezyklierten Bauschutt sowie alternative Brennstoffe.
Nur ein Reduktionsziel reicht nicht
Ebenfalls wird skeptisch beäugt, dass Holcim sich mittelfristig nur relative Reduktionsziele setzt. Wie erwähnt, will der Konzern im Jahr 2050 klimaneutral sein – aber für 2030 wurde als Zwischenziel nur die Senkung von CO2 pro hergestellte Einheit Zement definiert. Theoretisch lässt das einen Anstieg der Gesamtemissionen zu. Holcim weist das zurück: «Die Reduktion der absoluten Ziele ist der Kern unserer Arbeit», sagt der Klima-Chef Carrillo. Die relativen Ziele seien darauf abgestimmt und würden zur absoluten Senkung führen.
Sind absolute oder relative Ziele besser? «Wir brauchen beides», sagt der Ethos-Direktor Kaufmann. Nur ein absolutes Ziel zu haben, sei zu einfach. Holcim hat sich im vergangenen Jahr von der Zementproduktion in Indien und Brasilien getrennt und wandelt sich durch Zukäufe zu einem Anbieter von Baumaterial. Der Wegfall trug entscheidend dazu bei, dass Holcim 2022 nur noch 83 Millionen Tonnen CO2 ausstiess – eine Reduktion um ein Drittel zum Vorjahr. Aber die Emissionen fallen in den Schwellenländern weiter an, nur bei neuen Eigentümern.
Ironischerweise sind Holcims relative Ziele durch die Verkäufe schwieriger zu erreichen. Die Produktion in Indien und Brasilien war klimafreundlicher als der Konzerndurchschnitt, unter anderem weil weniger Klinker eingesetzt wurde. Durch den Verkauf ist Holcims Emissionswert pro Tonne Zement gestiegen. Die Klimaneutralität ist gleichzeitig einfacher und schwieriger geworden.
Der wichtigste Klimaretter ist Zukunftsmusik
Doch weil Zement immer noch Zement ist, wird eine Produktion nicht ohne Ausstoss von CO2 möglich sein. Deshalb setzt Holcim grosse Hoffnungen auf die Abscheidung, Nutzung und Speicherung des Kohlenstoffs (CCUS). Ab dem Jahr 2030 soll sie den Löwenanteil an der Emissionsreduktion übernehmen und letztlich 44 Prozent beisteuern. Diese Technologie muss allerdings erst noch im grossen Stil für Zementwerke adaptiert werden. Holcim investiert in mehr als fünfzig Projekte und hat auch Fördergelder von der EU erhalten. Dass sich der Konzern in so grossem Ausmass auf Zukunftsmusik verlässt, stösst manchen Kritikern sauer auf.
Andere Kritiker freuen sich, dass die Zukunft konkreter wird. So hat Holcim im neuen Klimabericht erstmals angegeben, dass der Konzern bis 2030 rund 2 Milliarden Franken in die neue CCUS-Technologie investieren wolle. Dies zusätzlich zu den bereits bekannten 500 Millionen Franken, die pro Jahr bis 2025 in den Umbau der Produktion fliessen. Für den Ethos-Direktor Kaufmann ist das ein Fortschritt. «Letztes Jahr waren die Angaben etwas zu vage. Die echte Frage wird aber sein: Ist eine Mehrheit der Aktionäre bereit, solch einen Betrag in Nachhaltigkeit zu investieren?»
Für Ethos ist die Publikation der Investitionssumme einer jener Fortschritte, die nun eine Zustimmung zum Klimabericht erlauben. Ebenso, dass Holcim sich neu ein Ausgangsjahr für die Reduktion der indirekten Emissionen gesetzt hat, die an anderen Orten der Wertschöpfungskette anfallen (Scope 3) – etwa beim Transport oder bei der Herstellung von eingekauftem Material. Das Ausgangsjahr ist hier 2020 und nicht 2018 wie bei den direkten Emissionen des Unternehmens (Scope 1 und 2). Das erschwert die Vergleichbarkeit, wird aber mit der komplexen Datenerhebung begründet und bringt dem Konzern rechnerisch keinen Vorteil.
Es bleibt noch Arbeit für Holcim
Trotzdem bleiben Wünsche offen. Ethos würde es gefallen, wenn die Reduktionsziele konkreter mit den einzelnen Massnahmen verknüpft wären. Auch hat Holcim zwar erstmals die Emissionen von Joint Ventures und Firmen publiziert, an denen es Anteile hält. Ethos plädiert dafür, dass für sie ebenfalls Reduktionsziele definiert werden.
Grundsätzlich habe die konstruktive Auseinandersetzung aber gute Verbesserungen gebracht, so Kaufmann. Auch wenn grosse CO2-Emittenten etwas mehr zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen sollten, sei er nicht sicher, ob eine Klage gegen Holcim das beste Mittel sei. Allerdings ist Holcim auch zugänglicher als andere Konzerne: Der Nahrungsmittelriese Nestlé, der zweitgrösste Treibhausgasemittent der Schweiz, lässt seine Aktionäre gar nicht erst über den Klimabericht abstimmen.
SBTi: Unternehmensprüfer im Dienst des Klimas
Die Science Based Targets Initiative (SBTi) besteht seit dem Jahr 2015. Inzwischen haben sich fast 2600 Firmen bestätigen lassen, dass ihre Ziele zur Emissionsreduktion im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen stehen und zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen. Davon stammen 59 Firmen aus der Schweiz und 149 aus Deutschland. Unternehmen aller Branchen holen sich die begehrte Bestätigung, vom Stahlproduzenten Swiss Steel über den Liftbauer Schindler bis zum Zahnimplantatehersteller Straumann.
Rund einer von vier Anträgen werde abgelehnt, teilt die SBTi mit. Um die Anfragen zu bewältigen, zählen inzwischen mehr als hundert Mitarbeiter zur Kernbelegschaft. Die Initiative ist ein Bündnis aus dem Carbon Disclosure Project (DCP), einer Nichtregierungsorganisation, dem Uno-Firmen-Projekt United Nations Global Compact, der Umwelt-Denkfabrik World Resources Institute sowie dem World Wide Fund for Nature (WWF).
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