Die Berufslehre bringt einen Motivationsschub für Jugendliche – das Gymnasium schafft dies nicht Für den Berufserfolg sind nebst der Fachkompetenz auch Faktoren wie Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und Beharrlichkeit bedeutend. Laut einer neuen Studie machen Lehrlinge in diesen Disziplinen einen Sprung zwischen dem Alter 15 und 18, während bei Mittelschülern kein Fortschritt sichtbar ist.

Für den Berufserfolg sind nebst der Fachkompetenz auch Faktoren wie Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und Beharrlichkeit bedeutend. Laut einer neuen Studie machen Lehrlinge in diesen Disziplinen einen Sprung zwischen dem Alter 15 und 18, während bei Mittelschülern kein Fortschritt sichtbar ist.

 

Die Berufslehre fördert die Lern- und Leistungsmotivation von Jugendlichen. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Nach den Sommerferien dürfte etwa die Hälfte der frischen Abgänger der obligatorischen Schule in der Schweiz eine berufliche Grundbildung beginnen. Für die meisten heisst dies eine Berufslehre. Weitere Lehrlinge werden nach absolvierten Brückenangeboten später hinzukommen. Statistisch ist die berufliche Grundbildung mit einem Anteil bei den Erstabschlüssen nach der obligatorischen Schule von über 60 Prozent nach wie vor der häufigste Weg – zumindest in der deutschen Schweiz.

Doch die Berufslehre kämpft bei zwei wachsenden Elterngruppen zum Teil mit Imageproblemen. Gewisse Akademiker neigen dazu, die Berufslehre vor allem den Kindern ihrer Nachbarn zu empfehlen, die eigenen Kinder aber aus Prestigegründen lieber im Gymnasium zu sehen. Und manche Ausländer kennen die Berufslehre aus ihren Herkunftsländern nicht und mögen diesen Bildungsweg vor allem als Option für «Verlierer» sehen.

Sprung zwischen 15 und 18

Eine Auswertung von zwei Forscherinnen der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung in Zollikofen und der Universität Zürich lässt nun mutmassen, dass die Berufslehre bei den Jugendlichen in der Tendenz etwas auslöst, was das Gymnasium nicht schafft: einen Motivationsschub. Die Studie erscheint diesen Juli in der «Schweizerischen Zeitschrift für Soziologie». Die Forscherinnen untersuchten auf Basis von Daten der schweizerischen Jugendbefragung Cocon, wie sich die für den Berufserfolg wichtigen überfachlichen Kompetenzen Anstrengungsbereitschaft, Willenskraft und Beharrlichkeit zwischen dem Alter 15 und 21 je nach Ausbildungstyp entwickeln. Vereinfacht lassen sich diese Kompetenzen unter dem Titel «Lern- und Leistungsmotivation» zusammenfassen.

Die Forscherinnen wollten die Bedeutung des Ausbildungstyps für die untersuchten Kompetenzen herausschälen und bereinigten deshalb die Rohdaten der Befragungen um andere potenzielle Einflussfaktoren. Bereinigt wurden Unterschiede bei kognitiven Fähigkeiten und Geschlecht sowie beim Bildungsstand der Eltern. So bereinigt, gab es im Alter 15 keine grossen Motivationsdifferenzen zwischen den Gruppen, die sich später nach Ausbildungstyp unterschieden. Zum Teil wiesen die späteren Mittelschüler im Alter 15 höhere Motivationswerte aus, doch die Differenzen waren statistisch nicht signifikant.

Das änderte sich deutlich im Alter 18. Die Jugendlichen in der Berufslehre machten im Durchschnitt einen Sprung in Sachen Lern- und Leistungsmotivation, während bei den Gymnasiasten keine Fortschritte sichtbar waren. Die Jugendlichen in einer schulischen Berufsausbildung lagen zwischen diesen beiden Gruppen. Die Grafik zeigt die Entwicklung in Sachen Anstrengungsbereitschaft. Auf einer Skala von 1 bis 6 wiesen die Lehrlinge im Alter 18 im Mittel einen Wert von gut 4,7 aus, was knapp 0,8 Punkte über dem Durchschnitt bei den Mittelschülern lag. Ein Gefühl für die Differenz liefert der Vergleich mit Schulnoten auf der gleichen Skala von 1 bis 6. Bei den zwei anderen untersuchten Kriterien zeigte sich das gleiche Grundbild, wenn auch mit kleineren Differenzen (0,5 bzw. 0,3 Indexpunkte).

Die genannten Zahlen sind angesichts der Unschärfen in der Methodik nicht auf die Goldwaage zu legen. Man kann sich zum Beispiel fragen, wie zuverlässig die Selbsteinschätzungen der Jugendlichen sind. Doch die erheblichen Differenzen in der Entwicklung zwischen Alter 15 und Alter 18 je nach Bildungstyp sind bemerkenswert und bestätigen viele anekdotische Hinweise auf den relativ raschen Reifeprozess von Lehrlingen. Die Forscherinnen werten die Unterschiede in den Motivationsverläufen ab Alter 15 als «ausgesprochen deutlich».

Viele Lehrabbrecher

Die Mutmassungen der Autorinnen über die Ursachen der Unterschiede lassen sich etwa so zusammenfassen: Mittelschüler sind im Vergleich zu Lehrlingen stärker fremdbestimmt und praxisfern, Lehrlinge haben eine grössere Autonomie und Eigenverantwortung. Die Forscherinnen mutmassen aber auch, dass Mittelschüler nach ihrem Schulabschluss aufholen – spätestens nach dem Eintritt in die Arbeitswelt. Ein Teil des Rückstands ist laut den Auswertungen bis Alter 21 aufgeholt, die spätere Entwicklung war nicht Gegenstand dieser Studie.

Hinter Durchschnittswerten verstecken sich fast naturgemäss grosse Unterschiede. In der Praxis kämpfen denn auch viele Lehrlinge mit Problemen. So wird zum Beispiel gemäss Daten der Bundesstatistiker über die Einsteiger des Jahres 2016 jede fünfte Lehre abgebrochen; die Bandbreite der Abbruchquoten reichte je nach Beruf von 10 bis 33 Prozent. Im Mittel hatten bis 2020 vier Fünftel der Abbrecher wieder eine neue Lehre begonnen.

Motivation mal Kompetenz

Die Lern- und Leistungsmotivation ist nebst der Fachkompetenz und der Sozialkompetenz ein zentraler Faktor für den beruflichen Erfolg. Es brauche beides, sagt eine der Forscherinnen im Gespräch: Kompetenzen und Motivation. Man mag die Sache vereinfacht wie eine Multiplikation sehen: Ohne Motivation nützen die grössten Kompetenzen wenig, und ohne Kompetenzen nützt die grösste Motivation wenig.

In der Gesamtbetrachtung zum Berufserfolg ist die Berufslehre vielversprechend: Sie bietet mindestens so gute Chancen wie das Gymnasium, wie 2021 eine andere Studie der Hochschule für Berufsbildung auf Basis von Datensätzen der letzten zwanzig Jahre zu Erwerbstätigkeit, Arbeitslosigkeit, Löhnen und Kaderpräsenz zeigte. Klar ist laut den Daten aber auch, dass für die Berufslehre das Gleiche gilt wie für das Gymnasium: Die besten Chancen hat, wer nach dem Abschluss die offenen Fortbildungswege nutzt. Zwei Untersuchungen von 2020 haben gezeigt, dass es dabei erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufslehren gibt. Bei Absolventen von Berufslehren mit relativ geringem schulischem Gewicht gibt es im Vergleich zu Lehren wie Informatik oder KV selbst bei ähnlicher Ausgangslage weniger Übertritte auf höhere Bildungswege.

Hansueli Schöchli, «Neue Zürcher Zeitung»

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