Schweizer Arbeitskräfte im europäischen Vergleich: Hohe Löhne, hoher Druck, gute Gesundheit – doch es gibt Warnsignale Manche Arbeitnehmer in der Schweiz melden Gesundheitsprobleme und Stress. Im internationalen Vergleich stehen die Schweizer aber immer noch ziemlich gut da. Das zeigen die jüngsten europäischen Befragungen.

Manche Arbeitnehmer in der Schweiz melden Gesundheitsprobleme und Stress. Im internationalen Vergleich stehen die Schweizer aber immer noch ziemlich gut da. Das zeigen die jüngsten europäischen Befragungen.

Manche Arbeitskräfte in der Schweiz sind unter Druck, doch im internationalen Vergleich geht es den meisten gut. (Bild: Selina Haberland / NZZ)

Bekommen die Schweizer Arbeitskräfte den Fünfer und das Weggli? Diese Mutmassung liegt angesichts einiger internationaler Datensätze nahe. Zum einen ist das Schweizer Lohnniveau das höchste in Europa. Auch gemessen an der Kaufkraft, das heisst unter Berücksichtigung des hohen Schweizer Preisniveaus, liegt der Durchschnittslohn nur in Luxemburg ähnlich hoch wie in der Schweiz.

Die Kaufkraft des Durchschnittslohns ist in der Schweiz etwa 35 Prozent höher als im Mittel der Nachbarländer (ausser Liechtenstein) und über 45 Prozent höher als im EU-Durchschnitt. Die Einkommensungleichheit ist in der Schweiz etwa durchschnittlich bis leicht unterdurchschnittlich.

Zum anderen scheinen die Schweizer im Mittel auch gesünder zu sein als die Einwohner der anderen europäischen Länder. Gemäss der jüngsten europäischen Erhebung zu den Lebensbedingungen für das Jahr 2021 bezeichneten 3,9 Prozent der befragten Personen in der Schweiz ihren Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht.

Laut den Bundesstatistikern ist dies der tiefste Wert in Europa. Die Nachbarländer und der EU-Durchschnitt liegen deutlich höher (vgl. Grafik). Auch gemessen an der Lebenserwartung steht die Schweiz an der europäischen Spitze (zusammen mit Island und Norwegen).

Doch auch hierzulande ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Das zeigt die jüngste europäische Befragung in rund 35 Ländern zu den Arbeitsbedingungen, die alle fünf Jahre durchgeführt wird und laut Schweizer Angaben in den teilnehmenden Ländern repräsentativ für die Erwerbsbevölkerung ist.

In der Schweiz wurden gut 1200 Personen befragt. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) legte am Dienstag die Ergebnisse vor. Diese betreffen das Jahr 2021; sie dürften damit noch erheblich durch die Pandemie beeinflusst sein. Die Pandemie hat auch die Erhebungsmethodik beeinflusst, weshalb die Resultate laut Seco nicht direkt mit früheren Erhebungen vergleichbar sind.

Verbreitete Schmerzen

Wer nach Problemen fragt, wird von Problemen hören. So meldeten zum Beispiel in der Schweiz 37 Prozent der Befragten drei oder mehr gesundheitliche Schwierigkeiten; zu den meistgenannten Gesundheitsproblemen zählten Muskelschmerzen etwa in Schultern und Nacken, Kopfschmerzen und Rückenschmerzen (mit jeweils Anteilen um 50 Prozent).

Diese Zahlen erscheinen gross, doch im europäischen Vergleich sind sie unterdurchschnittlich. Im europäischen Durchschnitt meldeten 46 Prozent der Befragten drei oder mehr gesundheitliche Probleme.

Die gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeit sind typischerweise ein Saldo aus belastenden und entlastenden Faktoren. Zu ersteren gehören etwa unangenehm hoher Erwartungsdruck und schlechtes Betriebsklima. Entlastung gibt es zum Beispiel durch sinnstiftende Tätigkeit, hohe Arbeitsautonomie und starke Unterstützung durch Kollegen und Chefs.

In der Schweiz übersteigt gemäss der Erhebung bei 27 Prozent der Erwerbstätigen die Zahl der Belastungen jene der entlastenden Faktoren. Auch dies ist ein optisch hoher Anteil, doch im europäischen Vergleich liegt er unter dem Durchschnitt von 31 Prozent (vgl. Grafik). Die Zahl von belastenden und entlastenden Faktoren liefert Hinweise, doch dies sagt nichts aus über das Gewicht der einzelnen Faktoren. Die Aussagekraft ist deshalb beschränkt.

Auch gemessen an einem Index für psychisches Wohlbefinden auf Basis der Erhebung steht die Schweiz noch relativ gut da – mit durchschnittlich 69 Punkten auf einer Skala von 0 bis 100, bei einem europäischen Mittelwert von 64 Punkten. Auch die Nachbarländer schnitten schlechter ab als die Schweiz. Gemäss der Erhebung meldeten 83 Prozent der Arbeitskräfte in der Schweiz ein gutes Befinden (über 50 Punkte). Eines der erfreulichsten Ergebnisse: 91 Prozent der hiesigen Erwerbstätigen bezeichneten ihre Arbeit als oft oder immer sinnvoll. Auch hier lag die Schweiz über dem EU-Wert.

Hoher Termindruck

Überdurchschnittlich viele Erwerbstätige in der Schweiz berichteten derweil über ein oft hohes Arbeitstempo und Termindruck (jeweils 50 bis 60 Prozent). Im Gegenzug meldeten hiesige Arbeitskräfte im Mittel eine höhere Arbeitsautonomie als der Durchschnitt in der EU. Und 36 Prozent der Befragten in der Schweiz arbeiteten mehrmals pro Monat in der Freizeit, um die Anforderungen der Arbeit zu erfüllen; im EU-Durchschnitt waren es 29 Prozent. «Arbeit in der Freizeit» heisst im Prinzip Überstunden. In der Befragung blieb aber unklar, ob solche Überstunden kompensierbar waren (mehr Lohn oder zusätzliche Freizeit).

Klarere Hinweise zum Druck am Arbeitsplatz liefern die Angaben zur Erschöpfung der Erwerbstätigen und zur Präsenz am Arbeitsplatz trotz Krankheit. In der Schweiz sagte etwa jeder Dritte, oft physisch oder psychisch erschöpft zu sein. Und jeder vierte arbeitete zuweilen trotz Krankheit. Diese Werte lagen unter dem EU-Mittel.

Generell sagten in der Schweiz 23 Prozent der Befragten, dass ihre Sicherheit oder Gesundheit durch die Arbeit gefährdet sei. Das ist einer der tiefsten Werte in Europa; der EU-Durchschnitt liegt bei 34 Prozent.

Unter dem Strich lässt die Erhebung vermuten, dass es hierzulande etwa drei Viertel der Erwerbstätigen trotz Problemen ziemlich gut geht und etwa ein Viertel mittleren bis grösseren Gesundheitsrisiken ausgesetzt ist. Bei insgesamt 5 bis 15 Prozent der Erwerbstätigen scheinen die Belastungen besonders gross zu sein.

Das Glas ist eher voll als leer

Auch in schweizerischen Erhebungen hatten hiesige Arbeitskräfte in der Vergangenheit oft über erheblichen Stress berichtet. So waren zum Beispiel 2022 laut dem Job-Stress-Index der Gesundheitsförderung Schweiz fast 30 Prozent der Erwerbstätigen gemessen am Saldo zwischen Belastungen und Ressourcen in einem kritischen Bereich.

In der jüngsten Befragung zum Arbeitsbarometer der Gewerkschaft Travail Suisse meldeten im vergangenen Jahr 43 Prozent häufigen oder sehr häufigen Stress, während die allgemeine Zufriedenheit am Arbeitsplatz nach wie vor hoch war – mit einem Durchschnittswert von 7,7 Punkten auf einer Skala von 1 bis 10.

Klar ist: Arbeit ist kein Ferienlager. Sie ist ja auch bezahlt. Wenn man so will, ist das Glas je nach Standpunkt vielleicht zu zwei Drittel bis drei Viertel voll oder zu einem Viertel bis einem Drittel leer. Im internationalen Vergleich erscheint das Glas nach wie vor weit eher voll denn leer.

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