Vier-Tage-Woche, Massage im Haus und firmeninternes Fitnesstraining: Der Wettkampf um die besten Talente hat begonnen Firmen müssen neue Wege beschreiten, um Talente anzuwerben. Doch vielen fällt die Umstellung schwer.

Firmen müssen neue Wege beschreiten, um Talente anzuwerben. Doch vielen fällt die Umstellung schwer.

 

Viele Arbeitnehmer lassen sich heute die individuelle Gestaltung der Arbeitsweise und -zeit nicht mehr nehmen. (Bild: unsplash.com)

Das Marketingunternehmen Awin und die Schweizerische Nagelfabrik haben die Vier-Tage-Woche eingeführt. Gasthäuser wie das Park-Hotel Winterthur testen die reduzierte Arbeitswoche und schaffen gleichzeitig die unbeliebte Zimmerstunde für ihre Angestellten ab. Das Spital Wetzikon im Zürcher Oberland kürzt die Arbeitszeiten für das Pflegepersonal – bei gleichem Lohn. Andere bezahlen ihrem Personal eine Prämie, wenn es neue Mitarbeiter anwirbt.

Firmen sind gezwungen, ihre Arbeitsmodelle umzustellen, um als attraktiver Arbeitgeber dazustehen. Denn viele suchen beinahe verzweifelt nach Personal. Und trotz steigenden Rohstoff- und Erdölpreisen, Lieferengpässen und einem etwas verdüsterten Konjunkturumfeld hält der Boom am Arbeitsmarkt an. Die Arbeitslosigkeit ist in den zurückliegenden Monaten weiter gesunken und ist mit 2,4 Prozent so niedrig wie vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Gleichzeitig sind so viele Stellen vakant wie noch nie.

Filter bei Online-Bewerbungen und Frühpensionierungen

Die meisten Betriebe haben allerdings ihre Rekrutierungspraxis kaum an die neuen Gegebenheiten angepasst: Filter bei Online-Bewerbungen, um ältere, jüngere oder anderweitig ungeeignete Kandidaten automatisch auszusortieren, sind nach wie vor gang und gäbe. Bewerber, die nicht exakt dem Traumprofil einer Firma entsprechen, werden aussortiert – auch mit der Unterstützung von Algorithmen und Avataren. Frühpensionierungen sind in vielen Grossbetrieben die Regel. Und Quereinsteigern fällt die Jobsuche nach wie vor schwer.

Allerdings zeichnet sich vielerorts eine allmähliche Öffnung ab – eine langsame, aber stetige Veränderung. Firmen offerierten vermehrt flexible Arbeitsmodelle wie Home-Office, hybride Arbeitsformen und die Möglichkeit, auf Stundenbasis oder als Freelancer zu arbeiten, sagt Fabian Büsser, Leiter des Page-Group-Büros in Zürich. Acht von zehn Stellenbewerbern wollen laut Büsser wissen, ob beim potenziellen Arbeitgeber die Möglichkeit von Home-Office bestehe. Mit flexiblen Arbeitsmodellen sei die Chance deutlich grösser, Talente anzuziehen. «Wenn Arbeitgeber hingegen auf fünf Tage Büroarbeit pro Woche bestehen, wird es schwierig. Und sie verlieren dadurch auch Mitarbeiter», sagt der Personalvermittler.

Branchengläubigkeit nimmt ab

Die Verhandlungsmacht habe sich zugunsten der Arbeitnehmenden verschoben, bekräftigt auch Pascal Scheiwiller, Geschäftsführer des Outplacement-Spezialisten von Rundstedt Schweiz. Entsprechend habe die Toleranz und Flexibilität der Arbeitgeber bei der Rekrutierung zugenommen. Davon profitierten Quereinsteiger, ältere Stellensuchende und Wiedereinsteigerinnen.

Auch die Chancen auf einen Branchenwechsel stehen gut: Laut der jüngsten Erhebung von Rundstedt finden mehr als die Hälfte der Entlassenen eine neue Stelle in einer anderen Branche. Die zunehmende Knappheit an Fachkräften zwinge die Unternehmen dazu, von ihrer Branchengläubigkeit abzusehen und den Suchfilter zu öffnen, sagt Scheiwiller.

So haben Arbeitskräfte aus der Gastronomie reihenweise in die Logistik gewechselt oder vom klassischen Detailhandel in den Online-Verkauf. Manche Erwerbstätige sattelten komplett um, eigneten sich neue Berufskenntnisse an und arbeiten nun in anderen Funktionen und Jobs.

Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin den geeigneten Rucksack mitbringt, sind Unternehmen heutzutage eher bereit, fehlende Qualifikationen mit Trainings wettzumachen. Schwieriger sei dies in Branchen wie Banking und Pharma, wo es oftmals um technische Berufe gehe, meint Büsser von Page-Group. Auch in anderen Wirtschaftszweigen ist die Flexibilität vieler Arbeitgeber nach wie vor gering. Dadurch entgehen ihnen talentierte Mitarbeiter, denn vieles wäre durchaus «on the job» oder mit Weiterbildungen lernbar. «Oftmals geht es hierbei um Berufsstolz, der verhindert, dass Arbeitgeber über ihren Schatten springen», sagt Büsser überzeugt.

Knackpunkt Weiterbildung

Gerade bei der Weiterbildung hapert es in vielen Betrieben. Laut einer Erhebung der Page-Group sprechen bloss vier von zehn Führungskräften mit Kandidaten und ihren Mitarbeitenden über Fortbildungsmöglichkeiten. Sie warteten in der Regel erst einmal ab, bis Angestellte mit konkreten Weiterbildungsplänen auf sie zukämen. Führungskräfte müssten aktiver auf ihre Angestellten sowie auf potenzielle Kandidaten eingehen, sagt Büsser überzeugt. Sonst riskierten sie, dass diese zu attraktiveren Arbeitgebern abwanderten.

Um Arbeitskräfte anzuziehen, sind Unternehmen gefordert, ihre Rekrutierungspraxis umzustellen, eine starke Marke als Arbeitgeber aufzubauen und ihre Unternehmenskultur zu stärken. Doch vielen fällt dies schwer. Um Anreize zu setzen, ist die Universität St. Gallen (HSG) dazu übergegangen, engagierte Arbeitgeber mit dem Label «Career Empowerment» auszuzeichnen.

Die Auszeichnung ist für Firmen vorgesehen, «die in der Rekrutierung von Mitarbeitenden neue und innovative Wege gehen», heisst es bei der HSG. Konkret macht sich die Universität dafür stark, dass nicht mehr nur Kandidaten angestellt werden, die einen lückenlosen Lebenslauf mit verschiedenen Stationen in namhaften Firmen und Organisationen vorweisen können. Unternehmen sollen vermehrt auch Personen berücksichtigen, die eine nicht lineare Karriere verfolgen und Erwerbsunterbrüche aus familiären oder anderen Gründen aufweisen. Der Initiative haben sich bisher immerhin ein Dutzend Firmen angeschlossen – vom Familienunternehmen Bühler, der Bank Cler bis hin zu Novartis und der Zurich-Versicherung.

Keine grossen Lohnerhöhungen in Sicht

Auf die Löhne hat sich der Mangel an Arbeitskräften bisher kaum ausgewirkt. Für das laufende Jahr zeichnet sich aufgrund der hohen Teuerung für die meisten Arbeitnehmer gar ein Kaufkraftverlust ab. Mit dem Ukraine-Krieg und der deutlich gestiegenen Inflation haben sich sowohl die Konjunkturerwartungen als auch die Aussichten auf Lohnerhöhungen weiter verdüstert.

Ein gewisser Lohndruck lässt sich allerdings in Berufen wie IT-Fachkräften oder Ingenieuren, wo die Engpässe besonders ausgeprägt sind, ausmachen. Aber auch in der Gastronomie oder im Bauwesen sehen sich Unternehmen laut der Adecco-Gruppe teilweise gezwungen, höhere Saläre anzubieten. Lohnanpassungen erfolgen in der Regel langsam und mit zeitlicher Verzögerung. Längerfristig könnte durchaus ein gewisser Lohndruck entstehen, falls die Konjunkturerholung anhalten sollte.

Show oder Paradigmenwechsel?

Auch sogenannte Fringe-Benefits sind wichtiger geworden. Firmen kümmern sich vermehrt darum, dass sich Mitarbeiter wohlfühlen: mit Beiträgen für das Fitnesscenter, Halbtaxabo, sechs Wochen Ferien und der Möglichkeit von Sabbaticals. So wirbt beispielsweise die Firma Geberit mit medizinischer Massage im Haus, Fitnessmöglichkeiten im eigenen Sportklub oder auch der Unterstützung bei persönlichen Problemen sowie bei der Kinderbetreuung.

Der Softwareentwickler Liip lockt mit grosszügigen Familienzulagen, Fahrrad-Parkplätzen, frei wählbarer Hardware, Apéros, Office-Partys und einem transparenten Lohnsystem.

«Einige Firmen überbieten sich derzeit mit witzigen Stellenausschreibungen und coolen Arbeitsbedingungen, darunter die Vier-Tage-Woche, freie Ferienregelung oder demokratisch gewählte Führungskräfte», sagt Scheiwiller. Oftmals handle es sich hierbei allerdings mehr um Show als um einen Paradigmawechsel.

Deutsche Arbeitgeber bieten auch gute Arbeitsbedingungen

Dass Arbeitskräfte schwieriger zu finden sind, hängt nicht nur mit der demografischen Entwicklung und der konjunkturellen Erholung zusammen. Hinzu kommt, dass es Schweizer Firmen in den zurückliegenden Jahren relativ gut gelang, ihren Personalengpass mit ausländischen Arbeitskräften wettzumachen. Doch die Aussicht, Arbeitnehmer ausserhalb der Schweiz zu rekrutieren, hat sich verschlechtert. «Wenn wir früher einem ausländischen Kandidaten ein gutes Angebot unterbreitet haben, hat dieser es ziemlich sicher angenommen», sagt Büsser. Heute sei dies nicht mehr zwingend der Fall.

Deutsche, aber auch französische Arbeitgeber sind für Schweizer Arbeitgeber zu Konkurrenten geworden. Sie bieten ihren Mitarbeitern und potenziellen Arbeitnehmern gute Arbeitsbedingungen, so dass viele Interessierte im eigenen Land bleiben. «Für viele hiesige Firmen ist es nun ein kritischer Moment. Sie müssen umstellen», meint Büsser überzeugt.

Die Erwerbsbeteiligung in der Schweiz ist im internationalen Vergleich hoch. Doch obwohl viele Personen im Arbeitsmarkt eingebunden sind, ist das Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft: Die Mehrzahl der Frauen arbeitet hierzulande nur Teilzeit, viele von ihnen in Mini-Pensen. Aufgrund des strikten Pensionierungsalters von 65 bzw. 64 Jahren sowie der geläufigen Frühpensionierungs-Praxis in Grosskonzernen verlassen viele ältere Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt vorzeitig.

Laut dem Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz rund 372 000 Personen unterbeschäftigt – sie arbeiten in der Regel nicht Vollzeit und würden ihr Arbeitspensum gern erhöhen. Hinzu kommen rund 220 000 Erwerbslose. Zusammen entspricht das etwa 12 Prozent der Erwerbstätigen – ein Arbeitskräftepotenzial, das die Schweizer Volkswirtschaft besser nutzen sollte.

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