Teuerste Lehre: Ein Informatik-Lehrling kostet den Betrieb 120’000 Franken In fast allen Lehrberufen profitieren Unternehmen von ihren Lernenden. Nicht so in der Informatik. Hier steht nach vier Jahren ein Minus von über 20'000 Franken.

In fast allen Lehrberufen profitieren Unternehmen von ihren Lernenden. Nicht so in der Informatik. Hier steht nach vier Jahren ein Minus von über 20'000 Franken.

Vier von fünf neuen IT-Fachkräften durchliefen einst die Lehre. (Foto: Marvin Meyer auf Unsplash)

Walter Borgia tut etwas, wovor sich allzu viele andere derzeit drücken: Er bildet Informatik-Lernende aus. Borgia, CEO des IT-Dienstleisters Lake, hat zwar noch nie ausgerechnet, was ein Informatik-Lehrling – in 93 Prozent aller Fälle sind es junge Männer – genau kostet. Aber er sagt: «Viel!»

Wie viel genau, hat eine Studie des schweizerischen Observatoriums für die Berufsbildung erhoben: 123’000 Franken für vier Lehrjahre. Mit dem Betrag wird der Lehrlingslohn gedeckt, die Personalkosten für Betreuungspersonen sowie Materialkosten.

Teuer seien Informatik-Lernende vor allem deshalb, weil sie im Vergleich zu anderen Lehrberufen relativ viel Betreuung durch eine Fachkraft brauchten und relativ lange weniger für produktive Arbeiten eingesetzt werden könnten als in anderen Lehrberufen, erklärt Jürg Schweri, einer der Studienautoren und Professor an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung. Erst im vierten und letzten Lehrjahr bringen Informatik-Lehrlinge mehr Leistung, als sie Kosten verursachen. Über die gesamte Ausbildung resultiert für ein durchschnittliches Unternehmen ein Verlust von fast 22’000 Franken pro Lehrling.

Damit ist die Informatik der teuerste Lehrberuf der Schweiz. Die meisten anderen Berufslehren bringen unterm Strich den Firmen einen Gewinn.

Warum bilden Firmen trotzdem Informatik-Lernende aus? Unternehmer Walter Borgia sagt es so: «Lernende sind eine Investition in die Zukunft.» Man könne sie noch so «formen», dass sie bei Lehrabschluss möglichst viele Kompetenzen mitbrächten, die es für die Arbeit in ihrer Abteilung brauche. Damit spare das Unternehmen bei der Rekrutierung und der Einarbeitung von externen Fachkräften. Das Ziel einer Lehre müsse die Festanstellung sein.

Ausbilden günstiger als extern rekrutieren

Tatsächlich zeigt die Studie des Observatoriums für Berufsbildung, dass es noch teurer ist, Informatiker vom Arbeitsmarkt zu rekrutieren, als sie selbst auszubilden. Die Rekrutierung inklusive der Einarbeitung eines Informatikers kostet im Schnitt 46’300 Franken. Falls ein Lehrling also nach dem Abschluss seiner Ausbildung beim gleichen Unternehmen in eine Festanstellung wechselt, spart das Unternehmen rund 19’000 Franken.

Die Informatik-Lehre ist für Firmen also nur dann ein Verlustgeschäft, wenn sie die jungen Fachkräfte nach Lehrabschluss nicht halten können. Trotzdem bleibt die Ausbildung von IT-Spezialisten für Firmen ein finanzielles Risiko – insbesondere, weil sie damit rechnen müssen, dass gute Leute schnell abgeworben werden und sie damit auf den Ausbildungskosten sitzen bleiben.

Wohl auch deshalb bilden viel zu wenig Betriebe Informatik-Lernende aus. Dabei wären mehr Lehrabgänger für den Schweizer Wirtschaftsstandort dringend nötig. Laut Berechnungen von ICT-Berufsbildung, dem Ausbildungsverband der IT- und Kommunikationsbranche, fehlen in der Schweiz bis zum Jahr 2030 rund 38’700 IT-Fachkräfte.

Jeder zwölfte IT-Angestellte müsste in der Lehre sein

Serge Frech, Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung, hat berechnet, dass im Grunde jeder zwölfte IT-Angestellte ein Lernender sein müsste. Damit könnte die Schweizer Wirtschaft ihren Fachkräftebedarf decken. Gegenwärtig ist aber nur gerade jeder siebzehnte in der Lehre. «Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften wird das Schweizer Wirtschaftswachstum hemmen», prognostiziert Frech.

Frech glaubt, dass der Mangel an offenen Informatik-Lehrstellen auch damit zusammenhängt, dass das Berufsbild noch relativ jung ist und dass viele IT-Firmen aus dem angelsächsischen Raum stammen, wo es keine Berufslehre gibt. Insbesondere in amerikanischen Tech-Unternehmen würden zu wenige Lernende ausgebildet, sagt Frech.

Microsoft, eines der grössten und finanzstärksten Unternehmen weltweit, bildet in der Schweiz im Moment vier ICT-Lernende aus – also einer pro Jahrgang. Google beschäftigt zwar 44 Lernende, bleibt damit aber ebenfalls weit unter dem angestrebten Verhältnis von 1:12. Facebook, AWS und Hewlett Packard Enterprise bilden gar keine ICT-Lernenden aus. «Das darf doch nicht sein», sagt Frech. «Unternehmen mit einem hohen Fachkräftebedarf sollen selber auch ausbilden.»

Die Unternehmen schreiben auf Anfrage, dass sie viel in die Ausbildung von Fachkräften investieren und nennen ihre Initiativen, Aus- und Weiterbildungsprogramme. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, ist allerdings nichts wichtiger als mehr Lehrstellen: Vier von fünf Nachwuchs-Informatikern, die 2022 in den Schweizer Arbeitsmarkt eintraten, durchliefen einst die Lehre.

Berufsbildungsverband hat zu wenig Geld

Weiter beklagt Frech die schwache Finanzierung des Berufsbildungsverbands, dem er vorsteht. Seine Arbeitgeberin, der Verband ICT-Berufsbildung, habe viel zu wenig Geld und werde kaum von seinen Nutzniesser-Unternehmen finanziert. Berufsverbände wie jene für Gebäudetechniker oder Schreiner steckten Millionenbeträge in die Berufsbildung und erhielten Geld von ihren Mitgliedunternehmen. «Davon können wir nur träumen», sagt Frech.

Der nationale ICT-Berufsbildungsverband finanziere sich hauptsächlich aus Beiträgen von Regionalverbänden, sagt Frech. Und wenn die Regionalverbände Geld an die nationale Stelle schickten, hätten sie selbst nicht genug Ressourcen, um Betriebe für die Ausbildung zu gewinnen und diese zu unterstützen. Ein Beispiel dafür sei die Westschweiz. Dort hätten, laut Frech, 900 Firmen eine Ausbildungsbewilligung im ICT-Bereich, aber nur die Hälfte der Betriebe bilde tatsächlich Lernende aus.

Auch für die schlechte Finanzierung seines Verbandes hat Frech eine Erklärung. Bei den meisten Berufen gebe es einen einzigen Berufs- und Branchenverband. Bei der IT sei das anders. Schweizweit gebe es rund zwei Dutzend Verbände, die sich für die Digitalisierung einsetzten. Sie alle kämpften um Ressourcen. Für seinen Verband bleibe entsprechend wenig übrig. Deshalb verwende Frech rund 30 Prozent seiner Arbeitszeit für das Fundraising. «Diese Zeit fehlt uns für den Ausbau und die Qualitätssicherung der ICT-Berufslehren», sagt Frech.

IT-Fachkräfte braucht es in jedem KMU, in jeder Behörde, in jedem Spital. Gut möglich, dass künftig Stellen immer länger offen bleiben, wenn nicht bald erheblich mehr qualifiziertes Personal ausgebildet wird.

Gioia da Silva, «Neue Zürcher Zeitung»

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