Die jungen Leute arbeiten nur noch Teilzeit? Dieser Mann lädt sich so viel wie möglich auf. Er sagt: «Du wirst erst besser, wenn es weh tut» Die Leistungsprinzipien von Matthias Müller, Präsident des Jungfreisinns.

Die Leistungsprinzipien von Matthias Müller, Präsident des Jungfreisinns.

«Wer Vollgas gibt, trägt den Staat. Etwas Sozialeres gibt es gar nicht»: Matthias Müller, Präsident der Schweizer Jungfreisinnigen. (Foto: Annick Ramp / NZZ)

Nur kurz aufwärmen auf dem Ergometer, und dann steuert Matthias Müller im Fitnessplus schon auf die schwersten Hanteln zu. Er trägt ein schwarzes Nike-Shirt, das sich über den Muskeln an den Oberarmen spannt, nimmt zwei 50-Kilo-Kurzhanteln, legt sich auf die Bank, beisst auf die Zähne und stemmt. Vorher hat er Muhammad Ali zitiert: «I only start counting when it starts hurting.» Für sich übersetzt er es so: «Was du sowieso kannst, zählt nicht. Du wirst erst besser, wenn es weh tut.» Er überträgt den Spruch von Ali auf sein ganzes Leben. Einmal, als er nach einer harten Hantelserie kurz aufschaut, sagt er: «Irgendwann spürst du jedes Kilo. Oben ist die Luft dünn.»

Im Fitness sieht Müller seine Prinzipien auf den Kern reduziert: «Fitness ist extrem ehrlich», sagt er, «Gewicht kann man nicht umverteilen, du musst es selbst stemmen. Es gilt das Leistungsprinzip.»

Das Fitnessplus ist kein moderner Wellnesstempel, es liegt hinter Zürich Oerlikon im Geschäftshaus Airgate, das noch die alten Swissair-Vibes versprüht. Müller steht hier auf einer schwarzen Matte neben einem Lüftungsrohr, von der Decke kommt unerbittliches Licht. Heute trainiert er Brust. Er stellt sich an einen Kabelzug und zieht und zieht.

Matthias Müller ist Präsident der Jungfreisinnigen in der Schweiz. Er war nicht immer dafür vorgesehen, er hat sich von aussen nach innen gearbeitet. Geboren 1992 in der Stadt Zürich, aber als Kind «zwangsversiedelt» nach Merenschwand im Kanton Aargau, wie er manchmal grinsend sagt, zieht es ihn in die Zentren der Leistungsgesellschaft: Das Studium der Rechtswissenschaften an der HSG in St. Gallen hat er sich mit Nebenjobs finanziert. Im Auslandsemester in Singapur hat er gesehen, dass das Licht in der Bibliothek auch nachts um drei Uhr noch brennt. Er hat dort mit Krafttraining begonnen, nicht langsam, sondern sofort sechs Mal in der Woche. Für seine Dissertation nahm er sich 230 Seiten vor, aber dann wurden es 594. Das Anwaltspraktikum hat er bei der grossen Wirtschaftskanzlei Homburger gemacht, im Prime Tower, dem höchsten Turm von Zürich. Die schriftliche Anwaltsprüfung hat er bestanden, die mündliche folgt noch. Aber er hat schon einen neuen Vertrag, der ab dem 1. September läuft, wieder bei Homburger.

Im Jungfreisinn führt er (ehrenamtlich) eine Initiative für ein höheres Rentenalter an, für die FDP Zürich tritt er auf einem aussichtsreichen Listenplatz zu den Nationalratswahlen im Herbst an. Und in die Ferien in die Südtürkei nimmt er nicht einen Krimi oder einen Roman mit, sondern ein Managementbuch, die Bibel und etwas von John Locke («Das ist politische Philosophie in Reinkultur, die Ihnen da eingeschenkt wird»).

Ist das nicht alles zu viel? Müller sagt: «Aus dem Individuum ist eine enorme Kraft zu schöpfen.»

«Gewicht kann man nicht umverteilen»: Matthias Müller, fotografiert beim Prime Tower in Zürich. (Foto: Annick Ramp / NZZ)

In den Medien ist seit Monaten zu lesen, die jungen Leute wollten nicht mehr richtig arbeiten: nur noch Teilzeit, lieber im Home-Office, am besten zugeschaltet aus den Bergen oder aus Bali. «Heute habe ich wieder irgendwo gelesen, die Hälfte der Gen-Z-ler wolle kündigen», sagt Müller, als wir in der Nähe des Prime Towers eine Bowl essen. «Das wäre nicht meins.»

Er will zum «wertschöpfenden Teil der Gesellschaft» gehören: «Wer Vollgas gibt, trägt den Staat. Etwas Sozialeres gibt es gar nicht.» Er hat nichts gegen freiwillige 50-Prozenter, «nur müssen wir diesen Leuten verklickern, dass der Staat sie im Vergleich zu den 100-Prozentern nicht im gleichen Mass mit Leistungen unterstützen kann, da sie ihn ja nur zur Hälfte mitfinanzieren». Dass die Arbeitswelt flexibler wird, findet er sehr gut. «Aber solange Chat-GPT noch keine Häuser baut, müssen wir selber ad Säck.» Er glaubt, dass es genug junge Leute gebe, die nicht einen Gang runter-, sondern einen hochschalten wollten: «In meiner Lebenswelt sehe ich viele, die leistungsbereit sind.» Im Internet mag «quiet quitting» trenden. Matthias Müller fängt erst an.

Wieso glaubt einer wie er – anders als andere seiner Generation – an die Verheissungen der Leistungsgesellschaft?

Nichtleistung rächt sich

Matthias Müller ist im freisinnigen Milieu ein Aufsteiger. Sein Vater arbeitet in einer Versicherung, seine Mutter ist aus Iran eingewandert (und lehrte ihre Kinder schon früh Französisch). Aber mit seiner Herkunft hält er sich nicht gross auf. Im Lebenslauf auf seiner Website gibt es keinen Hinweis auf Merenschwand, wo er aufgewachsen ist. Und die iranische Kultur findet er «wunderschön», aber «ich hatte nie gross das Verlangen, zu wissen, woher ich wirklich komme».

Neulich war er zu Gast im «Promitipp», einem Videoformat der früheren Skifreestylerin Mirjam Jäger. Dass sie ihn immer wieder auf seine «persischen Wurzeln» ansprechen wollte, hat ihn ein bisschen irritiert. «Ich hausiere nicht mit meiner Herkunft. Ich bin jetzt hier, die Zukunft ist offen. Alle anderen gehen vorwärts – was bringt es, wenn ich mich nach hinten orientiere?»

Die Geschichte aus seinem Leben, die er am häufigsten erzählt hat, ist eine klassische Heldenreise. In der Sekundarschule verpasste Müller den geforderten Notenschnitt, weil er zeitweise zehn Stunden am Tag in den Computer statt in die Schulbücher starrte. Er liebte «Age of Empires», ein Strategiespiel, und er stieg in der virtuellen Welt zu einem sehr gefragten Monk (einer Art Retter) auf, er kannte sich aus in längst untergegangenen Reichen, aber das brachte ihm in der Realität nicht viel. Er verpasste das Gymnasium, und er sah sich erstmals im Leben in seiner Freiheit beschnitten. Er musste einen Umweg machen, aber mit jeder Lernstunde näherte er sich der HSG. Das war der Moment, in dem er merkte: «Nichtleistung rächt sich. Und Leistung lohnt sich.» Die Freiheit war wiedererlangt. Das ist die Moral der Geschichte – erzählt vom Helden der Geschichte selbst.

Er kommt zum Schluss, dass das Aufstiegsversprechen immer noch gilt in der Schweiz. Wer in der Sekundarschule den Notenschnitt verpasst, kann doch noch dissertieren, und wer sich für die «Arena» interessiert, kann sie schon als Junior nicht nur schauen, sondern daran teilnehmen – wenn er sich anstrengt. Es ist wohl kein Zufall, dass es oft Aufsteiger wie er sind, die unbedingt nach ganz oben wollen: Sie denken in der Vertikale, wo andere, längst weiter oben angekommen, auf der Horizontalen den Sinn suchen.

Stillstand, Rückschritt

Woher er seinen Leistungswillen hat? «Am besten hinterfragst du dich gar nicht zu fest», sagt er. Vielleicht prescht er auch deshalb vorwärts: damit ihn die Fragen nicht einholen. Er ist der, der sich nicht überlegt, woher er kommt, sondern wohin er geht. Und dafür unermüdlich aus allen Quellen schöpft.

Er merkt sich nicht nur Muhammad-Ali- und alle möglichen anderen Zitate. Er lässt sich von der katholischen Soziallehre inspirieren (im Bundeshaus würde er sich zuerst für Obdachlose einsetzen wollen, sagt er), er zieht die alten Griechen als rhetorische Vorbilder heran. Wie andere Jungpolitiker ist er immer auch ein bisschen Politiker-Darsteller: Er sagt ständig «verschtönd Si» oder «wüssed Si», und er sagt unironisch Sätze wie «Stillstand ist Rückschritt» oder «Was sachlich gerechtfertigt ist, kann politisch nicht falsch sein». Er trägt eine Tommy-Hilfiger-Tasche, Bally-Schuhe und ein Poloshirt. Er kommt daher wie der Nationalrat, der er erst noch werden will.

Verwaltungsrat Müller

Matthias Müller sitzt in zwei Verwaltungsräten von Startups und berät weitere Unternehmen in Rechtsfragen. Oder wie er es formuliert: «Ich helfe ihnen auf ihrem Weg zum Erfolg.» Für die Bowlmanufaktur Kaisin (und ihren Mitgründer Andri Silberschmidt, FDP-Nationalrat und -Role-Model) macht er ebenso Verträge wie für ein preisgekröntes Startup namens Upgrain, das Biertreber unter anderem für Kraftsportler zu Protein wiederverwertet. Müller hat den Gründer an der HSG kennengelernt.

An einem frühen Sommermorgen fährt er deshalb nach Appenzell in die Brauerei Locher, wo Upgrain eine sogenannte Upcycling-Anlage installiert hat. Im Zug trinkt er einen Proteindrink und verdrückt ein Trutensandwich. Und spricht über die Renteninitiative, eine geplante Erhöhung des Rentenalters: «Die Ausgangslage ist schwierig, aber das Finanzierungsproblem ist erkannt. Der Bundesrat wird mittelfristig nicht darum herumkommen.»

Er kommt als bekannte Politikgrösse und als Startup-Verwaltungsrat in Appenzell an. Vincent Vida, der Gründer, holt ihn mit dem Auto ab.

Dann besichtigen sie die Anlage, und Vincent übernimmt. Müller hört jetzt aufmerksam zu, manchmal schaut er beeindruckt rüber zu ihm. Als sie mit dem Anwalt der Brauerei reden, führt der das Wort. «Hast du die Verträge aufgesetzt?», fragt er so, wie ein Chef fragt. Müller nickt. Dann erklärt Vincent, was es an diesem Tag zu bearbeiten gibt. «Matt hat ein sehr breites Wissen», sagt Vincent, als sie in dem kleinen Einfamilienhaus in Appenzell sitzen, in dem das Startup gerade loslegt.

Dann beginnt die Arbeit. Müller muss neue Verträge aufsetzen. Und bald muss er auch die mündliche Anwaltsprüfung bestehen und sich bei Homburger bewähren, er muss auf der Nationalratsliste der FDP Zürich zwei Plätze gutmachen, um gewählt zu werden. Im Krafttraining will er von den 50-Kilo- zu den 55-Kilo-Hanteln wechseln. Er war schon einmal dort, dann hat er ein bisschen nachgelassen. Jetzt arbeitet er sich wieder hoch.

Samuel Tanner, «Neue Zürcher Zeitung»

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