«Kopf voll, Hirn leer»: Wenn die Kommunikation am Arbeitsplatz zur Erschöpfung führt Meeting-Flut und immer neue Tools: Vielen Angestellten fällt es schwer, sich ungestört auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Was ist zu tun?

Meeting-Flut und immer neue Tools: Vielen Angestellten fällt es schwer, sich ungestört auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Was ist zu tun?

Seit vermehrt Online-Sitzungen abgehalten werden, hat die Meeting-Flut noch zugenommen. Konzentriertes Arbeiten wird immer schwieriger. (Foto: Karin Hofer / NZZ)

Online-Sitzungen gehen fast nahtlos ineinander über, immer neue Nachrichten strömen auf den verschiedensten Kanälen auf die Angestellten ein, und am Ende des Arbeitstages fragen sich manche von ihnen, warum sie sich erschöpft fühlen und trotzdem nur wenig erreicht haben.

Viele Mitarbeitende und Führungskräfte beklagen, dass sie viel Zeit in ineffizienten Sitzungen vertrödeln. Trotzdem hält die Meeting-Flut in den Firmen an. Allein die Zahl der Online-Sitzungen ist seit Ausbruch der Pandemie explodiert: Wie eine Erhebung von Microsoft zeigt, verbringen die Menschen heute rund dreimal so viel Zeit pro Woche in MS-Teams-Meetings und -Calls wie im Februar 2020. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Nachrichten in Chat-Kanälen wie Slack weiter zu, ohne dass E-Mails an Bedeutung verloren haben.

Kampf gegen die Informationsflut

«Man wollte die Kommunikation mit neuen Tools effizienter gestalten, doch die Mitarbeitenden wurden dadurch nicht entlastet», sagt Cordula Nussbaum, Autorin und Business-Coach. Dies habe vielmehr dazu geführt, dass sie viele verschiedene Kommunikationskanäle – von E-Mails, Anrufen, Sitzungen bis zu Chat-Nachrichten und Kollaborationstools – ständig im Auge behalten müssten. «Die offenen Schubladen im Gehirn und die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, führen zu einer inneren Anspannung und schliesslich unweigerlich zu Erschöpfung», sagt Nussbaum.

Betroffen davon sind alle Altersgruppen gleichermassen. Junge, die mit den digitalen Medien aufgewachsen sind, fühlen sich ebenso erschöpft wie Ältere. Laut Nussbaum spielt jedoch der Charakter einer Person eine Rolle: Kreative, neugierige und empathische Menschen seien äusseren Reizen stärker ausgesetzt.

Dies bedeute allerdings nicht, dass sie sich grundsätzlich innerlich weniger gut abgrenzen könnten als andere. Die Fähigkeit, sich dem Strom nicht ausgeliefert zu fühlen und die Arbeit gut zu priorisieren, könnten alle erwerben, sagt Nussbaum. Hilfreich sei dabei, sich jene Teammitglieder zum Vorbild zu nehmen, die diese Kompetenz bereits aufgebaut hätten.

In ihrem Buch «Kopf voll, Hirn leer» schreibt sie unter anderem, wie man sich einen gesunden Umgang mit den Kommunikationsmitteln aneignen kann. Dazu gehört, Benachrichtigungen auszuschalten, Ablenkungen zu vermeiden sowie sich bewusst Zeiten zu erlauben, in denen man sich nicht stören lässt. Für eine Entlastung des Gehirns sorge auch, sich banale Dinge aufzuschreiben (z. B. welche Kanäle in welcher Reihenfolge bearbeitet werden), damit man nicht mehr daran denken müsse.

Multitasking funktioniert nicht

Die Strategien funktionieren, wenn man sich den Arbeitstag weitgehend selbst einteilen kann. Teams sollten sich dagegen auf Kommunikationsregeln und Zeiten für fokussiertes Arbeiten einigen. Wie lange dürfen die Antwortzeiten bei welchen Themen sein? Welche Kanäle nutzen wir für welche Inhalte oder für welches Arbeitstempo? Antworten wir auf alle Nachrichten? Und was bedeutet «Funkstille»? Manche Abteilungen hätten sich nach der Diskussion von Chat-Nachrichten verabschiedet, weil sie sich verzettelt hätten, sagt Nussbaum.

In einer Befragung von Microsoft bei Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gaben 69 Prozent an, sie hätten zu wenig Zeit, um sich ungestört auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Die Störungen am Arbeitsplatz haben seit der Jahrtausendwende deutlich zugenommen. Alle paar Minuten unterbrechen Mitarbeitende ihre Arbeit, weil eine Push-Meldung eingeht, ein Kollege anruft – oder sie einfach mal schauen wollen, was auf Social Media läuft.

«Wir versuchen, Multitasking zu betreiben, obwohl unser Gehirn es nicht kann», sagt Nussbaum. «Trotzdem suchen wir immer neue Ablenkungen, den nächsten Dopamin-Kick, bis wir nicht mehr abschalten und zur Ruhe kommen können.» Die Folgen des permanenten innerlich «Auf Abruf»-Seins sind bekannt: Stresssymptome, Depressionen und gesundheitliche Probleme.

Störungen bei der Arbeit, Multitasking und die Suche nach dem nächsten Dopamin-Kick schlagen sich auch negativ auf die Produktivität nieder. Nach einer Unterbrechung dauert es lange, bis die Mitarbeitenden wieder in ihre ursprüngliche Aufgabe hineinfinden. «Die Kommunikationskanäle sind nicht der Grund für die Belastungen», sagt Marc Holitscher, National Technology Officer bei Microsoft Schweiz. «Entscheidend ist, wie die Werkzeuge genutzt werden.» Das ganze Team müsse den Umgang mit den Kommunikationsmitteln trainieren wie einen Muskel. Doch Regelungen, wie im Team kommuniziert werde, und die Stärkung der individuellen Fähigkeiten reichten nicht: «Der Vorgesetzte sollte ein Vorbild sein und die Angestellten eigenverantwortlich arbeiten lassen.»

Co-Pilot an der Seite

Die technischen Möglichkeiten, um der Menge an Informationen Herr zu werden, werden immer besser. Holitscher arbeitet seit ein paar Wochen mit einem Co-Piloten, mit dem er sprachbasiert kommuniziert. Dieser greift auf alle relevanten Informationen wie Kalender, Aufgabenliste, Kommunikationskanäle und Dokumente zu. Auf dieser Basis erstellt er einen schriftlichen Überblick über die anstehenden Aufgaben. Von der Form her erinnert es an eine Nachricht eines persönlichen Assistenten, der dem Chef die wichtigsten Aufgaben unterbreitet. Der KI-basierte Co-Pilot geht noch einen Schritt weiter und schlägt gleich auch eine Prioritätenliste vor.

Auch das Protokollschreiben an Sitzungen kann man sich sparen. Der Co-Pilot transkribiert die Audiodateien der Video-Calls und fasst sie zusammen. Und wer befürchtet, während des konzentrierten Arbeitens wichtige Neuigkeiten zu verpassen, weist den digitalen Assistenten an, er solle einen in der Fokus-Zeit nur über wichtige und dringende Nachrichten informieren.

«All dies erleichtert mir meine Arbeit enorm», sagt Holitscher. Es gelinge ihm viel besser, sich auf die relevanten Tätigkeiten zu konzentrieren. «Wir stehen an einem Wendepunkt, wie wir die Kommunikation in Firmen organisieren», sagt Holitscher. Es stehe künftig weniger die Frage im Vordergrund, wie die Mitarbeitenden am besten mit der Informationsflut umgingen, sondern wie sie am besten mit dem digitalen Assistenten interagierten und welche Funktionen der Co-Pilot übernehmen solle.

Zeitraubende Sitzungen

Die grössten «Zeitfresser» im Arbeitsalltag sind Sitzungen. Sie deswegen gleich abzuschaffen, ist jedoch für Unternehmen, insbesondere für jene mit flachen Hierarchien, nicht zielführend. Vielmehr geht es darum, wie man Sitzungen besser nutzt, organisiert und effizient durchführt.

Meetings: Diese Fragen sollten sich Teams stellen

  • Braucht es überhaupt eine Sitzung? Es lohnt sich, vor jedem Meeting zu überlegen, ob die Inhalte schwierig zu interpretieren oder heikel sind. Ist dies nicht der Fall, bieten sich asynchrone Kanäle an. Man kann eine E-Mail schreiben oder gemeinsam an einem Dokument arbeiten. Kommt man zum Schluss, dass es für den Zusammenhalt wichtig ist, sich zu treffen, kann man auch gezielt Anlässe zum sozialen Austausch organisieren. 
  • Was ist das Ziel? Längst nicht immer ist allen Anwesenden klar, was in der Sitzung erreicht werden soll. Es bietet sich daher an, im Vorfeld eine Agenda bzw. Traktanden mit Verantwortlichkeiten zu erstellen und diese an die Teilnehmer zu verschicken, die noch Punkte ergänzen können. Das wichtigste Thema sollte in der Sitzung als Erstes behandelt werden.
  • Wer muss und wer kann teilnehmen? Um die Sitzung effizient zu gestalten, sollten nur jene Personen eingeladen werden, für die das Thema relevant ist und die einen Beitrag leisten können. Mit der wachsenden Verbreitung von Videokonferenzen ist der Teilnehmerkreis deutlich gewachsen. Die hohen Kosten, die anfallen, wenn Mitarbeitende an unnötigen Meetings teilnehmen, werden dabei meist wenig beachtet. Zeitsparend ist es auch, grosse Sitzungen so zu unterteilen, dass Personen nur für einzelne Traktanden dazukommen. 
  • Fühlen sich Mitarbeitende übergangen? Möglich ist, dass sich Angestellte übergangen fühlen, wenn sie nicht zur Sitzung eingeladen werden, selbst wenn sie ihre Zeit sinnvoller einsetzen könnten. Will man dies verhindern, kann man beispielsweise einen grösseren Personenkreis einladen und die Teilnahme als freiwillig bezeichnen. Wer nicht teilnimmt, erhält nach der Sitzung ein Protokoll bzw. eine elektronische Zusammenfassung der Videokonferenz.
  • Wie lange soll das Meeting dauern? Man schätzt die Dauer, die man für die Diskussion benötigt, und zieht davon rund fünf bis zehn Prozent ab. Dieser Ansatz hilft, die Sitzung effizienter zu gestalten. Denn wir haben die Tendenz, für eine Aufgabe so lange zu brauchen, wie wir Zeit dafür haben. Die meisten Online-Sitzungen werden auf eine halbe Stunde oder eine Stunde angesetzt. Dies führt dazu, dass die Mitarbeitenden nahtlos von Meeting zu Meeting springen müssen. Besser ist es, die Sitzung beispielsweise auf 25 Minuten oder 50 Minuten zu terminieren, damit die Mitarbeitenden ein kurze Pause machen und sich gegebenenfalls auf die Sitzung vorbereiten können.
  • Wie gelingt es, eine produktive Sitzung zu leiten? Manche Meetings sind chaotisch und laufen aus dem Ruder, andere sind bleiern und uninspirierend. Beides möchte man vermeiden. Sitzungsleiter müssen die Agenda und die Zeit im Blick behalten, Vielredner bremsen und alle Teilnehmenden einbeziehen. Häufig ist es auch notwendig, Mitarbeitende zu kritischen Voten zu ermutigen («Gibt es Einwände?»). Denn die Voraussetzung für eine produktive Sitzung ist, dass sich die Anwesenden sicher fühlen und einbringen. Ein Meeting wird nicht automatisch produktiver, wenn man sich an die Agenda klammert und kein Wort zu viel gesprochen wird. Eine gute Atmosphäre hilft, neue Ideen zu entwickeln.
  • Was halten die Teilnehmenden von der Sitzung? Wenn Vorgesetzte den Eindruck haben, die Meetings seien produktiv, kann diese Selbstwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung abweichen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stufen die Qualität der Sitzung in der Regel schlechter ein als die Sitzungsleiter. Um einen besseren Eindruck zu bekommen, wie es die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen sehen, eignen sich zum Beispiel kurze (anonyme) Umfragen. 
  • Welche Grundregeln gelten im Team? Man kann sich auf ein paar einfache Grundregeln einigen: Die Sitzung pünktlich beginnen, keine anderen digitalen Geräte benutzen und bei Online-Meetings Kamera und Ton einschalten. Möglich sind auch kreative Ansätze. Reden etwa die Mitarbeitenden dem Chef nach dem Mund, kann dieser die Rolle des «Devil’s Advocate» schaffen, der offiziell die Aufgabe hat, Dinge kritisch zu hinterfragen und Gegenpositionen einzunehmen. 

Immer mehr Konzerne – darunter der Softwarekonzern SAP oder der Versicherer Bâloise – fördern Zeiten für ungestörte Konzentration und haben einen «Focus Friday» eingeführt. Sitzungsfreie Tage, blockierte Zeiten im Kalender und andere Massnahmen reichen allein jedoch nicht aus, um der zunehmenden Fragmentierung der Arbeit zu begegnen. «Ob es gelingt, dass die Mitarbeitenden ungestört an einer Aufgabe arbeiten können, hängt in erster Linie von der Firmenkultur ab», sagt Holitscher.

Wenn die Chefin zum Beispiel sieht, dass der Mitarbeiter seinen Status auf «beschäftigt» gestellt hat, kann sie ihm die Nachricht später schreiben. Damit sorgt sie für weniger Ablenkung und fördert eine Kultur im Unternehmen, die für konzentriertes und fokussiertes Arbeiten notwendig ist.

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