Die Berufslehre muss aufgewertet werden – denn nicht alle Schüler passen ins Gymnasium Die Berufslehre verliert an Bedeutung. Gefragt sind Ansätze, die spezifisch die Generation Z ansprechen. Höhere Lehrlingslöhne werden das Problem nicht lösen.

Die Berufslehre verliert an Bedeutung. Gefragt sind Ansätze, die spezifisch die Generation Z ansprechen. Höhere Lehrlingslöhne werden das Problem nicht lösen.

(Bild: ThisisEngineering RAEng auf Unsplash)

Die einen werben mit grossen Versprechungen: «Mit uns schaffst du den Sprung ans Gymi!» Andere mit Frühbucherrabatten. Und wieder andere mit schwindelerregenden Erfolgsquoten. Die schiere Masse an Vorbereitungskursen für die Prüfung für das Gymnasium im Kanton Zürich lässt erahnen: Hier gibt es etwas zu holen. Kommerzielle Angebote zur Vorbereitung auf die Gymiprüfung boomen.

Eltern schicken ihre Kinder für Tausende Franken am Mittwochnachmittag zum Büffeln. Sie scheinen zu glauben: Nur wer es ans Gymnasium schafft, der reüssiert später im Leben.

Im Kanton Zürich ist die gymnasiale Maturitätsquote in den letzten acht Jahren wohl auch deshalb um zwei Prozent gestiegen. Zwar liegt sie mit zwanzig Prozent im Schweizer Durchschnitt – doch in einzelnen Gemeinden ist ein regelrechter Gymi-Hype zu spüren. So macht etwa an der Zürcher Goldküste fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler eine gymnasiale Matur.

Manche Eltern trimmen auch jene Kinder mit unzähligen Nachhilfestunden auf die Gymi-Schiene, die dort gar nicht hinpassen. Dabei gäbe es eine Alternative: die Berufslehre.

In der Schweiz macht zwar nach wie vor die Mehrheit aller Jugendlichen eine Lehre, doch der Anteil sinkt: 1990 absolvierten 75 Prozent der Jugendlichen eine Lehre, 2021 waren es laut dem Bundesamt für Statistik noch 65 Prozent. Die Lehre verliert an Attraktivität. Zu Unrecht.

Mehr Ferien für Lehrlinge

Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels zeigt sich, wie abhängig die Schweizer Wirtschaft von den Lehrlingen ist. Es fehlt zurzeit unter anderen an Pflegepersonal, Informatikern und Handwerkern.

Wer will, dass Jugendliche wieder häufiger den Weg der Berufslehre einschlagen, der muss sich fragen, weshalb die Lehrlingsquote in den letzten Jahren gesunken ist.

Vollzeit arbeiten, fünf Wochen Ferien, keine freien Nachmittage. Der Wechsel von der Schule ins Berufsleben bedeutet für die meist 15-jährigen Erst-Lehrjahr-Stifte eine immense Veränderung. Viele Jugendliche schreckt der Gedanke daran ab. Lieber gehen sie weiter in die Schule, sie wählen den Weg, den sie bereits kennen.

Wie kann diesen Schülerinnen und Schülern die Lehre schmackhaft gemacht werden? Die Schweizer Jungsozialisten (Juso) haben kürzlich einen Vorschlag präsentiert: Sie forderten einen Mindestlohn von 1000 Franken für Lehrlinge.

Doch damit politisieren die Juso an den Bedürfnissen der meisten Jugendlichen vorbei. So zeigen Befragungen der Generation Z, dass diese nur bedingt auf finanzielle Anreize anspricht. Viel wichtiger ist den Jugendlichen, Zeit für Hobbys, Familie und Freunde zu haben. Zudem dürfte ein staatlich festgesetzter Mindestlohn dem dualen Bildungssystem schaden. Einige Lehrbetriebe würden unter diesen Bedingungen künftig wohl keine Lehrlinge mehr ausbilden. Es würden Lehrstellen gestrichen.

Einen interessanten Gedanken zum Thema hat kürzlich der Zürcher FDP-Stadtrat und Schulvorsteher Filippo Leutenegger formuliert. In einem Gastbeitrag forderte er: «Die Lehre sollte unbedingt aufgewertet werden mit zum Beispiel acht bis zehn Wochen Ferien.» Damit trifft Leutenegger einen für die Jugendlichen wichtigen Punkt. Während die Gymnasiasten zwölf Wochen Ferien haben, müssen sich Lernende mit fünf Wochen begnügen. Sie haben also nicht einmal halb so lange Ferien. Es ist eine unnötig grosse Diskrepanz.

Hätten Lernende etwa wie von Leutenegger empfohlen acht Wochen Ferien, würde das die Attraktivität der Lehre steigern. Gleichzeitig wären die zusätzlichen Ferien für die Betriebe im Gegensatz zum Mindestlohn eine verschmerzbare Veränderung: Sie verzichten drei Wochen mehr pro Jahr auf den Lehrling, dafür ist dieser umso motivierter.

Doch es reicht nicht, die Jugendlichen für die Lehre zu gewinnen. Es braucht auch überzeugte Eltern. Ihre Einstellung beeinflusst die Berufswahl der Kinder stark. Eltern werden mit zusätzlichen Ferienwochen für ihre Kinder kaum zu begeistern sein. Es sind deshalb weitere Ideen gefragt, solche, die auch skeptische Eltern von der Lehre überzeugen. Eine Möglichkeit wäre, die Ausbildungstitel zu internationalisieren.

Wie das funktioniert, haben Deutschland und Österreich vorgemacht: Sie haben 2020 die Titel «Professional Bachelor» und «Professional Master» eingeführt. Diese können nun für Fortbildungsabschlüsse vergeben werden.

In der Schweiz tragen Absolventen von höheren Fachschulen den Zusatz HF anstatt eines Bachelor- oder Master-Titels. Der Zusatz HF ist bei internationalen Bewerbungen und auch bei Geschäftsbeziehungen mit ausländischen Firmen quasi wertlos, weil ihn niemand kennt. Eine Absolventin oder ein Absolvent der höheren Fachschule muss im Berufsleben ständig erklären, was ihr oder sein Titel in der Schweiz wert ist.

Die Einführung internationaler Titel würde dieses Problem lösen und die Wertigkeit der Berufsbildung in der Schweiz verdeutlichen. Das dürften früher oder später auch Hochschulen und Universitäten einsehen, die sich derzeit noch gegen eine Einführung des Begriffs «Professional Bachelor» wehren. Sie befürchten einen Bedeutungsverlust des Bachelor-Titels. Tatsächlich wäre die Einführung des neuen Titels aber lediglich eine Anpassung an die internationale Realität.

Es ist in dieser Hinsicht zu begrüssen, dass das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation an einer Variante arbeitet, die alle Beteiligten überzeugen soll. Ein möglicher Kompromiss wäre etwa, dass der Bachelor-Titel nur in der internationalen Zusammenarbeit benutzt werden kann oder nicht als Titel, sondern lediglich als Zusatz.

Gefordert ist neben der Politik auch die Wirtschaft. Lehrbetriebe müssen attraktive Arbeitsbedingungen schaffen, um Jugendliche für eine Lehre zu begeistern. Diese wollen eine klare Perspektive inklusive Entwicklungsmöglichkeiten. Sie wünschen sich flexible Arbeitszeiten und Orte. Und sie wollen Arbeiten ausführen, die sinnstiftend sind. Dem müssen Unternehmen Rechnung tragen. Den Lehrling zum Kaffeekochen und Putzen zu verdonnern, ist längst nicht mehr zeitgemäss. Die Jugendlichen wollen ernst genommen werden.

Wichtig ist auch, dass attraktive ausländische Arbeitgeber in der Schweiz von Sinn und Zweck der Berufslehre überzeugt werden können. So sind etwa die amerikanischen Unternehmen Google, Meta (Facebook, Instagram, Whatsapp) und Co. für viele Jugendliche interessante Arbeitgeber, doch Lehrstellen werden in den Unternehmen nur wenige zur Verfügung gestellt.

Google beschäftigt zwar seit 2017 Lehrlinge. Doch mit jüngst 16 pro Jahrgang sind es gemessen an der Grösse des Unternehmens wenige, arbeiten in Zürich doch knapp 5000 Personen für Google. Ähnlich grosse Unternehmen in der Schweiz haben teilweise zehnmal so viele Lehrlinge.

Immerhin ist Google bestrebt, künftig noch mehr in die Lehre zu investieren. Anders ist die Situation bei Meta. Das Unternehmen bildet keine Lehrlinge aus, obwohl es in Zürich fast 300 Mitarbeiter beschäftigt.

Die amerikanischen Tech-Giganten suchen in der Schweiz erstklassige Arbeitskräfte – höchste Zeit, dass sie selbst mehr in deren Ausbildung investieren.

Sozialer Aufstieg dank Lehre

Wie wichtig die Berufslehre für die Schweizer Wirtschaft ist, zeigt die Statistik: Die Jugendarbeitslosigkeit ist genau in jenen Kantonen wie Genf und Tessin am höchsten, in denen prozentual am meisten Jugendliche ein Gymnasium besuchen und am wenigsten eine Lehre machen.

Trotzdem gibt es in der Schweiz immer wieder Kritik am dualen Bildungssystem. So wird etwa häufig bemängelt, in der Schweiz gebe es eine niedrige Bildungsmobilität, weil weniger Jugendliche das Gymnasium besuchten als in anderen Ländern. Häufig wird argumentiert: In der Schweiz sei es schwierig, als Kind von Nichtakademikern einen Tertiärabschluss zu erlangen.

Das stimmt zwar, doch dieser Fakt wird zu Unrecht als Kritik am dualen Bildungssystem benutzt. Denn häufig wird verkannt, dass Bildungsmobilität nicht mit Einkommensmobilität gleichgesetzt werden kann.

Eine Studie der Universität St. Gallen zeigte 2021, dass in der Schweiz die Einkommensmobilität sogar höher ist als in den stets als vorbildlich hervorgehobenen nordischen Ländern. Die Studie kam zum Schluss, dass immerhin fünf Prozent aller Kinder, die eine Lehre und dann eine weiterführende Ausbildung machen, in der Schweiz vom untersten Quintil der Einkommensverteilung in das oberste aufsteigen.

Der soziale Aufstieg ist in der Schweiz also nicht trotz, sondern dank der Lehre möglich – gerade weil es eine Alternative zum Gymnasium gibt. An guten Beispielen, dass eine Lehre einen hervorragenden Einstieg ins Berufsleben darstellt, mangelt es ebenfalls nicht: So absolvierte etwa der UBS-CEO Sergio Ermotti einst eine Banklehre. Altbundesrat Ueli Maurer und die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli machten das KV, der Globetrotter-CEO André Lüthi eine Bäcker-Konditor-Lehre und Markus Bernsteiner, Chef von Stadler Rail, eine Lehre als Mechaniker.

Claudia Rey, «Neue Zürcher Zeitung»

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