Das Wallis im Wachstumsschmerz – wie eine Region einem Konzern hinterherhechelt Die Lonza hat in Visp innert zwei Jahren mehr als 2000 neue Stellen geschaffen. Was macht das mit einem Ort?

Die Lonza hat in Visp innert zwei Jahren mehr als 2000 neue Stellen geschaffen. Was macht das mit einem Ort?

 

Das Neue und das Bisherige stehen in Visp in einem Spannungsverhältnis. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Niklaus Furger steht auf dem Schulplatz in Visp. Eine Frau geht an ihm vorbei. Sie grüssen sich. Als sie sich entfernt hat, sagt er: «Ich kenne hier fast niemanden mehr.»

Furger ist in Visp aufgewachsen, seit 10 Jahren Gemeindepräsident, seit 25 Jahren im Gemeinderat und noch länger in vielen Vereinen. Eigentlich müsste er im Dorf alle kennen, bis vor kurzem war das auch noch so.

Jetzt geht er am Freitag auf den Visper «Pürümärt» und kennt nur noch 20 Prozent der Leute, die sich dort zum Feierabend ein Raclette und einen Weisswein gönnen. Viele sprechen Englisch.

Furger sitzt einer Gemeinde vor, die sich rasant verändert. Noch vor wenigen Jahren mussten Immobilienbesitzer in Visp die ersten Monate gratis anbieten, um überhaupt einen Mieter zu finden. Gegenwärtig werden in Visp 350 Wohnungen gebaut, wobei die meisten schon Mieter haben, bevor sie fertig gebaut sind.

Im ganzen Oberwallis gibt es kaum mehr bezahlbaren Wohnraum. Der Anteil der inserierten Mietwohnungen am Gesamtbestand ist in den Gemeinden Visp, Naters und Brig auf unter 2 Prozent gesunken. Selbst in Zürich oder Lausanne liegt er höher.

Auch die Preise steigen in grossstädtische Sphären. 2000 Franken für eine 3½-Zimmer-Wohnung sind keine Seltenheit. Leisten können sich das vor allem Angestellte der Lonza, deren Löhne über dem lokalen Durchschnitt liegen.

Das Chemie- und Pharmaunternehmen hat an seinem Standort in Visp seit 2019 mehr als 2000 neue Stellen geschaffen. Daraufhin sind viele nach Visp gezogen. Der Ausländeranteil ist in nur zwei Jahren von 23 auf 27 Prozent gestiegen. Das ist viel Veränderung für Visp, das mit seinen 8000 Einwohnern eigentlich noch als Dorf gilt.

Was macht das mit einem Ort, wenn sich so schnell so viel verändert?

Als Furger vor 10 Jahren sein Amt antrat, war alles anders: Die Lonza baute 400 Stellen ab und schleppte sich durch einen Skandal, weil die umliegenden Böden mit Quecksilber verseucht waren. Das Spital von Visp sollte nach Brig ziehen, auch das hätte sich auf den Stellenmarkt ausgewirkt. «Damals schien es, als würden wir Hunderte Arbeitsplätze verlieren, heute werden pro Jahr über tausend neu geschaffen», sagt Furger.

Die Arbeitslosenquote lag im März in der Region Visp bei 0,6 Prozent, viel tiefer als im ganzen Kanton (2,4 Prozent). Die Strukturschwäche, die dem Oberwallis nachgesagt wird, spiegelt sich derzeit nicht in der Statistik wider.

Es ist schwierig, Fachkräfte zu finden. Als die Gemeinde nach einem neuen Brunnenmeister suchte, musste sie die Stelle mehrmals ausschreiben, weil keine einzige Bewerbung einging. Die Lonza rekrutiert 35 Prozent ihrer Angestellten aus dem Ausland, aber sie zahlt höhere Löhne. Das zieht Arbeitskräfte an, die dann anderswo fehlen.

Das Wallis hat Wachstumsschmerzen.

Die Kita kommt nicht nach

Derzeit arbeiten 4000 Angestellte aus mehr als 65 Nationen für die Lonza in Visp. Einer von ihnen ist David Pérez aus Spanien. Vor 2 Jahren fing er beim Unternehmen in Visp an. Davor hatte er 18 Jahre für die Lonza in Purriño im Südwesten Spaniens gearbeitet.

David sitzt mit seiner Frau Silvia und seiner zweijährige Tochter Paloma am Esstisch in ihrer Wohnung in Visp. Seit sie da ist, schätzen ihre Eltern die Ruhe und die Sicherheit, die sie an ihrem neuen Wohnort umgeben.

Silvia ist in Peru aufgewachsen. Sicher habe sie sich dort nie gefühlt. Immer habe sie sich umgedreht, um zu schauen, ob ihr jemand hinterherlaufe. Immer habe sie im Auto die Tür verriegelt. In Visp sieht sie, wie Kinder allein zur Schule laufen, und ist beeindruckt.

Im September wird Paloma den Kinderhort besuchen. Das gelbe Anmeldeformular liegt ausgefüllt auf dem Esstisch.

Die Kita wurde in den letzten vier Jahren dreimal ausgebaut. Erst fand die Kinderbetreuung auf einem, später auf zwei Etagen statt. Dann kamen Container auf dem davorliegenden Spielplatz dazu. Dann ein Gebäude in der Nähe. In vier Jahren soll ein ganzer Campus für die Betreuung von Kleinkindern gebaut sein.

Diese Entwicklung dürfte auch die Einheimischen freuen. Immer weniger Eltern im Oberwallis wollen die Kinderbetreuung klassisch angehen. Aufgrund des fehlenden Angebots mussten sie sich bisher selbst organisieren.

Auch viele Vereine in Visp sind von Leuten gegründet worden, die wegen der Lonza hergezogen sind. Furger findet, dass es deswegen eine gewisse Weltoffenheit gebe. Er spricht vom «Visper Geist».

Gemischte Gefühle

Sven Zuber hat seit 2017 einen Food-Truck. Erst hat er sein Essen einmal hier, einmal da verkauft. Mittlerweile fährt er mit seinem schwarzen Transporter jeden Mittag zur Lonza.

Sein Food-Truck steht auf einem eingezäunten Parkplatz. Dahinter grosse, graue Gebäude. Daneben Baustellen. Ab 11 Uhr 22 nimmt er Bestellungen auf: «Burrito or bowl?» Fragt nach Zutaten: «Pork? Planted? Pepper?» Und der Zahlungsart: «Cash or card?» Anderthalb Stunden lang. Alles auf Englisch.

Zuber reist gerne in die Vereinigten Staaten. Früher konnte er das Englisch, das er dort lernte, daheim nicht brauchen. Jetzt braucht er es jeden Tag – und freut sich: «Die fremde Sprache, die neuen Gesichter . . . Das Wallis wird weltoffener. Das tut uns hier schon gut.»

Die Kundschaft kommt in Sprachgruppen: die Iren mit den Briten, die Romands mit den Franzosen, die Slowenen mit den Serben. Während die Laboranten ihr Essen zurück in die grossen, grauen Gebäude tragen, setzen sich die Bauarbeiter auf Stühlen in einen Kreis auf dem Parkplatz. Ihre Essenssituation ist so provisorisch wie ihr Aufenthalt.

Die Bauarbeiter bleiben nur so lange in Visp, wie sie gebraucht werden. Die Zahl der Kurzaufenthalte ist im Jahr 2021 um 85 Prozent gestiegen. Es wird gerade sehr viel gebaut in Visp. In jeder Baulücken ist ein Gebäude in ein Gerüst gehüllt. Überall stehen Kräne.

Für jene, die länger bleiben als ein Jahr, ist Zuber eine Anlaufstelle geworden. Ein Kunde kommt an, bestellt einen Burrito und fragt ihn dann, was am Wochenende los sei. Zuber verweist auf eine eigene Veranstaltung und sagt: «Wenn du da bist, komm vorbei. Es wird grossartig. For real.»

Für Zuber sind die Expats ein gutes Geschäft. Als er im Sommer vor seinem Lokal in Visp Bands spielen liess, war das Publikum zur Hälfte international. «Ich bin stolz, dass sie hier sind, aber ich habe auch Angst, dass sie bald wieder weg sind», sagt Zuber.

«Walliserdiitsch» für Anfänger

Felizitas Berchtold hat sich einer schwierigen Aufgabe angenommen: In einem Glasgebäude, das am Bahnhof Visp die Gleise von der Gemeinde trennt, unterrichtet sie «Walliserdiitsch» für Anfänger.

Es ist die zweite Lektion. Die Expats müssen sich vorstellen mit den Satzanfängen «Ich heissu . . .», «Ich chumu . . .», «Ich wohnu . . .», «Ich schaffu . . .». Sie kommen aus Brasilien, Deutschland, Iran, wohnen in Siders, St. German, Visp. Und arbeiten bei der Lonza.

Berchtold spielt das Lied «13 Stärna» vom Alleinunterhalter Hansrüedi ab. Es ist die wahre Hymne des Wallis, sie wird bei jedem Zeltfest abgespielt. Darin werden die 13 Sterne auf dem Walliser Wappen besungen, die alle für etwas anderes, etwas Schönes stehen: die Sonne, den Schnee, den Safran, das Schwarznasenschaf. Der Text liegt allen ausgedruckt vor.

«13 Stärna, die heint Kantä – Kantä wie d’Walliserlit.»

«Was heisst ‹Walliserlit›?», fragt eine Schülerin. Berchtold sagt: «Das heisst Walliser Leute. Ich würde ‹Walliser Liit› schreiben.»

«Was heisst ‹Kantä›?», fragt ein zweiter. Berchtold zeigt auf eine Kante ihres Schreibtisches. «Das ist eine Kante», sagt sie. «Hier heisst das, dass auch die Walliser nicht rund und geschliffen sind, sondern Ecken und Kanten haben. Das hast du sicher schon bemerkt.» Alle lachen.

Auf dem Heimweg nach Brig sagt Berchtold: «Ich habe Angst, dass das Wallis eines Tages nicht mehr das Wallis ist, wie wir es kennen – und Hansrüedi es in seiner Hymne beschreibt.» Alles werde immer grösser und globaler, so dass man sich fragen müsse, wie wichtig Visp als Standort in 10 Jahren noch sei.

Berchtolds Sohn und Berchtolds Partner arbeiten bei der Lonza. Verliert der Standort Visp an Grösse, verliert die Familie auch.

Baugesuche mehrmals gestellt

Gemeindepräsident Furger kurvt von Visp eine steile, schmale Strasse hoch. Er erzählt: «Der Stadtpräsident von Monthey sagte letzthin, es gebe auf dem Planeten zwei boomende Punkte: Visp und Dubai.»

Dass alles eine Blase sei, so schnell implodiere, wie es explodiert sei, fürchtet Furger nicht. Die Lonza stelle nicht nur ein einzelnes Produkt her, sondern fungiere als Auftragshersteller für verschiedene Firmen gleichzeitig. Seit 2020 unter anderem auch für Moderna.

Ausserdem bilde sich wegen des Booms ein Bio-Pharma-Chemie-Cluster: Visp ziehe immer mehr Fachkräfte und Firmen aus diesem Bereich an. Das stärke den Standort. Doch Furger weiss auch: Die Lonza ist ein Klumpenrisiko.

Furger parkiert sein Auto im Dorf Eggerberg, hier hat er eine gute Sicht auf Visp. Sein «Städtji» sieht von oben aus wie ein Dreieck: Die Altstadt sitzt in der Spitze, während sich die Lonza an der Unterseite scheinbar unaufhaltsam in die Länge zieht.

Seit der Produktionskomplex «Ibex Solutions» vor fünf Jahren initiiert wurde, sind zwei Gebäude entstanden. Ein drittes ist im Bau, zwei weitere sind in Planung.

Als das zweite Gebäude geplant wurde, erhielt Furger einen Anruf: «Bevor der Bau bewilligt wird, müssen wir wissen, ob es genug Trinkwasser gibt.» Bisher hat die Lonza so viel Wasser verbraucht wie die ganze Gemeinde Visp: 1,4 Milliarden Liter.

Nun wächst die Firma so schnell, dass selbst das Wasser nicht mehr mithalten kann. Vergangenen Sommer wurde eiligst eine Leitung gebaut, für 10 Millionen Franken. Sie führt jetzt vom Aletschgebiet Trinkwasser her.

Im letzten Jahr hat die Gemeinde Visp für die Lonza 40 Baugesuche bewilligt. Manche Anträge wurden gleich mehrmals gestellt und erhielten eine Bewilligung für einen vorzeitigen Baubeginn, weil sie offenbar so eilten. «Die Geschwindigkeit fordert uns. Das drückt auf die ganze Gegend», sagt Furger.

Das Wallis ist wie ein Teenager, der zu schnell aus seinen alten Kleidern wächst.

Elena Lynch (Text), «Neue Zürcher Zeitung»

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