«Der Schweizer Branchenkult führt zu organisierter Inzucht» Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihr Berufsbildungssystem. Aus dem hohen Fachwissen der Mitarbeitenden resultiert ein starkes Branchendenken. Pascal Scheiwiller, CEO des Outplacement-Beraters von Rundstedt, meint, dass dies zum Teil zu einer «Klon-Mentalität» führe, bei der immer die gleichen Profile ins Team geholt würden.

Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihr Berufsbildungssystem. Aus dem hohen Fachwissen der Mitarbeitenden resultiert ein starkes Branchendenken. Pascal Scheiwiller, CEO des Outplacement-Beraters von Rundstedt, meint, dass dies zum Teil zu einer «Klon-Mentalität» führe, bei der immer die gleichen Profile ins Team geholt würden.

Viele Unternehmen legen hohen Wert auf Branchenerfahrung. Dass ein Metzger nicht gerade Programmierer wird, liegt auf der Hand. Warum aber selbst Möbelschreiner ungern als Industrieschreiner eingestellt werden, leuchtet nicht unbedingt ein. (Foto: Joël Hunn / NZZ)

Am Schweizer Arbeitsmarkt läuft vieles gut. Die Arbeitslosenquote ist tief. Befürchtungen vom vergangenen Herbst, dass ein Konjunktureinbruch zu einer Abkühlung am Arbeitsmarkt führen könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Allerdings: Unter der Oberfläche gibt es schädliche Entwicklungen, die für die Betroffenen schwierig sind. Jemand, der kein Faible für Zuckerguss hat, ist Pascal Scheiwiller, CEO des Outplacement-Beraters von Rundstedt.

Die Wahrheit zeigt sich bei einem Stellenverlust

Der Arbeitsmarktexperte sieht in der Schweiz eine zunehmende Polarisierung zwischen den Gewinnern und Verlierern. Einerseits gibt es Leute, die auf dem Arbeitsmarkt extrem gefragt sind. Übersehen werde dabei aber die Minderheit der Menschen, die ausgesteuert würde und einfach nicht mehr in den Arbeitsmarkt hineinfände. Für die Betroffenen sei es extrem hart, ständig vom Fachkräftemangel zu hören und dennoch keine Stelle zu finden. Das ergibt sich auch aus einer Umfrage bei knapp 2000 HR-Managern und Führungskräften in der Schweiz, die Scheiwiller und sein Team gemacht haben, um herauszufinden, wo die grössten Spannungsfelder im Arbeitsmarkt liegen.

Wer auf welcher Seite steht, zeigt sich gemäss Scheiwiller im Fall eines Stellenverlustes. «Das ist die Nagelprobe, dann kommt der Realitätscheck.»

Die tiefe Arbeitslosenquote, die gemäss dem Seco derzeit bei zwei Prozent liegt, spiegelt gemäss Scheiwiller nicht die ganze Realität. «Das ist nur der konjunkturelle Teil der Arbeitslosigkeit.» Wer das wahre Problem sehen möchte, muss sich den strukturellen Teil schauen. Berücksichtige man Stellensuchende ohne Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung wie Wiedereinsteigerinnen oder auch Ehefrauen von Expats, die Ausgesteuerten und die sogenannten Unterbeschäftigten, die mit Pensen von 20 oder 40 Prozent tätig seien, aber lieber Vollzeit erwerbstätig wären, erhalte man die Arbeitsmangelquote. Diese läge zurzeit bei rund 9 Prozent.

«Es gibt viele Menschen, die mehr arbeiten wollen, auf dem Markt aber nicht finden, was sie suchen», meint Scheiwiller.

Schädliche Klon-Mentalität

Der Hauptgrund dafür dürfte ein Mismatch sein, ein Missverhältnis zwischen den Profilen, die gesucht sind, und denen, die die Suchenden mitbringen. Getrieben wird dies durch die umfassende Digitalisierung der Berufswelt. In diesem Umfeld verlören einige den Anschluss, die Polarisierung zwischen Gewinnern und Verlieren sei ein Indiz für den Mega-Strukturwandel, in dem wir uns befänden, meint Scheiwiller.

Um Abhilfe zu schaffen, steht aber nicht in erster Linie der Staat in der Pflicht, sondern die Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbst. Letztere sollten auf ihre Arbeitsmarktfähigkeit achten, indem sie sich im Austausch mit anderen weiterbilden und beruflich à jour halten. Problematisch bei den Unternehmen findet Scheiwiller, dass diese bei Einstellungen viel zu oft das Zero-Gap-Prinzip verfolgen würden. Bewerber sollen die gleichen Aufgaben, die gleichen Herausforderungen in der gleichen Funktion und der gleichen Branche bereits mehrmals erfolgreich erfüllt haben.

Es brauche aber mehr Toleranz für Profile, die man erst entwickle, und man müsse den Menschen mehr Zeit geben, in ihre Aufgabe hineinzuwachsen, so Scheiwiller überzeugt. Als eine der Ursachen dafür sieht Scheiwiller einen in der Schweiz sehr ausgeprägten Branchenkult. In der Theorie seien sich zwar alle einig, dass es gerade in einem Strukturwandel mehr Flexibilität brauche, die Praxis sei jedoch eine andere.

Die Firmen würden dabei unterschätzen, dass gerade Berufsleute aus anderen Branchen wichtige Impulse geben könnten. Stattdessen werde gefordert, dass jemand sofort schon voll leistungsfähig sei.

Falsch verstandene Diversität läuft ins Leere

Den fast schon ausschliesslichen Fokus auf Branchenkenner findet Scheiwiller tragisch, er spricht von «organisierter Inzucht». Diese sieht er in der menschlichen Natur begründet. Intuitiv gingen die wenigsten Menschen auf Diversität. Stattdessen suche man intuitiv nach seinesgleichen. «Dann ist alles smooth, harmonischer und schneller.» Mit dieser Tendenz müsse man bewusst umgehen, denn das nicht reflektierte Verhalten münde oft in mangelnde Vielfalt. Gerade branchenfremde Bewerber könnten dank anderen Erfahrungen oftmals frische Impulse geben.

Zwar redeten heute viele Unternehmen von Diversität. Dabei gehe es ihnen aber meist um Geschlecht oder Herkunft. Für den geschäftlichen Erfolg sei aber weniger die demografische Diversität entscheidend, sondern mehr eine Vielfalt an beruflichen Profilen.

Er habe gedacht, dass der grosse Fachkräftemangel die Unternehmen diesbezüglich offener gemacht hätte, sagt Scheiwiller. Das sei jedoch nur in einem geringen Umfang der Fall gewesen. Der Grund für die Starrheit liegt nach seiner Ansicht in mangelndem Mut. Die Personalabteilungen würden den Vorteil von branchenfremden Bewerbern zwar häufig sehen. Sie seien aber intern oft zu schwach gegenüber der Führungslinie. Die Personalverantwortlichen seien in vielen Unternehmen immer noch zweitrangig und zudienend und könnten mit der Linie meist nicht auf Augenhöhe verhandeln.

Für Scheiwiller sind das Beharrungsvermögen und der anhaltende Branchenkult auch ein Zeichen dafür, dass der Leidensdruck durch den Fachkräftemangel nicht so gross sei, wie das lautstarke Klagen der Unternehmen nahelegen würde.

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