Die Tücken der Personenfreizügigkeit: Die EU verliert Fachkräfte an die Schweiz und will nun die Einwanderung aus Drittstaaten fördern Die Klagen über einen Mangel an Fachkräften in der EU klingen wie ein Echo der Diskussionen in der Schweiz. Die EU-Kommission will mit einem Massnahmenpaket mehr Einwanderer anlocken – unter anderem mit einer Stellenplattform für Erwerbspersonen aus Drittstaaten.

Die Klagen über einen Mangel an Fachkräften in der EU klingen wie ein Echo der Diskussionen in der Schweiz. Die EU-Kommission will mit einem Massnahmenpaket mehr Einwanderer anlocken – unter anderem mit einer Stellenplattform für Erwerbspersonen aus Drittstaaten.

Die EU-Kommission will eine Online-Plattform für Stellensuchende aus Drittstaaten schaffen. So sollen fehlende Arbeitskräfte wie Busfahrer gefunden werden. (Bild: Marjan Blan auf Unsplash)

Kann es gleichzeitig zu kalt und zu heiss sein? An diese Metapher muss man bei den europäischen Diskussionen um die Einwanderung oft denken. Dies gilt für die Schweiz wie für die EU. Zum einen sorgt die Zuwanderung für Skepsis, zum andern klagen Arbeitgeber und Behörden über einen Mangel an Fachkräften, den man durch Einwanderer lindern will. Dieser Gegensatz hat zum Teil mit der gängigen Vermischung der Flüchtlingsdebatte mit der Arbeitskräfteeinwanderung zu tun. Flüchtlinge bringen oft nicht jene Qualifikationen mit, die in der Schweiz oder in der EU stark gefragt sind.

Echo der Schweizer Debatte

Losgelöst von der Flüchtlingsdiskussion klingen die Klagen in der EU über den Fachkräftemangel wie ein Echo der Schweizer Diskussionen. Diese Knappheit «ist ein ernsthaftes Problem für die Mehrheit der Klein- und Mittelbetriebe in der EU», betonte die EU-Kommission diese Woche. Basis der Aussage war die jüngste Eurobarometer-Umfrage bei insgesamt rund 18 000 Betrieben vor allem in der EU, aber auch in einigen Drittstaaten wie der Schweiz.

Die Schwierigkeiten beim Suchen von passenden Arbeitskräften war das mit Abstand meistgenannte Problem der befragten Betriebe. In der EU wie in der Schweiz zählten je 53 bis 54 Prozent der befragten Klein- und Mittelbetriebe den Mangel an passenden Arbeitskräften zu ihren grössten Problemen. Bei den Grossfirmen meldete sogar noch ein höherer Anteil Schwierigkeiten in der Personalrekrutierung als bei den KMU.

Gleichzeitig gibt es auch Arbeitslosigkeit, doch die Arbeitslosenquoten sind derzeit relativ tief – mit 6 Prozent in der EU und 2 Prozent in der Schweiz. Die Kombination von Arbeitskräftemangel und Arbeitslosigkeit erklärt sich vor allem durch Diskrepanzen zwischen Stellenprofilen und Qualifikationen von Stellensuchenden sowie durch den Zeitbedarf für Arbeitslose und Arbeitgeber bei ihrer Suche nach einer passenden Lösung.

Die stärkere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials reiche nicht, es brauche auch Einwanderung: Diese Botschaft verkünden Behörden und Arbeitgeber in der EU wie in der Schweiz. Hüben wie drüben wird vorgerechnet, dass nur schon aus demografischen Gründen wegen der kommenden Pensionierung der zahlenmässig besonders starken Jahrgänge künftig viele zusätzliche Arbeitskräfte nötig seien.

Das Abkommen der EU mit der Schweiz zum gegenseitig freien Zugang von Erwerbspersonen zum Arbeitsmarkt (Personenfreizügigkeit) vergrössert den Mangel in der EU noch. In den letzten Jahren belief sich die Nettoeinwanderung aus der EU in die Schweiz jeweils auf etwa 30 000 bis 60 000 Personen; über 80 Prozent der 15- bis 64-jährigen EU-Personen in der Schweiz sind erwerbstätig.

EU-weite Stellenplattform

Die EU will nun mehr Arbeitskräfte aus Drittstaaten anlocken. Gleich drei EU-Kommissare haben am Mittwoch in Brüssel ein Massnahmenpaket zur Förderung der Einwanderung von Fachkräften präsentiert. Die Massnahmen enthalten keine neuen Befehle für die Mitgliedländer, sondern «nur» Empfehlungen und Hilfsmittel. Dazu zählen unter anderem Empfehlungen zur einfacheren Anerkennung von Berufsqualifikationen aus Drittstaaten.

Die EU-Kommission will zudem eine Online-Stellenplattform spezifisch für Stellensuchende aus Drittstaaten schaffen. Diese soll ähnlich aufgebaut sein wie die existierende Plattform Eures für EU-Stellensuchende. Auf Eures sind derzeit rund 4 Millionen offene Stellen und 1 Million Lebensläufe von Stellensuchenden registriert.

42 Mangelberufe

Die neue Vermittlungsplattform soll 42 Berufe enthalten, in welchen die EU-Kommission das Arbeitskräfteangebot als «EU-weit knapp» identifiziert hat. Diese Liste kann sich, je nach Entwicklung, auch verändern. Zu den derzeit genannten Mangelberufen gehören nicht nur die üblichen Verdächtigen wie etwa Softwareentwickler, diverse Ingenieurtypen und medizinisches Personal, sondern zum Beispiel auch Köche, Buchhalter, Dachdecker, Busfahrer und Lastwagen-Chauffeure.

Die Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Steuerung der Einwanderung aus Drittstaaten bleiben erhalten, wie die zuständigen EU-Kommissare am Mittwoch vor den Medien versicherten. Das Mitmachen bei der geplanten neuen Plattform sei für die Mitgliedstaaten freiwillig. Und wer mitmache, könne auch zusätzliche Berufe aufnehmen oder Berufe ausschliessen.

Zuhanden der Einwanderungskritiker sagten die EU-Kommissare, dass die Förderung der legalen Immigration die illegale Zuwanderung reduzieren solle. Ob das mehr als Wunschdenken ist, bleibt abzuwarten. Bei den Arbeitgebern stossen die jüngsten Vorschläge auf weit offene Ohren. Die geplante Vermittlungsplattform könne einen entscheidenden Beitrag zur Steigerung der Attraktivität der EU für qualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt sein, betonte der europäische Wirtschaftsdachverband Business Europe.

Laut der EU-Kommission waren bisher beim Anlocken qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte Drittstaaten wie Australien, Kanada, Neuseeland und die USA erfolgreicher. Allerdings können dabei nebst bürokratischen Hürden auch sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche Gründe mitspielen, welche die EU nicht so leicht verändern kann.

Hansueli Schöckli, «Neue Zürcher Zeitung»

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