Eine Angstkultur kann grossen Schaden anrichten – weshalb Firmen umdenken Schweizer Unternehmen setzen vermehrt auf das Konzept der psychologischen Sicherheit: Teams werden dadurch erfolgreicher.

Schweizer Unternehmen setzen vermehrt auf das Konzept der psychologischen Sicherheit: Teams werden dadurch erfolgreicher.

 

Arbeitsplatz eines Google-Mitarbeiters: Der Technologiekonzern kommt zum Schluss, dass für die Teamleistung vor allem die ungeschriebenen Gesetze im Unternehmen ausschlaggebend sind. (Bild: Goran Basic / NZZ)

So mancher Skandal hätte verhindert werden können, wenn die Firmenleitung die Bedenken von Mitarbeitenden ernst genommen und rechtzeitig aus Fehlern gelernt hätte. Ob es sich um die Affären und Finanzdebakel bei der Credit Suisse, das «Dieselgate» bei Volkswagen oder die Fälle von sexueller Belästigung bei Uber handelt – Fehlleistungen gehen oft mit einer Angstkultur oder einer Kultur des Schweigens einher.

In der heutigen komplexen, sich rasch wandelnden Arbeitswelt denken immer mehr Firmen um und setzen vermehrt auf das Gegenkonzept: psychologische Sicherheit. Anstatt möglichst viel Druck zu erzeugen, um die Mitarbeitenden zu Höchstleistungen anzuspornen, wollen die Unternehmen eine sichere Arbeitsatmosphäre schaffen, in der sich die Mitarbeitenden wohl- und aufgehoben fühlen.

Mehr Fehler offenlegen

Ist die psychologische Sicherheit in einem Unternehmen hoch, zeigen sich die Angestellten verletzlich und gehen ohne Angst Risiken in ihren Beziehungen zu den Vorgesetzten sowie den Kolleginnen und Kollegen ein. Sie fragen um Hilfe, üben Lob und Kritik, bringen Vorschläge ein und wagen Neues, ohne negative Konsequenzen für ihren Status und ihre Karriereaussichten im Unternehmen befürchten zu müssen.

Als Management-Thema wurde psychologische Sicherheit in den 1990er Jahren bekannt, vor allem durch die Forschungsarbeiten von Amy Edmondson, Professorin für Leadership and Management an der Harvard Business School, die gegenwärtig die Thinkers-50-Liste der wichtigsten Management-Vordenkerinnen und -Vordenker anführt. In zahlreichen Unternehmen herrsche nach wie vor eine inoffizielle Kultur des Schweigens, konstatiert Edmondson. Die Angestellten hielten nicht nur schlechte Nachrichten zurück, sondern auch innovative Ideen. Unter diesen Umständen finde das Lernen im Team kaum statt.

Edmondson konnte in ihren Studien nachweisen, dass psychologische Sicherheit die Lernfähigkeit von Teams fördert. Ihre These, dass Teams mit einer hohen psychologischen Sicherheit weniger Fehler machten als andere, bestätigte sich allerdings nicht. In Teams, in denen sich die Mitglieder sicher fühlten, gab es sogar mehr Fehler, was jedoch daran lag, dass die Angestellten wahrgenommene Fehler öfter auf den Tisch bringen konnten. Das Team sah dies als Anlass, daraus zu lernen.

Google sorgt für Aufsehen

Zahlreiche weitere Studien geben deutliche Hinweise darauf, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der psychologischen Sicherheit und der Innovations- und Leistungsfähigkeit von Teams besteht. Für Aufsehen sorgte in diesem Zusammenhang vor allem die «Aristoteles»-Studie von Google aus dem Jahr 2016. Der Technologiekonzern untersuchte 180 Teams aus allen Funktionsbereichen und wollte herausfinden, was ein Team erfolgreich macht.

Überraschenderweise spielte für den Erfolg nicht die personelle Zusammensetzung die wichtigste Rolle. Laut der Erhebung sind für die Teamleistung vor allem die sozialen Normen und die ungeschriebenen Gesetze ausschlaggebend, allen voran die psychologische Sicherheit. So sind Teams erfolgreicher, wenn die Sprechzeiten der Mitglieder ausgeglichen sind und die Mitarbeitenden emotional angemessen aufeinander reagieren.

«Psychologische Sicherheit ist für Firmen die entscheidende Grundlage, um das Potenzial gemischter Teams und die individuellen Stärken der Mitarbeitenden wirksam und produktiv werden zu lassen», sagt Joachim Maier, Leiter des Weiterbildungskurses «Psychologische Sicherheit als Führungsaufgabe» am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) der ZHAW. Mitarbeitende würden Verantwortung übernehmen und gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten, wenn sie sich genügend sicher fühlten. «Wer sich hingegen laufend schützen und verteidigen muss, setzt die dazu aufgewendete Energie nicht ein, um Lösungen für komplexe Probleme zu finden», sagt Maier.

Bei seiner Arbeit mit Teams legt er daher den Fokus vor allem auf die grössten Energiefresser und Kraftquellen aus Sicht der einzelnen Mitarbeitenden sowie auf die Bearbeitung von Spannungen im Team. Sind die grössten Energiefresser und Kraftquellen identifiziert, werden die Ursachen der sozialen Spannungen im Team gemeinsam interpretiert: «In diesem Klärungsprozess wird die Gruppe gestärkt, und Konflikte lassen sich künftig frühzeitig entschärfen.»

Vielredner bremsen

Maier hat beispielsweise bei der Suva mit Workshops für Kaderangestellte Reorganisationen unterstützt. Die Suva-Managerinnen und -Manager sammeln seither Erfahrungen im Arbeitsalltag. Jetzt sei allen bewusst, dass Ängste im Veränderungsprozess nicht verharmlost würden, sagt Kilian Ritler, Leiter der Rechtsabteilung. Wichtig sei beispielsweise, dass er als Vorgesetzter den Puls in den einzelnen Regionen fühle und Informationen aus erster Hand erhalte.

In den Sitzungen wirkt Ritler darauf hin, dass die Redeanteile der Mitarbeitenden gleichmässiger verteilt werden: «Ich bremse Vielredner und beziehe zurückhaltendere Mitarbeitende stärker ein.» In Video-Calls gilt die Devise, dass alle ihre Kamera eingeschaltet haben müssen, wenn sie sich zu Wort melden.

Kritische Mitarbeiter ermutigen

Sandra Tschümperlin, Bereichsleiterin Heilkosten Region Ost, achtet in den Sitzungen verstärkt auf die Mimik der Mitarbeitenden, erkundigt sich nach ihren Meinungen zum Thema und ermutigt vor allem auch kritische Teamkolleginnen und Teamkollegen, sich einzubringen. Wichtige Beschlüsse, wie etwa die Zusammenarbeit in der Region, sollten von allen mitgetragen werden, sagt sie.

Damit sich die Mitarbeitenden über alle Standorte hinweg besser kennenlernen, greifen sie neuerdings zum Telefonhörer, anstatt E-Mails zu schreiben. «Wenn man etwas miteinander bespricht, kommt man zu besseren Lösungen und entwickelt mehr Verständnis für die andere Person», sagt Tschümperlin. Das Ziel sei, dass die Angestellten ihre Stärken besser einbrächten und einander bei komplexen Fällen unterstützten.

In vielen anderen Schweizer Firmen hat psychologische Sicherheit ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Bereichen und Teams im Unternehmen dürften allerdings erheblich sein. «Es hängt stark von der Führungskraft ab, wie psychologische Sicherheit gelebt wird», sagt Maier vom IAP. An folgenden Verhaltensweisen können sich Vorgesetzte orientieren:

Tipps führ Führungskräfte

  • Verantwortung übernehmen: Führungskräfte sind massgeblich dafür verantwortlich, dass sich die Angestellten sicher fühlen und sich einbringen. Sie können die Rahmenbedingungen (etwa an Sitzungen) setzen und eine sichere Arbeitsatmosphäre fördern.
  • Vorbild sein: Vorgesetzte prägen das Arbeitsklima wesentlich mit ihrem Verhalten. Sie gehen mit gutem Beispiel voran, etwa wenn sie sich selbst verletzlich zeigen, Risiken in den Beziehungen eingehen, Fehler zugeben und Misserfolge als Chancen sehen.
  • Seine Mitarbeitenden kennen: Chefs wirken darauf hin, dass sich die Teammitglieder besser kennenlernen, und sprechen selber über persönliche Dinge, die sie jenseits des Arbeitsalltags beschäftigen. Kennen sich Kolleginnen und Kollegen besser, ist es einfacher, heikle Themen anzusprechen.
  • Feedback geben und Kritik begrüssen: Teamleiter geben konstruktives Feedback, das nicht auf die Person abzielt. Es geht um die Sache oder das Verhalten des Mitarbeitenden. Chefs begrüssen ehrliches und kritisches Feedback – gerade auch, wenn gegen ihre eigenen Interessen argumentiert wird.
  • Gemeinsam Lösungen finden: Vorgesetzte entscheiden nicht im Alleingang. Entscheide, die vom Team mitgetragen werden, kommen zwar normalerweise weniger rasch zustande, sind dafür aber nachhaltiger.
  • Wissen im Team teilen und offene Fragen stellen: Führungskräfte sorgen dafür, dass alle den gleichen Informationsstand haben. Dies schafft Transparenz und ist eine gute Grundlage für Diskussionen. Diese sind umso ergiebiger, wenn offene, lösungsorientierte Fragen gestellt werden.
  • Spannungen reduzieren: Vorgesetzte beugen Konflikten vor, indem sie die Ursachen von Spannungen im Team wahrnehmen und ihren eigenen Beitrag zur Gruppendynamik hinterfragen.

«Jede Führungskraft kann diese Verhaltensweisen erlernen», sagt Thomas Wetterwald, Leiter IT und Services bei Stadtwerk Winterthur. Früher wunderte er sich, warum seine logischen und nachvollziehbaren Lösungsvorschläge bei seinen Mitarbeitenden zuweilen Irritationen auslösten und er mit seinem direkten und wohlgemeinten Führungsstil trotzdem aneckte. Nachdem er sich im Rahmen seiner Masterarbeit vertieft mit dem Thema psychologische Sicherheit auseinandergesetzt hatte, beherzigte er die Erkenntnisse und entwickelte ein anderes Führungsverständnis. «Das Wichtigste ist, dass die Führungskraft Kritik nicht persönlich nimmt und das gegenseitige Feedback-Verhalten aktiv einfordert», sagt er.

Im Rahmen seiner Untersuchungen für die Masterarbeit ist Wetterwald zu dem Schluss gekommen, dass sich die Investitionen in die psychologische Sicherheit bei Stadtwerk Winterthur auszahlen: «Sie stärken nachweislich das Vertrauen und das gegenseitige Verständnis, die Mitarbeitenden übernehmen Verantwortung und lernen laufend dazu.» Eine solche Lernkultur sei zentral für ein Energieversorgungsunternehmen, auf welches eine herausfordernde Zukunft warte.

Verletzliche Chefs

Ähnlich wie die Themen Agilität und Resilienz ist psychologische Sicherheit vor allem bei Firmen gefragt, die einen Wandel anstreben. Wie Führungskräfte mit Veränderungen, Fehlern und Irrtümern umgingen, sei entscheidend für die Beteiligung der Mitarbeitenden im Veränderungsprozess, heisst es etwa beim Versicherer Axa. Wenn sich Angestellte sicher fühlten, brächten sie sich auch aktiv ein – dies habe man immer wieder beobachtet.

Ikea Schweiz schreibt, je mehr psychologische Sicherheit ein Unternehmen biete, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Geschäft und die Mitarbeitenden positiv entwickelten. Das Unternehmen werde innovativer, kreativer und widerstandsfähiger.

Psychologische Sicherheit hat vor allem durch die Pandemie Auftrieb erhalten. Bei Novartis räumte man den Angestellten mehr Zeit für Gespräche über die Befindlichkeit ein. Vorgesetzte hätten ehrlich über ihre Verletzlichkeit und ihren Gemütszustand gesprochen sowie auch unangenehme Themen angesprochen. Dies habe echte Empathie und Unterstützung ermöglicht. Da gerade Führungskräfte zur psychologischen Sicherheit ihrer Mitarbeitenden beitragen, sind bei der Adecco-Gruppe Schweiz Kompetenzen wie Empathie oder Feedback ein fester Bestandteil der Qualifikationsgespräche für Führungskräfte.

Ein Thema auf Managementstufe

Bei SAP Schweiz spielte psychologische Sicherheit eine essenzielle Rolle in den «Back to Office»-Workshops für Führungskräfte, die sich mit der Organisation der Arbeit nach der Rückkehr ins Büro befassten. Für die Mitarbeitenden gehe es darum, mutig zu sein und sich bewusst aktiv zu beteiligen, heisst es. Dazu zähle etwa auch, kontraproduktives Verhalten von Arbeitskollegen und Chefinnen mit Blick auf die psychologische Sicherheit sachlich anzusprechen.

Auch andere Firmen wie die Migros oder ABB, und nicht zuletzt die Credit Suisse, haben das Thema auf der Agenda. Sie bieten diverse Lernmöglichkeiten. Psychologische Sicherheit werde regelmässig in Workshops und Führungsausbildungen angesprochen, heisst es bei der Credit Suisse. Auch eine Arbeitsgruppe aus dem Management befasse sich damit.

Steiniger Weg zu einer neuen Kultur

Der Wandel zu einem unternehmensweit etablierten sicheren Arbeitsklima braucht jedoch Durchhaltewillen. Von einer Angstkultur zu einer der psychologischen Sicherheit zu kommen, sei nicht ganz einfach und gelinge nicht von heute auf morgen, sagt Matthias Mölleney, Leiter des Center for Human Resources Management and Leadership an der Hochschule für Wirtschaft Zürich. Wichtig sei, dass die Vorgesetzten nicht auf Biegen und Brechen Sympathie im Team zu erzeugen versuchten, sondern auf ein vertieftes Kennenlernen der Teammitglieder setzten. Auf dieser Basis könne Vertrauen gebildet werden.

Mitarbeitende entwickelten Vertrauen, wenn sie sich als Mensch respektiert und wertgeschätzt fühlten. «Die Unternehmensleitung kann viel erreichen, wenn sie eine konsequente Haltung der Wertschätzung einnimmt», sagt Mölleney. Damit Unternehmen den Wandel von einer Angstkultur oder einer Kultur des Schweigens hin zu einer psychologisch sicheren Firmenkultur schaffen, sind also vor allem auch Firmenchefs gefragt, die psychologische Sicherheit vorleben.

Natalie Gratwohl, «Neue Zürcher Zeitung»

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