«Keine Faulheit»: weshalb wir im Job Dinge aufschieben – und wie es besser geht Die allermeisten tun es, und etwa jeder Fünfte leidet unter den Folgen des Aufschiebens. Welche Strategien gegen Prokrastination wirken und das Arbeitsleben erleichtern.

Die allermeisten tun es, und etwa jeder Fünfte leidet unter den Folgen des Aufschiebens. Welche Strategien gegen Prokrastination wirken und das Arbeitsleben erleichtern.

 

Die Methode heisst Silent Coworking. Menschen, denen es schwerfällt, eine Aufgabe rechtzeitig anzupacken und sie durchzuziehen, verabreden sich mit anderen. Es gibt auch diverse Apps, die Personen für eine stille Arbeits-Videokonferenz zusammenbringen. Am Anfang berichtet jeder kurz, was er in der vereinbarten Zeit erledigen will. Dann wird ruhig und konzentriert gearbeitet – mit eingeschalteter Kamera.

Der Effekt ist ähnlich wie beim Lernen in der Bibliothek: Die Arbeit fällt vielen leichter, wenn die Atmosphäre ruhig ist, andere auch arbeiten und mitbekommen, wenn man sich ablenken lässt. Am Ende tauschen sich die Personen darüber aus, was sie geleistet haben und ob sie ihre Ziele erreicht haben.

Die Methode mag etwas seltsam klingen, sie hilft aber Menschen, die ihre Arbeiten immer wieder aufschieben – und deswegen nicht selten in Teufels Küche geraten. Dank Silent Coworking erledigen sie eine Sache zu einem festgelegten Zeitpunkt, müssen den Aufwand dafür realistisch einschätzen und am Ende der Videokonferenz Bilanz ziehen. «Auch die soziale Kontrolle wirkt oft disziplinierend», sagt die Psychologin Margarita Engberding, die bei der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster arbeitet.

Lieber jetzt das gute Gefühl

Aufschieben ist etwas Normales, das die allermeisten Menschen tun. Das liegt daran, dass wir kurzfristige Belohnungen höher bewerten als die positiven Konsequenzen unseres Tuns in der Zukunft. Dies verleitet dazu, dass wir uns lieber für das sofortige positive Gefühl entscheiden – auf Kosten unserer langfristigen Interessen.

Bevor man mit der mühsamen Tätigkeit beginnt, will man «nur noch kurz» das Neuste in den sozialen Netzwerken verfolgen, hat dann aber gleich noch verschiedene Videos geschaut und ist mit Google Earth um die Welt gereist. Im Arbeitsleben sind die Ersatzaktivitäten häufig auch berufsbezogen: Anstatt die Kundenpräsentation vorzubereiten, die einem schon länger auf dem Magen liegt, fällt einem plötzlich ein, dass man dringend das E-Mail-Postfach aufräumen sollte.

Personen mit einer guten Fähigkeit zur Selbststeuerung entscheiden sich in solchen Momenten trotzdem dafür, die Präsentation in Angriff zu nehmen. Wer dagegen seine Emotionen nicht so gut regulieren kann, spürt dank dem Aufschieben eine kurzzeitige Erleichterung, die es wahrscheinlicher macht, bei nächster Gelegenheit wieder so zu handeln. «Die Menschen sind nicht faul, sie haben vielmehr eine Gewohnheit zum Aufschieben entwickelt», sagt Engberding. Wie jede andere Gewohnheit könne man sie wieder aufgeben. Dafür seien allerdings zuweilen grosse Anstrengungen erforderlich.

Produktiver dank Deadline-Kick?

Manche Berufstätige, die immer alles auf den letzten Drücker erledigen, wollen ihre Gewohnheit aber auch gar nicht aufgeben, weil sie kurz vor Abgabefrist viel fokussierter und produktiver arbeiten. Doch das verbreitete subjektive Empfinden, dank diesem Arbeitsstil insgesamt effizient zu arbeiten, täuscht. Diverse Studien zeigen, dass jene Personen die besseren Leistungen erbringen, die rechtzeitig mit ihren Aufgaben beginnen und sich diese gut einteilen.

Wer Dinge aufschiebt, verfolgt damit manchmal auch eine sogenannte Strategie des Self-Handicapping, um das Selbstwertgefühl zu schützen. Sie funktioniert so: Hat man seine Arbeit nicht rechtzeitig fertiggestellt oder sich damit blamiert, kann man den Misserfolg gegenüber sich selbst und anderen mit dem Aufschieben begründen – nach dem Motto: Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre mir bestimmt alles gelungen.

«Self-Handicapping verhindert, dass man richtig scheitert», sagt Alexandra M. Freund, Professorin für Psychologie an der Universität Zürich. Doch um überhaupt eine gute Arbeit abliefern zu können, müsse man die Voraussetzung dafür schaffen, indem man rechtzeitig damit beginne.

Die Angst vor dem Scheitern

Die Angst vor dem Scheitern ist ein häufiger Grund, weshalb Dinge aufgeschoben werden. Wichtige langfristige Projekte überwältigen einen, auch weil man zunächst nicht genau weiss, wie man sie anpacken soll. Viele Menschen seien bei solchen Aufgaben zu stark auf das grosse Ergebnis am Ende der Zielerreichung fixiert, anstatt sich auf den Prozess zu konzentrieren, sagt Freund.

Wenn man sich auf «Wie gehe ich jetzt vor?» anstatt auf «Ich muss das jetzt erledigen» fokussiere, stelle man bald fest, dass die Aufgabe einfacher zu bewältigen sei als gedacht. Es stehen Fragen im Vordergrund wie «Welches ist der erste Schritt?», «Wie kann ich die Arbeit strukturieren?», «Was kann ich von ähnlichen Projekten auf die jetzige Aufgabe übertragen?», «Welche Fähigkeiten muss ich mir noch aneignen?» oder «Wer könnte mir helfen?».

Es sind aber nicht nur langfristige Projekte, die gerne aufgeschoben werden, sondern auch kleinere Arbeiten, die man als lästig und unangenehm empfindet. Der Vorgesetzte schiebt etwa administrative Arbeiten auf die lange Bank, weil er sich lieber mit den spannenden Innovationsprojekten beschäftigt. Obwohl er sich damit Probleme mit der Controlling- und der Personalabteilung einhandelt, gelingt es ihm nicht, seinen Kopf wieder aus dem Sand zu ziehen und sein Verhalten anzupassen.

Damit zählt er zu den rund zwanzig Prozent der Bevölkerung, denen die negativen Konsequenzen ihres Aufschiebens zu schaffen machen. Exzessives Aufschieben führt in diesen Fällen zu Ängsten, Stress, Selbstvorwürfen und Schamgefühlen. Das Selbstvertrauen und die Leistungsfähigkeit nehmen ab, und den Menschen fällt es zunehmend schwerer, wieder aus der Abwärtsspirale herauszufinden. Rund jeder Zehnte prokrastiniere so ausgeprägt, dass er externe Unterstützung benötige, sagt Engberding.

Das wirksamste Mittel gegen Prokrastination

Die Psychologin unterstützt Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen und Berufen – vom Studenten über die Ärztin, den Juristen bis zur Handwerkerin. Sie alle leiden darunter, dass es ihnen nicht gelingt, ihr Verhalten zu ändern, obwohl sie Fristen verpassen und Schwierigkeiten bekommen.

«Die Frage nach dem Warum des Aufschiebens zu stellen, ist wenig zielführend», sagt Engberding. Es gehe für die Personen vielmehr darum, herauszufinden, welche positiven Gründe für ihr Vorhaben sprächen, etwa mit Fragen wie «Warum will ich diese Aufgabe angehen?» oder «Was motiviert mich besonders?».

Haben die Betroffenen den Vorsatz gefasst, eine grössere Aufgabe anzupacken, wird zunächst das pünktliche Beginnen geübt. Die Personen stimmen sich innerlich und äusserlich auf die Aufgabe ein. Dabei entwickeln sie auch persönliche Rituale – sei es, dass sie sich vor Arbeitsbeginn einen Kaffee holen oder ein paar Liegestützen machen. Diese Rituale helfen dabei, das pünktliche Beginnen zur Gewohnheit werden zu lassen. Dann wird das realistische Planen von Arbeitseinheiten geübt. Das konkrete Vorgehen wird geplant und die Aufgabe in überschaubare Teilschritte aufgeteilt.

Besonders gute Erfahrungen hat das Team der Prokrastinationsambulanz damit gemacht, die Arbeitsgelegenheiten zu beschränken. Es werden zwei Zeitfenster festgelegt, in denen die Personen arbeiten dürfen. In der übrigen Zeit gilt ein Arbeitsverbot. Wer die Einheiten verstreichen lässt, darf seine Arbeit also nicht nachholen. Erst wenn es den Patienten gelingt, die Zeitfenster effizient zu nutzen, dürfen sie sich zusätzliche Arbeitszeit «verdienen». Die Menschen sind motivierter, weil sie nicht mehr denken: «Ich muss mich jetzt dransetzen», sondern: «Ich darf nur jetzt arbeiten.» Die Arbeitszeit zu limitieren, sei das wirksamste Mittel gegen Aufschieben, sagt Engberding. Je mehr Zeit man zur Verfügung habe, desto grösser sei auch die Versuchung, die Sache vor sich herzuschieben.

Die Führungskraft unterstützt

Im Berufsleben können die Vorgesetzten eine unterstützende Rolle einnehmen. Sie sollten die Mitarbeitenden beispielsweise bitten, einen Entwurf ihrer Arbeit ein paar Tage früher abzuliefern, sich vermehrt bei ihnen nach dem Stand der Arbeiten erkundigen und bei längeren Projekten Deadlines für einzelne Teilschritte setzen. Denn je weiter eine Aufgabe in der Zukunft liegt, desto wahrscheinlicher ist auch, dass sie aufgeschoben wird. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Aufgabe und die Verantwortlichkeiten nicht genau definiert und keine klaren Fristen gesetzt sind.

Strategien gegen das Aufschieben

  • Sofort anfangen: Der erste Schritt ist oft der schwierigste. Am einfachsten ist es, wenn man die Aufgabe sofort anpackt – auch wenn man gerade nur zehn Minuten Zeit hat. Denn je länger man zuwartet, desto schwieriger wird es, damit anzufangen. Nach der Überwindung steigt dann aber die Motivation rasch an.
  • Projekt in Teilschritte aufteilen und Deadlines setzen: Wenn eine herausfordernde Aufgabe in viele machbare Schritte unterteilt wird, sinkt das Risiko, dass man sich von der Aufgabe überfordert fühlt. Für jeden Teilschritt setzt man sich Ziele mit definierten Abgabefristen. Ist die Zeit beschränkt, ist man fokussierter.
  • Realistisch planen: Wer Probleme mit dem Aufschieben hat, nimmt sich unter Druck zu viel vor, schafft es nicht, sich an seinen Plan zu halten, ist frustriert und verliert die Motivation. Daher sollte man von Beginn weg nur fünfzig Prozent dessen einplanen, was man sich normalerweise vornimmt. Es gilt, seine Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, Unvorhergesehenes zu berücksichtigen und die Ziele bei Bedarf anzupassen.
  • Kontrollieren: Nach jedem Teilschritt überprüft man, ob man die Ziele erreicht hat. Manchen hilft es auch, andere ins Boot zu holen. Man kann Personen aus dem beruflichen oder dem privaten Umfeld fragen, ob sie die Zielerreichung kontrollieren.
  • Sich belohnen: Nachdem man einen Teilschritt erfolgreich abgeschlossen hat, kann man sich mit etwas belohnen, was einem Freude bereitet.
  • Auf die Gedanken achten: Wie jemand über eine Aufgabe denkt, so wird er auch die Lösung anpacken. Gedanken wie «Ich kann das nicht!», «Jetzt schaffe ich es ohnehin nicht mehr» oder «Ich kann nur unter Druck arbeiten» wirken sich negativ auf die Gefühle und das Verhalten aus. Helfen kann dagegen, wenn man sich positive Erlebnisse in Erinnerung ruft und visualisiert, wie es sein wird, wenn man das Ziel erreicht hat.

Das lustige Äffchen im Kopf

Skeptisch sollte man beim Gedanken «Jetzt wird alles anders!» werden. Zwar haben Studien gezeigt, dass Studierende, die ihre Fehler ruhen liessen und nicht zu streng mit sich selber waren, weniger prokrastiniert und sich besser auf die nächsten Prüfungen vorbereitet haben.

Doch die Erwartung, sein Verhalten von einem Tag auf den anderen wesentlich anzupassen, führt zu Enttäuschungen. Es handelt sich bei der Veränderung der Gewohnheit vielmehr um einen längeren Prozess, der unweigerlich auch mit Rückschlägen verbunden ist. Auf diesem Weg hilft nicht zuletzt auch eine Prise Humor und Selbstironie.

Der «routinierte Aufschieber» Tim Urban berichtet etwa in einer «Ted Talk»-Keynote von einem Äffchen im Kopf, das immer Spass haben wolle und nicht an morgen denke. Es übernehme das Steuer, tue alles Mögliche und Unsinnige – nur mit der Aufgabe beschäftige es sich nicht. Erst kurz vor der Abgabefrist der Arbeit tauche ein Monster auf, welches das Äffchen vertreibe.

Bei vielen wichtigen Tätigkeiten wird man allerdings gar nicht vom Monster aufgeschreckt. Dies sind vor allem Dinge, die man «irgendwann anpacken will, wenn man nicht mehr so eingespannt ist». Das Monster bleibt einfach ruhig, weil man sich für seine grossen Pläne keine Deadline gesetzt hat.

Natalie Gratwohl, «Neue Zürcher Zeitung»

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