Das grösste Schulzimmer der Schweiz befindet sich in Uster, mit mehr als tausend Quadratmetern Fläche für über hundert Lehrlinge Eine sogenannte Lernlandschaft an der Berufsfachschule Uster schafft die bauliche Voraussetzung für die KV-Reform: weniger Unterricht im Klassenzimmer, mehr individuelles Lernen.

Eine sogenannte Lernlandschaft an der Berufsfachschule Uster schafft die bauliche Voraussetzung für die KV-Reform: weniger Unterricht im Klassenzimmer, mehr individuelles Lernen.

Mathematikunterricht am ersten Schultag in der Loft School der Berufsfachschule Uster. (Bild: Eleni Kougionis / NZZ)

Mit einem traditionellen Schulzimmer hat das wenig gemeinsam. Als Erstes fällt beim Betreten eine KV-Klasse ins Auge, die auf grossen Sitzsäcken den Ausführungen ihres Lehrers zuhört. In einem ebenfalls offenen Teil daneben, nur abgetrennt durch eine bewegliche Akustikwand, folgen Schülerinnen und Schüler an Pulten dem Unterricht. Dazwischen befinden sich Tische für Besprechungen zu zweit oder zu viert, die mit schallschluckenden Vorhängen abtrennbar sind.

Von aussen ist es ein schmuckloser Zweckbau im Zellweger-Areal in Uster, umgeben von Spitzenarchitektur mit Bauten von Ronald Rohn, Herzog & de Meuron sowie Gigon Guyer. Im nüchternen Industriebau dazwischen aber beginnt auf der ganzen Fläche über dem Hochparterre ein innovatives Bildungsprojekt.

Uster hat jetzt eine Loft School. Sie dient seit Montag der Abteilung Wirtschaft der Berufsfachschule Uster (BFSU), die im nahen Bildungszentrum auch technische Berufe unterrichtet. Sie legt schon länger den Fokus statt auf einzelne Fächer auf die Vermittlung von Handlungskompetenzen. Genau das ist das Ziel der KV-Reform, die mit Beginn dieses Schuljahrs umgesetzt wird.

Selbständiges Lernen statt Frontalunterricht

Neue Unterrichtsformen haben Auswirkungen auf die Gestaltung der Schulräumlichkeiten. Hier geht die BFSU nun radikal neue Wege. Beim Besuch am ersten Morgen des neuen Schuljahres steht natürlich noch der Klassenverband im Vordergrund. Welches sind die Ziele im zweiten Lehrjahr, was steht in den nächsten Wochen an?

Später soll sich der Unterricht öffnen, wie es der Absicht der KV-Reform entspricht: vermehrtes Arbeiten in Gruppen und an Projekten, selbstorientiertes Lernen. Dafür bietet die Loft School ideale Voraussetzungen. Die Lernlandschaft erstreckt sich auf einer Fläche von mehr als tausend Quadratmetern. Lediglich am Rand gibt es wenige Bereiche, die mit Wänden abgetrennt sind: Hier ist intensive Gruppenarbeit möglich, auch das Sekretariat und das Lehrerzimmer haben etwas Privatsphäre.

Sonst ist die Schule ein einziger riesiger Raum. Eine Trennwand in der Mitte hat man sogar herausgerissen. In den äusseren Bereichen sind insgesamt sechs Zonen angeordnet, die sich für den Unterricht im Klassenverband eignen. Eine davon ist sogar traditionell mit einzelnen nach vorne ausgerichteten Tischen ausgestattet. Hier kann man Prüfungen schreiben lassen, die gibt es nämlich auch in der neuen KV-Welt.

Dazwischen befinden sich unterschiedlich gestaltete Bereiche für stilles Arbeiten. Dem gleichen Zweck dient in der Mitte des Raumes ein grosszügiges Bistro, das selbstverständlich auch in den grossen Pausen und über Mittag benutzt wird und mit einem Verpflegungsautomaten ausgestattet ist.

Grösste Lernlandschaft im deutschsprachigen Raum

Auslöser für dieses vielleicht wegweisende Vorhaben war, dass der Lehrauftrag für die kaufmännische Schule Wetzikon auf dieses Schuljahr hin an Uster überging. Die BFSU hätte grundsätzlich weiter in Wetzikon unterrichten können. Aber eine Schule an zwei Standorten bei gleichzeitiger Umsetzung der KV-Reform zu betreiben, wäre nicht machbar gewesen. Die Schule in Uster aber platzt aus allen Nähten.

So durfte die BFSU «mit dem Segen der Bildungsdirektion», wie ihr Rektor Otto Schlosser sagt, selber aktiv werden und den Raum im Zellweger-Areal mieten. Man glaubt ihm sofort, wenn er sagt, er sei froh gewesen, als er gehört habe, dass es aus Kostengründen nicht möglich sei, Zwischenwände einzubauen.

So machte sich Schlosser mit einem kleinen engagierten Team daran, seit Mai die vermutlich grösste offene Lernlandschaft im deutschsprachigen Raum zu entwickeln. Beispiele sind nur wenige bekannt, etwa die Hellerup Skole in Kopenhagen für 6- bis 16-Jährige, eine Schule in den Niederlanden oder eine in Japan.

Entscheidend war in Uster die Auswahl der Architekten. Otto Schlosser stiess nach einem Tipp auf das Büro Dost Architektur in Schaffhausen, das viel Erfahrung in der Gestaltung von Arbeitsräumen mitbrachte. Arbeitswelt und Berufsschule sollen gerade in der kaufmännischen Ausbildung keine getrennten Welten sein.

«Das Büro wird zum Begegnungsort», sagt der Innenarchitekt Julian Tschanen. Es werde immer selbstverständlicher, eine Arbeit, die viel Konzentration erfordere, im Home-Office zu erledigen. Diese Realität kennen heute die meisten KV-Lehrlinge von ihrem Arbeitsplatz. Die Loft School bildet sie nun auch in der Schule ab.

Lehrerschaft und Architekten im Austausch

Doch geht das, zum Beispiel mit dem Lärm? Selbstverständlich gab es viel Skepsis in der Lehrerschaft. Er sei es gewohnt gewesen, laut und deutlich zu unterrichten, sagt der Mathematiklehrer Nenad Gavrilovic, ein Hüne. Am Morgen sei es ihm zuerst etwas laut vorgekommen. Das habe sich nach wenigen Minuten ergeben, und er selber habe rasch gemerkt, dass er die Stimme senken müsse.

Gavrilovic gehörte anfänglich zu den grössten Skeptikern. Aber er liess sich darauf ein und nahm am Austausch mit den Architekten teil. Hier habe er sich zum wichtigsten Inputgeber in der Gruppe entwickelt, sagt Tschanen, der überrascht war, wie viel Vertrauen Schule und Lehrerschaft den Architekten entgegenbrachten. Umgekehrt hätten sie in diesem intensiven Prozess von einigen Ideen, die sie zunächst gehegt hätten, Abschied nehmen müssen.

Der Auftrag der Architekten ist nicht einfach beendet. Sie können, wenn sich im Schulalltag Probleme ergeben, noch Anpassungen vornehmen. Die Lehrkräfte haben sich darauf geeinigt, dass sie in den ersten sechs Wochen rotieren, also jeweils eine Woche in jeder Klassenzone unterrichten. In die Akustik hat man viel investiert. Am Montag waren zwar überall Stimmen zu hören, aber nicht so, dass es störend gewirkt hätte.

Die Lernlandschaft biete viele Vorteile, sagen Cornelia Thaler und Valentin Böhm, welche die Abteilung Wirtschaft leiten. Wenn Lehrlinge selbständig an einem Projekt arbeiteten, heisse das nicht, sie allein zu lassen. Lehrkräfte hätten in dieser Situation die Schülerinnen und Schüler besser im Blick, als wenn diese ausserhalb des Schulzimmers arbeiteten. Umgekehrt seien sie als Betreuungspersonen, wenn jemand nicht weiterkomme, im gleichen Raum einfach erreichbar.

Auch Markus Zwyssig, Leiter Berufsfachschulen und Weiterbildung im kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamt, nahm am Montag einen Augenschein in Uster. Er spricht von einem interessanten Versuch, der aber auf zwei Jahre begrenzt sei. Er könne wertvolle Erkenntnisse für künftige Schulbauten bringen. Zwyssig schränkt aber ein, eine solche Lernlandschaft sei kaum für alle Berufe geeignet. Ein Umbau weiterer Berufsfachschulen müsste zuerst geprüft werden.

Interessant und ungewohnt

Und wie sehen das die Lehrlinge, die erst am Montagmorgen erfuhren, dass sie ein ganz besonderes Schulzimmer beziehen? «Interessant» und «ungewohnt», tönt es aus einer Gruppe, die gerade in die Mittagspause geht. Spannend sei, an verschiedenen Orten zu arbeiten, meint eine junge Frau, eine andere, sie könne sich einen solchen Unterricht jede Woche noch nicht recht vorstellen. Dann streben sie zum Ausgang, der auf einen unwirtlichen Parkplatz führt, an den sich aber ein schattiger Park mit zwei Weihern anschliesst.

Die grösste Herausforderung stellt die Umstellung der Unterrichtsformen für die Lehrkräfte dar. Die Zeit, als sie die Tür zum Klassenzimmer schliessen konnten und dann der Unterricht begann, ist vorbei. Eine Lernlandschaft wie in Uster ist in jeder Hinsicht offen. Der Rektor Otto Schlosser und Oliver Kemmler, der Teamleiter für die KV-Reform, sind zuversichtlich, dass die Neuerung akzeptiert wird, weil die Berufsfachschule in Uster den Zielen der KV-Reform bereits früher nachlebte.

Eigentlich soll die Abteilung Wirtschaft in zwei Jahren, wenn heute noch anderweitig belegte Schulzimmer in Wetzikon frei werden, dorthin zügeln. Aber man spürt im Gespräch mit den Verantwortlichen, dass sie diesen speziellen Raum, den sie für ihre Schule erobert haben, nicht so rasch preisgeben werden.

Stefan Hotz, «Neue Zürcher Zeitung»

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